Mittwoch, 16. September 2015

Peniche/Portugal - Wasser, Wellen, Wind und Wonne

Der eine oder andere wird es schon mitbekommen haben: Ich mag alles, was mit P anfängt: Politik, Pußball, Pommer... und eben Portugal, insbesondere Peniche, dessen Strände vom Lonely Planet als die zweitschönsten in Europa ausgezeichnet wurden. Ein Freund von mir hat dort vor Jahren ein wunderbares Hotel/Hostel eröffnet (das GeekCo, mehr Infos hier und hier, besondere Deals für Freunde auf Anfrage) und ich bin seitdem jedes Jahr mehrere Male dort. Lange schon wollte ich meine Tipps und Tricks für Peniche aufschreiben - und jetzt habe ich endlich die Zeit gefunden. Viel Spaß damit! Und bei Fragen/Ergänzungen freue ich mich auf eine Mail...

Früher Abend im Garten des GeekCo: Chillen, Bierchen
trinken, nette Menschen kennenlernen
What to do:

Peniche ist zunächst einmal ein Surfspot. Insofern dreht sich natürlich alles um Wassersport: Surfen, Schwimmen, Tauchen, Stand-up-Paddling. Mein Zugang zu diesen Themen erfolgt über das Hostel, aber die Partner, mit denen das GeekCo arbeitet sind tatsächlich gut (Pedro, der Surflehrer, hüpft jeden Tag im Garten rum; SupXscape waren die ersten Stand-up-Paddling-Anbieter in Portugal). Darüber hinaus bietet sich natürlich Fahrradfahren (Ebikes für die Faulen ;-)) an - und joggen am Strand (darauf achten, wann Ebbe ist). 

Kulturell gibt es in Peniche selbst relativ wenig zu tun. Aber das ist gar nicht negativ gemeint, weil das Städtchen an sich schon wunderschön ist. Das Fort ist einen Besuch wert. Besonders empfehlenswert ist ein Tagestrip nach Berlengas. Das ist ein Naturreservat eine Stunde mit dem Boot von Peniche. Am besten ist es, wenn man Schnorchelequipment mitnimmt. Im Umland gibt es noch Nazaré (im Winter die größten Wellen der Welt, ansonsten ein netter Küstenort mit einer riesigen Klippe in der Mitte) und Obidós (eine schöne Alststadt mit Burg und Kloster) in der Nähe. Vor allem letzteres ist interessant und nicht weit weg.

Auf jeden Fall Zeit nehmen sollte man sich für einen ausgedehnten Spaziergang auf den Klippen (wenn man in die Stadt hinein fährt rechts). Auch sollte man die verschiedenen Strände ausprobieren - zum Beispiel den "Insidertipp" Ferrel. Ich persönlich mag auch Supertubos/Molhe Leste gerne, da ist es in der Regel im Sommer sehr ruhig, auch was die Wellen angeht. Wenn es windig ist, ist das die bessere Wahl als der große Strand. Wer nachts mal im Baleal (Partymeile am anderen Ende der Bucht, siehe unten) unterwegs ist und Ebbe hat, wenn er heim will: zu Fuß am Strand entlang ist ei  Traum. Dauert etwa eine Stunde bis ins Bett.

P.S.: Heidi von meerdavon hat zu Peniche (und Lissabon) übrigens auch einen schönen Blogpost geschrieben.

Essen:

Es gibt natürlich wie immer für jeden Geldbeutel was. Direkt wenn man aus dem Hostel raus und nach links geht findet man an der Ecke das "Spazio". Das ist nix Besonderes, sondern eine klassisch portugiesische Bar, wo man Kleinigkeiten, Süßigkeiten und nen Kaffee bekommt. An Wochentagen kriegt man da mittags aber einen sehr ordentlichen Salat für rund 3,50 Euro und verschiedene Suppen für rund 1,50 Euro. Dazu solche Sachen wie "Tosta Mista" (Toast mit Käse und Schinken) oder Torrada (Toast mit Salzbutter).

Wenn man aus dem Hostel kommt um die Ecke gibt es den wahrscheinlich besten Döner (Duna Kebab) Portugals. Spezialität dort ist Lahmacun und die Knoblauchsoße macht süchtig.

Auch noch rund ums Hostel gibt es zwei Pizzerias (O Outro und Sr. Pizza). Die Pizzen sind ok, Nudeln eher nicht zu empfehlen. Außerdem findet man einen Sushi-Laden mit guter Qualität und einem günstigen All-you-can-eat-Angebot (sogar außer Haus). Mal ne Flasche Wasser oder ein Eis kann man auch in den vielen kleinen Bars kaufen - die Preise sind immer ok.


Der Blick vom Nau dos Corvos. Kann man lassen...
Ein bisschen netter essen kann man (für etwas mehr Geld) einmal in Peniche und dreimal im Baleal. In Peniche sollte man auf jeden Fall den Weg zum Nau dos Corvos auf sich nehmen. Dabei handelt es sich um ein Top-Restaurant (ohne dass es steif wirkt) oben auf der Klippe, dass vom Guide Michelin empfohlen wird und angibt, das westlichste Restaurant Europas zu sein. Auf jeden Fall aber sitzt es genau so, dass man den Sonnenuntergang durch die Panoramafenster bewundern kann, während man tolles Essen und gute Weine genießt. Das GeekCo hat eine Partnerschaft mit dem Laden, was einem gute Preise garantiert.

