Freitag, 23. März 2018

"Die Hauptstadt" von Robert Menasse: Von Menschen und Schweinen

Als ich Robert Menasses Werk "Die Hauptstadt" in die Hand nahm, erwartete ich einen Roman über die EU und ihre Institutionen. Was ich bekam war ein Buch, in dem ich Menschen kennenlernen, ihr Gedankenwirrwarr erleben und ihre Gefühle erspüren durfte. Das war ganz anders als erwartet, aber wahrscheinlich besser. Auch wenn ich ansonsten in den letzten Jahren die Buchpreisgewinner immer wieder kopfschüttelnd zur Seite gelegt habe: In diesem Fall bin ich ausnahmsweise ganz bei der Jury. Ich habe lange keinen Roman mehr gelesen, der mich mit seiner Detailflut nicht abgeschreckt, sondern begeistert hat und während dessen Lektüre ich sogar einige Male schallend lachen musste.

Man könnte nun an dieser Stelle versuchen, den roten Faden des Buches grob nachzuerzählen. Doch damit würde man den Fehler begehen, genau das in den Fokus zu rücken, was eigentlich am wenigsten relevant ist. Der einzige augenfällige Zusammenhang zwischen den Protagonisten ist, dass sie alle in der Nähe waren, als ein Mord begangen wurde und dass sie rund um diesen Mord ein durch die Straßen rennendes Schwein gesehen haben, das - wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf - immer noch von den Medien durch Brüssel getrieben wird, als der Mord längst vergessen ist. Man nennt das wohl eine treffende Parabel auf die Aufmerksamkeitsökonomie. Ob das Schwein am Ende gefunden und der Mord aufgeklärt wird? Das verrate ich an dieser Stelle nicht. Aber es ist auch vollkommen egal. Ich hatte während der Lektüre zwischenzeitlich sogar vergessen, dass am Anfang ein Mord stand - und nichts vermisst.

Für mich lebt das Buch im wesentlichen von zwei Dingen. Da ist zunächst die unheimlich kenntnisreiche Schilderung bürokratischer Absurditäten, wie sie nicht nur in Europas Hauptstadt und ihren Institutionen zu beobachten ist, sondern in jedem größeren Konzern, in jeder Gewerkschaft oder jeder Partei. Menasse nimmt ein Beispiel aus dem europäischen Kontext und zeigt damit auch auf, woran die derzeitige EU tatsächlich krankt. Er hätte sich aber auch einen beliebigen DAX-Konzern vornehmen können. Am Ende sind es die Menschen selbst, die sich Regeln geben, die ihnen dann wiederum das Leben schwer machen - selbst wenn sie am Anfang noch so gut gemeint waren.

Genau das - der Blick auf die Menschen - ist die zweite Sache, die "Die Hauptstadt" für mich so lesenswert macht. Nicht nur, weil entlang der Menschen und ihrer Schicksale erzählt wird, dass der europäische Einigungsprozess jenseits der grauen Bürokratie für viele von uns durchaus eine Verheißung, ein Türöffner, ein neuer Anfang war und ist - und auch in Zukunft sein kann (ich verstehe vor diese Hintergrund nicht die Kritiker, die Menasse vorwerfen, er hätte ein antieuropäisches Buch geschrieben; das Gegenteil ist der Fall). Vielmehr sind es die vielen kleinen Dinge, an vielen Stellen die Gedanken, oft nicht zu Ende formuliert und doch verständlich, die einem das Gefühl geben, sich wirklich in die Menschen, die der Autor beschreibt, hineinversetzen zu können. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mir das so gelungen schon irgendwo begegnet ist. 

"Er ermahnte sich zu weniger banalen Gedanken. Es war nicht so einfach", schreibt Menasse über einen seiner Protagonisten. Sollte der Autor sich selbst zwischenzeitlich ebenfalls zu weniger banalen Gedanken ermahnt haben und es nicht geschafft haben, man muss ihm für sein Versagen an dieser Stelle dankbar sein. Dass man in den Dialogen und tonlosen Selbstgesprächen auch noch einiges über die europäische Einigungsgeschichte und die nationalen Befindlichkeiten von Ungarn bis England und von Frankreich bis Griechenland lernt, ist ein Bonus, den man gerne mitnimmt. Am Ende von 459 Seiten steht für mich das Bedauern darüber, dass ich am Ende angekommen bin - und eine absolute Leseempfehlung.

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