Freitag, 3. Juni 2016

Qualitative Freiheit - Ein Freiheitsentwurf für eine globalisierte Welt

Vorweg: Ich kenne Claus Dierksmeier schon eine Weile und teile viele (aber nicht alle) seiner Überzeugungen. Vor allem auf einer Metaebene kann ich seine Ideen weitgehend unterschreiben. Nun legt er diese Gedanken in Form eines umfangreichen (knapp 500 Seiten) Grundsatzwerkes zur Freiheitstheorie vor: "Qualitative Freiheit - Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung". Warum sollte man das lesen? Und was habe ich aus der Lektüre mitgenommen?

Ich habe in der Vergangenheit viele Bücher und Artikel der bekannteren und weniger bekannten Freiheitsphilosophen der letzten Jahrhunderte gelesen. Kant war natürlich dabei, Hayek, Dahrendorf. Ein wenig Rawls, ein wenig Fichte. Und viel Adam Smith und Isaiah Berlin. Immer wieder kam ich an den Punkt, wo mir entweder der Anwendungsraum zu klein erschien – Kant etwa schloss aus seiner Freiheitstheorie zahlreiche Gruppen aus, wie es damals eben opportun erschien (Frauen, Juden, Menschen in fernen Ländern). Oder die Theorien führten in eine totalitäre Weltsicht – Fichte etwa meinte, die Menschen müssten zu ihrem Glück gezwungen werden. Oder aber die Theorien stellten sich als verkürzt und in der Realität wenig anwendbar heraus – so hatte Hayek offenbar kaum ein Verständnis dafür, dass es auch unverschuldete Lebenssituationen geben kann, in denen Freiheit nicht Chance, sondern Bedrohung ist. Kurz gesagt: Irgendwas fehlte immer, zumindest wenn man sich wie ich als Liberaler versteht, der kosmopolitisch allen Menschen auf der Welt das Recht auf Lebenschancen zugesteht. Ich musste mir also eine ganze Zeitlang Krücken basteln, indem ich Bruchstücke einzelner Philosophien mit eigenen Ideen mischte. 

Es war Claus Dierksmeier, der mir einen Philosophen vorstellte, von dem ich zuvor nicht gehört hatte: Karl Christian Friedrich Krause. Dieser dachte schon zu seiner Zeit, also zu Beginn des 19. Jahrhunderts, kosmopolitisch und über Generationen hinweg nachhaltig, konnte mit seinen Ideen in Deutschland aber bis heute niemals Fuß fassen, obwohl er sicherlich die progressivere Freiheitsphilosophie als der gute alte Kant entwickelt hat. Krause hat auf viele Menschen, die von seinen Ideen zum ersten Mal hören, eine starke Wirkung – weil man sich kaum vorstellen kann, dass jemand vor rund 200 Jahren schon so fortschrittlich denken konnte, während es heute vielen Zeitgenossen noch schwerfällt, auch nur über die eigene Sippe oder Nation hinauszudenken. Es ist Claus Dierksmeiers Verdienst, im Rahmen seines Buches „Qualitative Freiheit“ Krauses Gedanken zum ersten Mal in diesem Umfang und in verständlicher Sprache zu dokumentieren und in den Kontext der bekannten Freiheitsdenker einzuordnen. Alleine in diesem Teil des Buches habe ich schon eine Menge gelernt. 

Dierksmeier belässt es aber nicht dabei, sondern nimmt insbesondere Krause und Amartya Sen als Basis für den Versuch, eine Alternative zu der unzureichenden Einteilung in negative und positive Freiheitstheorien zu entwickeln. Er führt dafür ein neues Begriffspaar ein, nämlich „quantitative Freiheit“ und „qualitative Freiheit“. Seine Hypothese: Wer alleine auf eine Maximierung der quantitativen Freiheitsoptionen abzielt („Je mehr, desto besser“), wird der Natur des Menschen nicht gerecht. Sonst dürfte man niemals heiraten, beschneidet man sich doch (freiwillig) in der Zahl seiner Sexualpartner. Weil wir es aber doch tun, muss es irgendetwas geben, was uns die Zweisamkeit suchen lässt – und das ist nicht quantitativ messbar, sondern nur qualitativ fühlbar. Es gilt also in der Realität, entgegen allen ökonomischen Modellen: „Je besser, desto mehr.“

Wo Fichte nun geglaubt hätte, er und die seinen seien dafür bestimmt, den Menschen die „richtigen“ Optionen vorzugeben, geht Dierksmeier diesen Weg bewusst nicht. Er ist überzeugt: Freiheit, die durch Zwang befohlen wird, ist keine Freiheit mehr. Vielmehr müsse qualitative Freiheit auch mit freiheitlichen, partizipativen Instrumenten zwischen den Menschen ausgehandelt werden. Und da in einer globalisierten Welt auch Menschen weit weg von hier und Erdbewohner zukünftiger Generationen von unserem Tun betroffen sind, müssen auch deren Interessen mit auf den Verhandlungstisch.

Wie das in der realen Welt aussehen könnte? Das kann Dierksmeier natürlich nicht en detail für jede Frage unserer Zeit durchdeklinieren. Ich persönlich nehme aus dem Werk allerdings ein Gerüst mit, an dem entlang ich meine Positionen auf ihre Konsistenz prüfen kann. Bemerkenswert vor allem: Dierksmeier bevormundet nicht. Und das ist wichtig, denn: Wer die Freiheit wirklich liebt, sollte sich immer bewusst sein, dass auch er hin und wieder Gefahr läuft, deren Zumutungen (im Sinne von: Verantwortung) gegen die einfache (im Sinne von: gemütlichere) Lösung einzutauschen. Wer Freiheit nur für sich in Anspruch nimmt, sie anderen aber nicht im gleichen Maße zugestehen will, verrät die gesamte Idee. Das passiert derzeit sowieso schon viel zu häufig. Und daher kommt Claus Dierksmeiers Buch nicht nur zur richtigen Zeit, sondern wird hoffentlich auch seinen Teil zu einem neuen Debatte über die Freiheit, die wir wollen, beitragen.