Eine meiner absoluten Lieblingsoptionen ist auch die Cantina de Ferrel; dort gibt es vermutlich mit das beste italienische Essen in Portugal, auf jeden Fall aber in einer der nettesten Atmosphären, was vor allem mit dem Personal zu tun hat. Auf jeden Fall reservieren, ist nämlich klein, aber sehr fein. Eher groß, dafür aber auch sehr lecker (und etwas teurer) ist das Restaurant in der Surfer's Lodge. Unbedingt den Couscous probieren - spektakulär! Reservierung nicht nötig in der Regel. Die dritte Option ist vom Essen her nicht so speziell, dafür aber von der Lage her toll und ein guter Start in eine Partynacht oder auch eine gute Idee für ein Mittagessen nach einem Strandspaziergang nach Baleal: 3House. Auch in den Läden nebendran findet man ordentliche Salate und Co, ist aber alles etwas teurer als in Peniche.

Ausgehen:

Im Ortsmittelpunkt von Peniche gibt es zwei, drei Läden nebeneinander, wo man einen Kaffee trinken oder ein Eis (leider sehr teuer) essen kann. Einfach am Dönerladen vorbei noch 200 Meter geradeaus. Geht man da noch 500 Meter weiter, man sieht den Hafen dann links, kommen ein paar Restaurants und zwei Bars (Java House und Tres As), wo man abends gemütlich was trinken kann. Auf jeden Fall lohnt sich danach ein Spaziergang zum Fort hoch - wenn man daran rechts vorbei geht, kommt man auf eine Aussichtsplattform, die nachts einen unglaublichen Blick liefert. Da ist es sehr ruhig - aber Vorsicht, unten sitzen Fischer ;-)

Wer richtig feiern will, muss nach Baleal. Dafür schließt man sich am besten einer Gruppe im Hostel an. Da werden vor allem am Mittwoch und am Wochenende schon einige losziehen. Geht allerdings erst gegen Mitternacht los, aber die Zeit vergisst man sowieso, wenn man mit den Füßen im Sand tanzt...

Dienstag, 15. September 2015

Gastbeitrag: Stefan George, der George-Kreis und die Parallelen zu heute

Robert E. Norton ist Associate Vice President for Academic Affairs and Research an der University of Notre Dame, Chicago. Er ist Germanist und Philosoph, hat in Deutschland an der FU Berlin und der Georg-August-Universität Göttingen studiert und später an der Karl-Ruprechts-Universität Heidelberg gelehrt und beschäftigt sich schon seit längerem wissenschaftlich mit Stefan George und und dem Geheimen Deutschland. Er ist außerdem Herausgeber von "The German Quarterly".

Ich habe Herrn Norton gefragt, ob ich diese Auszüge hier veröffentlichen darf, weil Stefan George und der Begriff des Geheimen Deutschland heute von der neuen Rechten genutzt werden, um ihren menschenfeindlichen Anliegen einen bürgerlichen Anstrich zu geben – worauf sogar etablierte Medien hereinfallen können. Nortons Warnungen decken sich mit den Beobachtungen, die in „Gefährliche Bürger“ dokumentiert sind.

[…] Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück: Wir reden von einem Mann, der mit leidenschaftlicher Inbrunst die moderne Massengesellschaft und ihre Werte hasste – nein, seien wir konkreter: der die Menschen hasste, die diese Gesellschaft bildeten, die »Bürger«, die das Wilhelminische Reich zu einem Wohlstand brachten, der in Deutschland bis vor kurzem nicht wieder erreicht werden sollte; von dem Dichter in Zeiten der Wirren (George 1928: 35–41), der die »Mär von blut und von lust / mär von glut und von glanz: / Unserer kaiser gepräng / unserer kämpfer gedröhn« glühend besang; von dem charismatischen »Meister«, der junge, idealistische, oft brillante »Jünger« um sich scharte, die ihre Geistesgaben und proselytischen Energien bedingungslos in den Dienst des Dichters stellten; und schließlich von dem machtbewussten Führer des Geheimen Deutschland, dessen offizielles Zeichen die rundarmige Swastika war: Dieser Mann steht wieder mitten unter uns.

[…] Die Bundesrepublik Deutschland hatte keinen Platz für einen Dichter, der in seiner Person und seinem Denken nachgerade das Gegenteil all ihrer politischen Grundsätze darstellte. George hielt die Demokratie bestenfalls für einen Selbstbetrug und eine Illusion, eigentlich aber für eine verwerfliche Verleugnung der von der Natur vorgegebenen Rangordnung aller Lebewesen. Die Emanzipation der Frauen fand er ebenso lächerlich wie die der Männer; Gleichheit war ein mathematischer Begriff, nichts weiter; und Freiheit: Nun, man kann sich denken, was ein Mann von der »Freiheit« hielt, der meinte, dass das Beste, was die allermeisten Menschen tun könnten, wäre, sich einem ihnen wesensgemäß überlegenen »Herrn« zu unterwerfen und ihm ergeben zu gehorchen. »Herrschaft und Dienst«, »Gefolgschaft und Jüngertum« – das waren die politischen Losungen Georges und seines »Kreises« […].

[…] Ein halbes Jahrhundert lang war es fast so, als hätte es George nie gegeben. Und jetzt? Wie sollen wir seine »plötzliche Wiederkehr« verstehen? Fand während der Metamorphose von der Bonner zur Berliner Republik auch eine innere, gleichsam tektonische Verschiebung in der Selbstauffassung der Deutschen statt? Wurden durch die Wiedervereinigung kulturpolitische Freiräume für eine Rückbesinnung auf Aspekte der deutschen Vergangenheit geschaffen, die sich vorher einem unbefangenen Zugriff verweigerten? Oder gibt es andere, bedenklichere Gründe, warum George auf einmal wieder in aller Munde ist? Bröckelt der alte linksliberale Konsens unter den Intellektuellen des Landes, für die es ausgemacht war, wie George einzuordnen ist? Gibt es vielleicht neue Kräfte, die es müde sind, sich immer und immer wieder für die deutsche Vergangenheit schämen zu müssen und die deutsche Kultur und Geschichte auf die zwölf Jahre der Schreckensherrschaft eingeschränkt zu sehen? Ist inzwischen eine jüngere, selbstbewusste, unapologetische Generation herangewachsen, die sich unerschrocken, ja trotzig nach geeigneten Vorfahren und Legitimationsfiguren umschaut und in George einen würdigen, weil auch angemessen provokanten Ahnherrn erblickt? Ist Georges Comeback also nur geschichtlicher Zufall oder ist es in unterschwelliger Weise aktuell?

