Juli Zeh muss niemandem mehr etwas beweisen. Sie macht, was sie will. Der Verlag druckt, was sie macht. Und es wird ein Bestseller (meistens zumindest, für mein Lieblingsbuch "Treideln" galt das ausnahmsweise nicht). Einige Feuilletonisten scheinen zu glauben, dass diese Situation faul macht - und lesen Zehs aktuelles Werk "Leere Herzen" deshalb auch als platten Kommentar zur aktuellen politischen Situation, der ein bisschen zu moralisierend daherkommt. So kann man das Buch lesen. Allerdings nur, wenn man sich nicht anstrengt. Denn dann überliest man die vielen feinsinnigen Anspielungen, die vor allem eines zeigen: Die Realität ist die komplexeste Geschichte überhaupt. Und wenn man sie zu erzählen versucht, relativieren sich selbst die scheinbar banalsten Überzeugungen und im Ansichten, wenn man sich wagt, sie unter das Mikroskop zu legen.
Die Geschichte spielt in einer nahen Zukunft, in der die BBB, eine Partei, in der man die AfD zu erkennen meint, unter einer Kanzlerin namens Regula Freyer (ich habe einen Moment getüftelt, ob es sich vielleicht um ein Anagramm von "Frauke Petry" handelt; aber das wäre der Autorin dann vermutlich tatsächlich zu platt gewesen) so etwas wie eine autoritäre Diktatur einführt. Die funktioniert für einen Großteil der Menschen ganz gut: So lange man nicht auffällt, sich nicht außerhalb der Norm bewegt, geht das Leben seinen geordneten Gang. Alles ist einer brutalen Marktlogik unterwerfen, von der man immer hofft, dass sie vor allem die anderen trifft. Das gilt selbst für die Terroranschläge, die die Protagonistin Britta in stillschweigender Übereinkunft mit dem System organisiert. Doch plötzlich taucht eine konkurrierende Gruppe auf, die sich "Leere Herzen" nennt und alles durcheinander bringt.
Viele Dinge, die in "Leere Herzen" beschrieben werden, kommen einem bekannt vor, ohne dass man immer sofort weiß, wo man diesen schon zuvor begegnet ist. Bei längerem Nachdenken erkennt man dann Versatzstücke aus dem Linksterrorismus der RAF, an anderer Stelle sind es islamistische und rechtsextreme Terrorstrategien, die man zu erkennen glaubt. Terrorismus als Geschäftsmodell, der sich in einer digitalisierten Gesellschaft mit Instagram-Schönheiten und Netflix-Serien um die Aufmerksamkeit der Konsumenten balgt und dabei die Regeln der Konsumgesellschaft, die er zu bekämpfen vorgibt, in seinem Sinne ausnutzt - als ob es das nicht schon längst gäbe.
Dazu kommen allerlei Wortspielereien, die denjenigen belohnen, der sich intensiv mit Politik und Geschichte beschäftigt. "G. Flossen" als Person etwa kann nur eine Anspielung auf Pseudonyme aus der linken Szene sein, die vor einiger Zeit in einem taz-Artikel wunderbar persifliert wurden ("P. Flasterstein tritt von allen Ämtern zurück"), was allerdings die geifernden Anhänger von AfD und Co nicht daran gehindert hat, diese offensichtliche Satire als Beweis für ihre Verschwörungstheorien anzuführen. Das funktioniert nur in einer Gesellschaft, in der ein Großteil der Leute den Kopf ausschaltet und einfach nur in Ruhe gelassen werden will, während allerlei Wirrköpfe sich organisieren. Davor warnt Juli Zeh. Und das ist alles andere als platt oder moralisierend, sondern schlicht eine Notwendigkeit. Dass es in einer von der BBB dominierten Gesellschaft plötzlich subversiv ist, sich für eine Wiedereinsetzung der über 70-jährigen Angela Merkel zu engagieren, dass ihre Unterstützer aus dem Untergrund heraus agieren müssen, um die Demokratie wieder herzustellen, dass also der heutige lähmende Status quo plötzlich als Sehnsuchtsort taugt, das ist tatsächlich ein Schreckensszenario, vor dem wir uns selbst bewahren sollten.
Meine Lieblingstextstelle dazu will ich an dieser Stelle einfach unkommentiert anführen. Sie spricht für sich selbst.
"Sie malt sich aus, wie ein Sturm der Erneuerung durchs Land fegen wird, der nicht nur die BBB-Elite mit sich reißt, sondern auch deren Anhänger, jeden notorischen Nörgler, die seit Jahrzehnten mit ihrer Missgunst und Kleinkariertheit an den Fundamenten der Demokratie graben. Die das Internet in eine Schlammschleuder verwandelt haben, die nur glücklich sind, wenn sie auf andere herabschauen können. Die sich und ihre kindischen Bedürfnisse über alles stellen. Die lieber simplen Verschwörungstheorien glauben, als sich mit der komplizierten Wahrheit auseinanderzusetzen. Die ständig fordern, dass sich etwas ändern muss, und durchdrehen, wenn jemand Vorschläge macht. Deren Undankbarkeit nur von ihrer Egozentrik übertroffen wird, sodass sie in der Lage sind, noch im Zustand größtmöglicher Saturiertheit alle anderen zu beneiden. Deren größte Freude in anonymer Gehässigkeit liegt. Jener Bodensatz aus schlecht gelaunten Postdemokraten, die erfolgreich dabei sind, die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheitsgeschichte ihren persönlichen Minderwertigkeitskomplexen zu opfern. Zur Hölle mit ihnen."