Freitag, 2. März 2018

"Empörung reicht nicht!" von Mehmet Daimagüler: Wäre es doch nur ein Roman

Mehmet Daimagüler hat in seinem Leben schon einiges auf die Beine gestellt. Als Kind türkischer Einwanderer, in Siegen geboren, arbeitete er für renommierte internationale Firmen und studierte unter anderem in Harvard. Er wurde Mitglied des FDP-Bundesvorstands, arbeitete für Gerhart Baum, Wolfgang Kubicki und Burkhard Hirsch (und verließ die Partei später wieder). Schon sein erstes Buch "Kein schönes Land in dieser Zeit" stieß 2011 wichtige Debatten an. 

Seine wichtigste Aufgabe allerdings hat er als Nebenklageanwalt im NSU-Prozess gefunden, wo er Angehörige der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar vertritt. Kurz vor Abschluss des Verfahrens hat Daimagüler nun ein Werk mit dem Titel "Empörung reicht nicht!" im Lübbe-Verlag vorgelegt, das auf seinem Plädoyer im Rahmen des Prozesses basiert. Ich dachte, ich hätte ein grobes Gefühl, um was es eigentlich in München geht, immerhin habe ich regelmäßig die Prozessberichterstattung verfolgt. Doch wenn man die Vorgänge - insbesondere die hinter den Kulissen - noch einmal in einer solchen Wucht vorgelegt bekommt, zweifelt man nicht nur an der eigenen Wahrnehmung, sondern auch an diesem Land. "Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran" ist nicht nur der Untertitel des Buches, sondern ein Aufruf, der zu Recht formuliert wird. Aber der Reihe nach.

Der NSU-Prozess läuft inzwischen seit 2013 und wird in den nächsten Monaten, nach fünf Jahren und unzähligen Verhandlungstagen, vermutlich seinen Abschluss finden. Man würde meinen, dass am Ende eines solchen Mammutverfahrens weitgehende Erkenntnis stehen sollte. Doch diese Erwartung wird nicht erfüllt werden. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Angeklagten, aber auch viele Zeugen, sich weitgehend in Schweigen hüllen. Wenn sie reden, dann in der Regel nur, um Nebelkerzen zu zünden. Andererseits, und das ist das Hauptthema von Daimagülers Buch, üben sich verschiedene Vertreter des deutschen Staates in der Blockade einer umfassenden Aufklärung. Von weitgehendem Desinteresse für die Zusammenhänge bis zu aktiver Beweismittelzerstörung und Desinformation ist alles vertreten. Als ob die Schande, dass man einer Mörderbande über dreizehn Jahre nicht auf die Schliche gekommen ist, nicht groß genug wäre, sorgen Bundesanwaltschaft, Verfassungsschutzämter und Polizei mit ihrem Verhalten auch heute noch dafür, dass Täter geschützt und Opfer verhöhnt werden. Der NSU-Komplex ist auch eine Chronik des Versagens deutscher Sicherheitsbehörden. Die Debatte darüber darf mit dem Richterspruch gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten nicht zum Ende kommen. Das fordert Daimagüler in seinem Buch, und ich mache mir diese Forderung nach dessen Lektüre vollständig zu eigen.

Viele Beschreibungen der Vorgänge lesen sich wie ein Polit-Krimi mit verschwörungstheoretischen Komponenten. Doch leider handelt es sich eben nicht um einen Roman, sondern um die zynische Realität. Was für ein Staat ist das, in dem die Polizei an unterschiedlichen Orten vollständig unabhängig voneinander beim Mord an unbescholtenen Bürgern nur in Richtung Ausländerkriminalität ermittelt, obwohl immer und immer wieder Zeugen auf zwei Radfahrer hingewiesen haben, die "eher wie Nazis" aussahen? In was für einem Staat leben wir, in dem die Frau nicht zu ihrem durch die NSU-Schüsse schwer verletzten, im Sterben liegenden Mannes gelassen wird und man ihr anstatt dessen mit erfundenen Geliebten versucht, Geständnisse abzupressen? Was sagt das über unser Land, wenn Beamte kein Zeichen der Reue in Richtung der Hinterbliebenen zeigen, obwohl ihre Fehler weitere Morde erst möglich gemacht haben? Warum werden diejenigen, die für den Prozess wichtige Akten geschreddert haben, nicht bestraft? Und warum werden immer noch V-Leute aus der rechten Szene mit Steuergeldern bestückt, so lange nicht klar ist, ob die Mordwaffe in neun von zehn Fällen nicht genau aus solchen Mitteln beschafft wurde?