[…] Es war vor allem der im Mai 2009 verstorbene Philosoph Manfred Riedel, der in den letzten Jahren seines Lebens mehrere Arbeiten vorgelegt hatte, in denen er seinen Mitbürgern unverhohlen und allen Ernstes empfahl, sich George und seine Ideale aufs Banner zu schreiben. Riedel plädierte ausdrücklich dafür, die von George vertretenen Konzepte »als Maß und Korrektiv für die Moderne« zu aktualisieren, wie er es in den bereits 1998 veröffentlichten Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung formulierte. Noch expliziter wurde Riedel in zwei späteren Büchern – Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg sowie in dem posthum erschienenen Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. In Letzterem gibt Riedel folgende Diagnose unserer Lage: »Die wachsende Verhässlichung der Umwelt durch die Technik, die Unterwerfung aller Dinge unter die Gesetze der Warenproduktion für einen Weltmarkt (was heute ›Globalisierung‹ heißt) und die damit verbundene Enteignung menschlichen Selbstseins lassen sich inzwischen in ihrer ganzen Tragweite erkennen an der Verflachung des Lebens, sichtbar an jedem Gerät, das der Mensch zu seiner Bequemlichkeit schuf, den Kleidern, die er anzog, den Häusern, die er bewohnte.« Das Heilmittel? Schon Hugo von Hofmannsthal, der von George heftigst Umworbene und auch nach gescheiterter Eroberung noch immer arg von ihm Bedrängte, hat es Riedel zufolge trotz seiner Liebesverweigerung unverrückbar gewusst: »Hofmannsthal hat nie aufgehört, George zu verehren […]. Er anerkannte, dass sich George fast allein der angebrochenen Kulturbarbarei mit Macht entgegenwarf und gegenüber dem vorherrschenden Individualismus die Würde geistigen Daseins wieder zu Ansehen und Geltung brachte.«

[…] Es war wiederum Adorno, der diesen anhaltenden Zug in Georges Schaffen und Persönlichkeit hellsichtig erkannte und dessen spätere Auswirkungen im realpolitischen Bereich unterstrich: »Wohl hat George, auf wechselnde Weise, den Gestus des Esoterischen praktiziert: erst den eines ästhetischen Anspruchs, der ausschloß, wer nicht, nach Georges Worten, fähig oder willens war, ein Dichtwerk als Gebilde zu begreifen; später den eines lose um seine Figur gruppierten, angeblich ein geheimes Deutschland verkörpernden, kulturell-politischen Erneuerungsbundes. Trotzdem hat er quantitativ erheblichen Gruppen des reaktionären deutschen Bürgertums vor Hitler aus der Seele gesprochen. Gerade der esoterische Ton, jenes narzißtisch sich abdichtende Wesen, das nach Freuds Theorie den politischen Führerfiguren ihre massenpsychologische Wirkung verleiht, trug dazu bei.«

[…] Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Die Behauptung, George habe mit der Politik nichts am Hut gehabt, entspricht einfach nicht den bekannten Tatsachen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg spielten explizit politische Erwägungen eine maßgebliche Rolle im George-Kreis und bei George selber. […]George schwebte ein Staatsmodell vor, das dem, das 1933 verwirklicht wurde, mehr entsprach als irgendeine andere politische Form in Deutschland davor. Michael Landmann, der den Dichter persönlich kannte und in dem Schicksalsjahr zwanzig wurde, berichtete: George »verurteilte die Ausschreitungen, war abgestossen vom plebejisch Massenhaften der Bewegung, aber begrüsste doch die Veränderung als solche«. Im September 1933 äußerte er gegenüber Edith Landmann, der Mutter Michaels und der treuen Chronistin des Dichters, »es sei doch immerhin das erste Mal, dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen wiederklängen«.

[…] Einer, der Georges Zugehörigkeit zu bestimmten gegenwärtigen Strömungen bereits zu dessen Lebzei­ten sehr wohl wahrnahm, war der österreichische Germanist und Literaturhistoriker Oskar Benda. In seiner erstmals 1931 erschienenen Schrift Die Bildung des dritten Rei­ches, die als eine der ersten anti-nationalsozialistischen Kampfschriften überhaupt gilt, verortete Benda die ursprünglichen geistigen und ideologischen Vorprägungen des »Dritten Reiches« in dem so genannten »Dritten Humanismus«, der aus der angebli­chen »Wiedergeburt der humanistischen Bildungsidee« her­vorgegangen sei und deren maßgeblichste und einflussreichste Vertreter er in George und seinem Kreis sah. […] „Der Kreis um George hat zum ersten Mal in Europa den Gedanken der modernen Diktatur ›vergottet‹ und ›verleibt‹. Die ganze Ideologie des italienischen Faschismus klingt wie ein Echo der Stimmen aus dem heiligen Hain Georges; alle ihre Leitgedanken: die heldische ›Elite‹, die ›Hierarchie‹ und der ›korporative Rechtsstaat‹, sind hier vorgestaltet, und vorgestaltet ist hier zuvörderst auch die heldische Vision des Diktators, dessen geschichtliche Erscheinungsformen George unermüdlich besingt […].“

[…] Aber die politische Sprengkraft Georges, auch wenn sie von vielen seiner heutigen Interessenten nicht bemerkt oder herabgemindert wird, verjährt nicht und darf daher nicht ignoriert werden. Zu einer Zeit, in der ein Thilo Sarrazin (2010) totgeglaubte Borniertheiten über Rasse und die genetische Vererbung von kulturellen Werten millionenfach verkaufen kann – auch das hätte man vor einem Jahr nicht für möglich gehalten –, sollte man nicht glauben, dass man gegen die Skurrilitäten der finstersten Vergangenheit ohne weiteres gefeit sei. Ebenso sollte man keine Nachsicht zeigen gegenüber der kalkulierten oder auch nur gleichgültigen Verharmlosung einer der politisch geschicktesten und ambitioniertesten Figuren in Deutschland vor 1933. Nicht die Gefahr, dass eine ungewappnete Leserschaft von Georges Geist unwissentlich verführt werden könnte, ist zu befürchten, sondern vielmehr eine schleichende Akzeptanz seiner kleingeredeten oder gar verschwiegenen Radikalismen, die sich allmählich – wirksam beglaubigt durch hohe Auflagenzahlen und Literaturpreise – in deren institutionelle Verklärung verwandeln könnte, die der politischen Plausibilität seiner Anschauungen nur zugute kommen würde.

[…] Die neuen Bewunderer Georges spielen entweder arglos oder zynisch mit einer Flamme, um deren zerstörerische Wucht George selbst wohl wusste. Eins ist jeden­falls sicher: Nach langer Verbannung in der Wüstenei ist Stefan George in unseren Tagen zurückgekehrt. Ob er verweilt oder bald wieder geht, ist noch ungewiss, aber seine Gestalt steht vor der Tür. Doch gehört es zur praktischen Vorsicht, dass man vor Einlass in Erfahrung bringt, wen man zu sich ins Haus holt. Es könnte nämlich ein Brandstifter sein.



Der Text ist eine gekürzte Version eines Textes, der zunächst in „WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung“ unter dem Titel „Wozu George?“ erschienen ist. Detaillierte Quellenangaben wurden an dieser Stelle entfernt, sind aber im Original zu finden.

Dienstag, 8. September 2015

Zuschriften von Rechten - dekonstruiert

Ich bekomme in den letzten Wochen wieder vermehrt "Fanpost", der Grund dafür ist die Veröffentlichung von "Gefährliche Bürger" und die damit einhergehende Berichterstattung. Bisher sind die typischen (Mord-)Drohungen ausgeblieben, die ich aus der Vergangenheit kenne. Vermutlich sind die normalen Absender gerade damit beschäftigt, Flüchtlinge zu bedrohen. Zahlreich sind allerdings die Zuschriften "bürgerlicher" Absender, in der Form auf den ersten Blick gerne anständig, bei näherer Betrachtung aber irgendwo zwischen primitiv und dümmlich, verlogen und absurd. Ich habe mir nachfolgend einen typischen Fall herausgegriffen, anonymisiert und kommentiert. In Zukunft mehr davon...
verehrter herr giesa!
Die Erfahrung sagt: Je höflicher die Anrede, desto schlimmer danach die Beleidigungen... wir dürfen also gespannt sein.
wie die meisten ja-sager und vertreter des gutmenschentums, vertreten sie eine meinung,die mit nichts,aber auch mit gar nichts in den sanften strahl wahrhaftiger zusammenhänge zu rücken ist.
der sich aufschwingende widerstand,sie nennen ihn rechtsradikalismus,ist kein produkt einer sich aufschwingenden rechten bewegung,sondern einer von oben angeordneten volksverdummung und ignoranz,deren grundlagen und ziele eines,sich als intellektueller wähnenden mannes,der sie ja sein wollen,einleuchten müsste und der dann nicht solche halbwahrheiten verbreiten müsste.
Gleich im ersten Satz zwei Vokabeln des klassischen rechten Deppentums. Dicht gefolgt von der klaren Ansage, der Leserbriefschreiber sei im Besitz der absoluten Wahrheit. Die Kombination macht es dem Empfänger einfach, den Brief auch ohne weitere Lektüre in die Ablage P zu packen. Die Wahrscheinlichkeit nämlich, dass danach noch irgendetwas kommt, was auch nur im Ansatz intelligent zu nennen ist, liegt bei aufgerundeten null Prozent.