Die Liste der Fragen, die Daimagüler aufwirft, ist deutlich länger, als hier abgebildet werden kann. Und leider werden die meisten offen bleiben. Zumindest dann, wenn man sich alleine auf die Bundesanwaltschaft und die Richter in München verlässt. Für mich als Bürger dieses Landes ist das allerdings keine akzeptable Option. Ganz einfach weil ich nicht das Gefühl habe, dass damit alles dafür getan ist, um solche Ereignisse in Zukunft zu vermeiden. Bei einigen Morden muss es Helfer vor Ort gegeben haben, deren Namen wir nicht kennen. Die Angehörigen der Opfer müssen mit dem Gedanken leben, diesen Menschen immer und immer wieder zu begegnen. Und wir alle müssen mit dem Gedanken leben, dass diese auch wieder tätig werden können, irgendwann in der nahen oder fernen Zukunft. 

Es kann jeden von uns treffen. Und deshalb ist auch unser aller Aufgabe, die Debatte nicht sterben zu lassen. Mehmet Daimagüler kämpft dafür an vorderster Front, im Namen der Angehörigen, und hat mit seinem Buch einen wichtigen, lesenswerten Beitrag geleistet. Mein bescheidener Anteil ist eine Reihe von Veranstaltungen mit ihm zu dem Thema. Diese finden unter dem Dach der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit statt, bisher mit folgenden fixen Terminen:
  • 6. März - Berlin
  • 9. März - Kassel 
  • 16. März - Hamburg
  • 10. April - Eisenach
  • 11. April - Zwickau
  • 12. April - Jena
  • 7. Mai - Bonn
  • 17. Mai - Köln
  • 11. Juni - Heilbronn
  • 6. September - Hannover
Ein Interview mit Mehmet Daimagüler und mir im Nachgang der Veranstaltung in München findet sich hier. 

3 Kommentare:

  1. Es ist sehr lobenswert, wenn jemand die Ergebnisse des Prozesses in München anzweifelt, denn er dient offensichtlich der Verschleierung der wirklichen Sachverhalte und der Beerdigung des Themas vor den Augen der Öffentlichkeit.
    Die Glaubwürdigkeit des Kritikers misst sich allerdings daran, dass er alle Lücken und Vertuschungen gleichermaßen ins Visier nimmt.
    So geht zum Beispiel nicht nur Wolfgang Schorlau von einem Doppelmord an Böhnhardt und Mundlos in Eisenach aus, sondern er lässt sich auch aus dem Vergleich von Zeitungsberichten folgern, die ihn letztlich vertuschen sollten:
    https://hintermbusch.files.wordpress.com/2016/12/ruc39findenaugenderredakteure.pdf
    Außerdem gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz Zweifel an der Herkunft der mutmaßlichen Tatwaffe, die im Prozess wie eine unumstößliche Tatsache behandelt wird, letztlich aber nur auf zweifelhaften BKA-Behauptungen beruht:
    https://www.srf.ch/news/schweiz/extremismus-experte-zweifelt-an-ermittlungen-in-nsu-mordserie
    Dann haben auch schon mehrere Beobachter des NSU-Komplexes, u.a. Clemens Binninger, darauf hingewiesen, dass an keinem der Tatorte wirkliche Spuren, auch keine DNA-Spuren, von Böhnhardt und Mundlos gefunden wurden, was sehr ungewöhnlich und rätselhaft sei.
    Ob das Buch von Daimagüler wirklich Aufklärung betreiben will, entscheidet sich auch daran, ob und wie er auch diese Punkte diskutiert.
    Können Sie das Buch auch unter diesem Gesichtspunkt empfehlen?

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    1. Eine ähnliche Einlassung gab es bei einer der Veranstaltungen. Dort wurde - in Bezug auf Schorlau - behauptet, dass in dem Wohnwagen der beiden keine Gehirnmasse an den Wänden zu finden gewesen wäre. Schorlau hat den Wohnwagen allerdings nie von innen gesehen, Daimagüler schon. Und er konnte ziemlich detailliert belegen, dass Schorlaus Behauptungen Quatsch waren. Vielleicht sollten wir Schorlau als das sehen, was er ist: Ein Romanautor. Dann relativiert sich Ihr Kommentar.

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    2. Nein, das relativiert nichts. Schorlau ist nur einer, der Beiträge zu der Sache geleistet hat. Er braucht den Wohnwagen auch nicht von innen zu sehen, denn es gibt Fotos von der Auffindesituation des Mundlos mit der Wand hinter ihm. Es gibt die Sache mit dem Auswurf der 3. Patrone, für die nur Scheinerklärungen geliefert wurden. Es gibt die Schweizer Zweifel an der Waffenherkunft: alle Verfahren gegen Schweizer in der Waffenlieferkette, die deutsche Behörden als bewiesen ansehen, wurden in der Schweiz zu den Akten gelegt:ungeklärt. Und es gibt natürlich die frühen Presseberichte aus Eisenach und die Lücken in den späten, die ich in dem verlinkten PDF gesammelt habe. Das ist alles nicht durch Aussagen vom Hörensagen widerlegbar.

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