Der Kampf des Leserbriefschreibers gegen die deutsche Rechtschreibung und Zeichensetzung wird in diesem Falle von besonders schwülstiger Wortwahl zu verdecken versucht. Oder verstehe ich etwas falsch und der Absender ist auch in dieser Frage im Besitz der absoluten Wahrheit und ich habe es nur wieder nicht verstanden? Das Thema soll am Ende des Textes noch einmal aufgegriffen werden. Aus Gründen.
was haben sie wo gelernt,lieber herr giesa,dass ihnen das bewusstsein für die wahren zusammenhänge fehlt,nämlich dem gewollten chaos,dass die regierenden nicht nur tolerieren,sondern forcieren,um vom eigenen lobbyismus abzulenken?
wissen sie es nicht oder gehören sie zu den nutznießern?noch nichts gehört vom großkapital und dem kampf der reichen gegen die armen,den die reichen zu gewinnen gedenken?
In der Regel ist spätestens an dieser Stelle ein beliebiges antisemitisches Stereotyp einzusetzen. Der Verweis auf das "Ostküstenkapital" zum Beispiel. War der Autor nachlässig? Oder sollte es sich ausnahmsweise tatsächlich nicht um einen Antisemiten handeln? Wir werden es wohl nie erfahren... 
immer ist mir ein gast willkommen und jedes ressantiment gegen jedwelche völkische zugehörigkeit liegt mir fern,wenn ich weiß,dass der zu bewirtende mein haus wieder verlässt und ich mich auf den nächsten besuch freuen kann.
Ausländer sind gut, wenn sie Touristen sind. Wird gerne in Zusammenhang mit "Ich bin kein Nazi, aber..." und "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber..." genutzt. Übrigens unter dem Begriff "Ethnopluralismus" ein klassisches Motiv der neuen Rechten. Und dass mir der Herr anlässlich eines Beitrags bei ttt - titel thesen temperamente schreibt, in dem ich genau vor diesem Konzept auch namentlich warne, ist schon bemerkenswert. Was denkt dieser Mensch eigentlich, was er bei mir erreichen kann? 
nur wer einfach kommt,rechtsstaatliche gesetzlichkeiten übergeht,um hier zu landen,in der sahnekammer-das gebe ich zu-rücksichtslos in anspruch nimmt,was man ihm gar nicht vorwerfen kann,wird er doch von ganz oben,wegen der genannten gründe hergejubelt-den kann ich nicht willkommen heißen.
Viel Text für ein Wort: Asylbetrüger. Welche rechtsstaalichen Gesetzlichkeiten Menschen übergehen, die sich hier um Asyl bemühen, selbst wenn sie danach abgelehnt werden? Keine Ahnung. Aber da versteht eben nur, wer aus dem Brunnen der Wahrheit getrunken hat. Und der steht gerade vermutlich irgendwo in Heidenau und ist nur Pack zugänglich.
80% des geldes liegt in den händen von weniger als zehn prozent der bevölkerung!!!und die werden nichts von sich abgeben,sondern das wenige verwässern,um den schlamassel aufrecht zu halten.
und wenn ich immer von angst der leute höre,die nur deshalb die asylanten ablehnen,weil sie,die armen und blöden zu wenig wissen,kommt mir das kotzen!
Typische Argumentation, wo sich neurechtes und altrechtes Ressentiment trifft. Ein bisschen Kapitalismuskritik, ein bisschen Verschwörungstheorie, ein bisschen Untergangsszenarien, ein bisschen gegen die da oben. Lässt man das laufen, steht am Ende die Dekonstruktion des westlichen Gesellschaftsmodells - und genau das ist das Ziel der rechten Hetzer
ich habe keine angst.
Da ist wenigstens mal jemand ungewollt ehrlich, denn sonst inszeniert man sich ja als "besorgter Bürger", fordert, dass die eigenen Ängste und Sorgen ernst genommen werden sollen und richtet sich so ganz wunderbar in einer Opferrolle ein, aus der heraus man vermeintlich legitim um sich schlagen darf.
ich will nur keine leute meine nachbarn nennen,die im geiste im mittelalter leben und die die mächtigen nur deshalb hier etablieren,damit sich das volk nie mehr zu einer homogenen masse vereinigt,die etwas ändern könnte.
Ethnopluralismus, siehe oben. Dazu "das Volk", gerne auch im ganzen Satz als "Wir sind das Volk" oder "Nur wir sind das Volk" gemeinsam gebrüllt. Hört sich harmlos an, ist aber brutaler Rassismus. Und der Absender des Briefes damit auch offiziell ein widerlicher Wicht. 
hören sie auf sich selbst und irgendjemanden etwas vorzumachen,denn so blöd wie sie glauben sind wir nicht!!!
Wichtig: mindestens drei Fragezeichen. Es fehlt: Wahlloses Groß- und Kleinschreiben von Wörtern. Und doch, so blöd seid Ihr. Und noch viel, viel mehr. Das ist tatsächlich die Wahrheit.
ein sprichwort der beduinen:komm zu besuch!du bist am ersten tag willkommen.du bist am zweiten tag willkommen, aber am dritten musst du gehen.
Hat die Islamisierung des Abendlands nun sogar die Gehirne der rechten Primitivbürger erreicht? Hätte es da nicht auch ein Zitat von Goethe, Schiller oder Heino gegeben? Oder liest der betont bürgerlich auftretende Briefeschreiber nur Kalendersprüche aus dem Sortiment des Kopp-Verlags?
das gutmenschentum wir deshalb zelebriert,damit man vorn als samariter dastehen kann,währenddessen man hinten die länder und völker ausbeutet.das,lieber herr giesa ist die ursache des schlamassels und es ist enttäuschend,dass sie das nicht erkennen(wollen?)
Schwacher Schluss. Habe ich schon besser gesehen.
mit freundlichen grüßen
XXX
dichter
Bitte was... Dichter??? Jetzt verstehe ich zumindest endlich, wen Pegida, AfD und Co meinen, wenn sie vorgeben, das Land der Dichter und Denker zu verteidigen. Es ist in einer offenen Gesellschaft wie der unseren durchaus erlaubt, sich auch eine komplett absurde Berufsbezeichnung zuzulegen. Der Herr lässt auf seiner Webseite übrigens wissen, dass er noch zwei weiteren Berufungen nachgeht... er ist nämlich nach eigenen Angaben Bestatter und Philosoph. 

Freitag, 4. September 2015

Gastbeitrag: Einheit unter der Lupe – Einblicke von außen

Markas Adeikis promoviert im Bereich Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Seit 2014 engagiert er sich für die liberale Friedrich-Naumann-Stiftung. Ich konnte seinem Text spannende neue Aspekte entnehmen, weswegen ich diesen hier sehr gerne als Gastbeitrag veröffentliche.

Etwas geht schief in Ostdeutschland. Damit meine ich nicht die Tatsache, dass die Ostdeutschen weniger Autos besitzen oder dass sie weniger verdienen. Nicht mal der Fakt erschreckt mich, dass der Fußball – der deutsche Volkssport – hauptsächlich von westdeutschen Spitzenclubs präsentiert wird. Vielmehr beunruhigen mich die besonders niedrigen Werte der Demokratiezufriedenheit. Gerade auf die Demokratiestärke konnte die Bundesrepublik so lange stolz sein.

Vielleicht zeigt sich jetzt der typische mittelosteuropäische Kulturpessimismus, der für mich als gebürtigen Litauer auch in Ostdeutschland, das ja jahrzehntelang unter einem ähnlichen System litt, nicht unerwartet käme. Vielleicht kann man bei der Ost-West-Angleichung im vereinten Deutschland kein schnelleres Tempo erwarten. Manchmal wird den Ausländern der Deutungsanspruch über die deutsche Einheit abgesprochen, manchmal sind ihre Einblicke unentbehrlich, um der Eigenblindheit der Einheimischen vorzubeugen. Für einen Außenstehenden wie mich, der beide Landesteile nach der 25-jährigen Einheitsphase beobachtet, sind die Differenzen aber immer noch zu groß.

Meistens denken die Deutschen beider Landesteile gar nicht so unterschiedlich: Die Stimmungsschwankungen zu demokratischen Werten laufen im Osten oft parallel zu denen im Westen. In Werner Patzelts Studie zur Demokratiewahrnehmung in der Bundesrepublik erweist sich, dass die Demokratiezufriedenheit seit der Jahrtausendwende in ganz Deutschland sinkt, nur sind die Werte im Osten eben beträchtlich niedriger als im Westen. Und der Abstand scheint betrüblicherweise nicht zu schrumpfen. Im Jahr 2005 hielten sogar 41 Prozent ostdeutscher Bürger laut der besagten Studie die von der Demokratie abweichenden Herrschaftsformen für akzeptabel und sogar besser. Warum ist es so?

Erstens sollte die Herstellung der Einheit Deutschlands nicht als reine Selbstverständlichkeit angesehen werden. Ein paar diplomatische Ungereimtheiten bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und andere Umstände in Europas Geopolitik hätten ausgereicht und beide deutschen Staaten hätten weiter als separate Subjekte bestanden. So müssen manche Völker wie die Zyprioten oder die Koreaner immer noch vergebens auf einen gemeinsamen Staat hoffen. Andere Ethnien wie die Kurden können nicht mal von einem selbstständigen Staat träumen. Deswegen sollte die Deutsche Einheit als ein gelungener Glücksfall betrachtet werden, der geholfen hat, das ganze Volk zusammenzubringen.

Die deutsche Wiedervereinigung erfolgte keineswegs als Akt zwischen Partnern auf Augenhöhe. Die DDR wurde aufgelöst und in die bereits bestehende Bundesrepublik in Form neuer Bundesländer eingegliedert. Für Ostdeutschland war die Wiedervereinigung so wichtig wie für andere mittelosteuropäische Staaten die Westöffnung. Die ehemalige DDR bekam sogar einen einzigartigen Entwicklungsvorsprung, denn kein anderes mittelosteuropäisches Land hatte die Möglichkeit, sich mit einem westeuropäischen Staat zu vereinen.

Leider konnten die neuen Bundesländer diesen Vorsprung bis jetzt kaum nutzen. Sie haben mehrere Reformen zwar umgesetzt, die Ost-West-Angleichung aber nicht vollbracht. In vielen Wirtschaftsbranchen, insbesondere in der Industrie ist und bleibt Ostdeutschland eine Dependenzökonomie. Nach der Wirtschaftskrise 2008 kam es sogar zu paradoxen Fällen, dass die ostdeutschen Arbeitskräfte oft im benachbarten Polen Jobs angenommen haben, weil das Land bessere Arbeitsbedingungen bot als die neuen Bundesländer selbst.

Die lange Zeitspanne der postsozialistischen Entwicklung – 25 Jahre – wird von der vorherigen, noch längeren, Kommunismusphase neutralisiert. Man kann kaum erwarten, dass man innerhalb von 25 Jahren das aufbaut, was mehr als 40 Jahre lang systematisch zerstört wurde. Als Zerstörung gilt auch die Errichtung eines ineffizienten, wettbewerbsunfähigen DDR-Systems, das die Nachwendereformen erschwerte und die so genannte Transformationskrise einleitete. Auf freiwilliger Basis existierte keine nennenswerte Verbändekultur und die Toleranz gegenüber Fremden wurde nie verankert.

Westdeutschland bleibt in diesem Fall auch nicht ohne Schuld: Die BRD-Politiker hätten im Osten rational durchgreifen müssen: Die Entkommunisierung der DDR hätte genauso besonnen umgesetzt werden müssen wie die Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Statt die DDR-Eliten ins Abseits zu drängen, hätte man mit den reformbereiten Funktionären kooperieren und sie mit mehr politischer und administrativer Verantwortung beauftragen müssen – unter der Voraussetzung, dass sie bedingungslos den neuen demokratischen und marktwirtschaftlichen Kurs des vereinten Deutschlands verfolgen. Die kurzsichtige Entmachtung der DDR-Eliten führte letztendlich dazu, dass wir heute außer Bundeskanzlerin Merkel keine nennenswerten ostdeutschen Spitzenpolitiker auf der Bundesebene haben.

Alle diese Probleme rütteln auch an den demokratischen Werten in Ostdeutschland. Man muss bitter feststellen, dass die Kernelemente der deutschen Demokratie – soziale Inklusion, starke Partizipationskultur, Toleranz gegenüber den Fremden, ein starker Rechtsstaat – hauptsächlich in Westdeutschland gelebt werden. Diese Ost-West-Divergenz existiert sowohl politisch als auch kulturell.

Auf politischer Ebene genießen links- und rechtsradikale Parteien (die Linke, die NPD, die AfD) in den neuen Bundesländern eine immense Popularität und selbst die moderaten Parteien schmettern dort häufiger populistische Parolen als im Westen. Laut dem Wahlforscher Anthony Downs häufen sich in polarisierten Gesellschaften die Wählerpräferenzen für extreme Parteien. Würde man Downs glauben, sollten die meisten Landtagswahlergebnisse im Osten von einer höchst zerstrittenen und gespaltenen Gesellschaft zeugen. Ostdeutschland bleibt ein experimentelles Laboratorium, in dem das links- und rechtsradikale Gedankengut mit politischer Apathie kombiniert wird. Die niedrige Wahlbeteiligung und die unterentwickelte Verbändekultur verstärken den Eindruck, dass sich Ostdeutschland mit dem neuen Staatssystem nicht abgefunden hat. 

Der Angleichungsprozess konnte auch kulturell nicht erzielt werden. Als die größten Globalisierungsverlierer haben die Ostdeutschen jede Multikulti-Erscheinung sowie die Einwanderung von Arbeitsmigranten oder Flüchtlingen mit Skepsis und Ablehnung empfangen. Die Angst vor Fremden und Unbekannten hat sich etabliert. Trotz des geringen Ausländeranteils in den neuen Bundesländern fühlt man sich dort am meisten von Ausländern bedroht. Die Fakten zeigen jedoch, dass eher Ausländer von Einheimischen bedroht werden: Gerade der Anteil der Angriffe auf Ausländer ist in Ostdeutschland beträchtlich. Im Jahr 2014 ist knapp die Hälfte von insgesamt 130 rassistischen Gewalttaten im bevölkerungsärmeren Osten registriert worden. Laut einer Aufstellung des Innenministeriums ist das ein Anstieg von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nicht nur andere Nationen, sondern auch andere Religionen werden abgelehnt: Ausgerechnet im eher konfessionslosen Osten kämpft man gegen die Islamisierung der Kultur, was man eher in radikal christlichen Gemeinschaften erwarten könnte. 

Ich hatte die Möglichkeit, in sozialen Online-Netzwerken mit einigen PEGIDA-Anhängern persönlich zu diskutieren und bekam den ernüchternden Eindruck, dass diese Bewegung in erster Linie nicht durch wirtschaftliche Ängste oder Armut getrieben wird. Die meisten Angesprochenen, die eher zum wohlhabenden, aber reaktionären, Mittelstand gehörten, punkteten mit dem Totschlagargument, sie wollen mit fremden Kulturen nichts zu tun haben, denn diese gehören von vornherein nicht zu Deutschland. Diese Denkweise dämpft jede Kompromissbereitschaft und jedes Verständnis für PEGIDA.

Neben der düsteren Wirklichkeit wirkt auch die polarisiende Darstellung dieser Realität eher destruktiv auf den Ost-West-Dialog. Die hauptsächlich negative Berichterstattung über die sozialen Konflikte in Ostdeutschland kreiert das gängige Klischee eines „rückständigen Ossi“ und schüren somit unnötig die Selbstverzweiflung sowie eine Trotzreaktion gegen die „Besserwisser aus dem Westen“.

Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, muss der Bund mehr Verantwortung übernehmen. Staatsinterventionistische Lösungsvorschläge mögen denjenigen verschrecken, der an die Macht der Selbstheilung glaubt. So ganz ohne Hilfe des Staates kann das System aber nicht modernisiert und demokratisiert werden, das mithilfe eines übermächtigen Staates verzerrt und missbraucht wurde. Gemeint wird nicht nur die Reformierung der Wirtschaft. Auch im Kulturellen und Sozialen bedarf der Osten dringender Anreize: Der Bund sollte in den neuen Bundesländern eine Bildungsoffensive starten, die in erster Linie konsensdemokratische Werte verankert. Gerade das gemeinsame Demokratieverständnis sollte die wichtigste Bindung beider Deutschland werden. Lange galt nur die deutsche Sprache als der gemeinsame Nenner des Volkes, vielleicht noch die gemeinsame Geschichte vor dem Zweiten Weltkrieg. Diese Werte sind aber nicht hinreichend, um den Meinungspluralismus, den Rechtsstaat und die Freiheit des Individuums zu schützen. Und gerade diese Werte sind die Schlüsselbegriffe von heute. Vor allem darf man nicht zulassen, dass die autoritäre, isolationistische, antiglobale und gelegentlich auch nationalistische Denkweise in Ostdeutschland verankert wird und so zum Inbegriff der neuen Bundesländern wird.

Außerdem ist eine Ansteckung durch das Ost-Syndrom auch in Westdeutschland keineswegs ausgeschlossen. Xenophobe Kundgebungen und rassistische Anschläge in den neuen Bundesländern werden oft auch von westdeutschen Politikern für falsche Schlussfolgerungen aufgegriffen. Weltweit macht das keinen guten Eindruck. In den ausländischen Medien wurden die ausufernden PEGIDA-Aktionen meistens als ein Problem von Gesamtdeutschland betrachtet und nicht nur von einzelnen Bundesländern.

2010 wurde der Begriff „alternativlos“ als Unwort des Jahres gekürt. Und trotzdem sollte man auf dieses Wort zurückgreifen, wenn es um ein positives Demokratieverständnis in ganz Deutschland geht. Die Alternativlosigkeit der Demokratie muss sowohl des Ossis als auch den Wessis eingebläut werden, nur so ist die Angleichung beider deutscher Teile möglich. 

Ein tief verankertes Demokratieverständnis umfasst auch gleiche Chancen und gleiche Verantwortung für jeden. Deswegen sollten die genehmigten Flüchtlinge in alten und in neuen Bundesländern gleich verteilt werden. Im Rahmen einer effizienten Arbeitspolitik sollten die Zuwanderer im Westen wie im Osten eine arbeitsmarktorientierte Verwendung finden. Es ist nicht normal, dass die Zuwanderer im Osten oft bessere Bildungsabschlüsse als Einheimische haben und sich auf dem Arbeitsmarkt trotzdem nicht behaupten können. Wenn Ostdeutsche häufiger Ausländer hautnah erleben, sollten so auch langsam die negativen Vorurteile gegenüber den Einwanderern abgebaut werden. Positive Erfahrungen in migrantenreichen Gegenden haben die Tauglichkeit dieser Strategie schon oft bewiesen.

Die demokratischen Parteien sollten Strategien entwickeln, wie unterschiedliche Gesellschaftsschichten in den neuen Bundesländern ausgesöhnt werden sollten. Die Wähler, die die Nachfolgeparteien der sozialistischen SED präferieren, und diejenigen, die sich für die Parteien am rechten Rand entscheiden, haben meistens erstaunlich ähnliche soziale Probleme. Die Vertreter der politischen Mitte werden das Vertrauen der Ostdeutschen erst dann wieder zurückgewinnen, wenn tatsächlich auch wieder deren Basis angesprochen wird. Nicht mit den populistischen Parteien bei den Koalitionsverhandlungen sollte man sich zusammensetzen, sondern mit den apolitisch gewordenen Bürgern. Gerade diese Bürger bergen das Potenzial, Verbändestrukturen in Form von Gewerkschaften, Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen im Osten aufzubauen. Erst wenn sich die Ostdeutschen mehr mit dem bundesweiten und globalen Politikgeschehen beschäftigen, kann das Vertrauen in demokratische Institutionen neu gewonnen werden.

Manchmal braucht eine erfolgreiche Angleichung nicht nur konkrete inhaltliche Handlungen, sondern auch eine optimistische Propaganda. Eine konstruktive Kritik ist zwar immer unentbehrlich und rüttelt einen wach, aber der allgemeine Negativismus in den Medien erschwert jeden Dialogsversuch. Die Ostdeutschen müssen ihre Würde zurückgewinnen. In der Vergangenheit haben sie versucht, sich nicht die Standards der realsozialistischen Nachbarstaaten anzumaßen, sondern das Lebensniveau der Bürger Westdeutschlands. Den Menschen in den neuen Bundesländern muss vermittelt werden, dass sie im Vergleich zu anderen postkommunistischen Ländern beachtliche Erfolge erzielt haben. Im Gegenzug müssen Deutsche beider Landesteile auch verstehen, dass für die Angleichung die wertorientierten Kompromisse nötig sind. Während sich die Wessis mit den gleichheitsorientierten sozialstaatlichen Reformen anfreunden sollten, müssten sich die Ossis schrittweise, aber eindeutig, zu mehr Freiheit und Eigenverantwortung bekennen. Ohne eine entsprechende Bildungsinitiative seitens des Bundes wird diese Aufgabe aber schwer zu lösen.

25 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte jeder Deutsche einsehen, dass die Einheit kein Projekt der Eliten, kein Sieg der Kapitalisten, sondern die erfreuliche Errungenschaft von jedem Deutschen ist. Diese Einheit ist mit der Weltoffenheit, der Toleranz und den Menschenrechten vereinbar und in jedem Bundesland als Hilfsmittel zum besseren Leben wahrnehmbar. Dass Ostdeutschland noch eine längere Zeit anders als der westliche Landesteil bleibt, ist ersichtlich. Darüber sollte man sich aber nicht aufregen – selbst ein Außenstehender wird das verstehen. Im Mittelpunkt sollte vielmehr die beiderseitige Dialogbereitschaft stehen.

Für Nachfragen und Anregungen ist Markas per Mail erreichbar.

Donnerstag, 3. September 2015

Warum Liberale niemals rechts blinken dürfen

Christian Lindner geißelt ihn schon seit einiger Zeit: den westlichen Selbsthass, der dafür sorgt, dass die Abneigung gegen alles, was die USA, Europa, aber auch Israel an Produkten oder Gedanken, Politik oder Werten entwickeln solch absurde Züge annimmt, dass am Ende der russische Autokrat Wladimir Putin als Heilsbringer dasteht. Nun könnte man meinen, dass Liberale nicht Gefahr laufen, diesem Virus zu erliegen. Doch so eindeutig fällt die Antwort leider nicht aus, wie gleich mehrere Indikatoren zeigen.

Es war zunächst Michael Miersch, einer der Gründer des einstmals liberal-konservativen Blogs „Achse des Guten“, der Alarm schlug: „Der kulturpessimistische, anti-westliche, national-konservative Gegenpol zur Achse wurde damals von Publizisten wie Konrad Adam und Alexander Gauland repräsentiert, die heute zur Führungsriege der AfD zählen“, berichtet er. Um dann ernüchtert festzustellen: „Beide Herren sind ihrer Weltanschauung treu geblieben und haben damit in jüngster Zeit viel Zulauf gewonnen. Ihr Erfolg geht leider so weit, dass sogar Achse-Autoren diese Partei und ähnlich gestrickte Protestbewegungen wie Pegida verteidigen.“ 

Miersch stellt mit Blick auf die steigenden Besucherzahlen des Portals resigniert fest: „Wutjournalismus hat eine weitaus größere Leserschaft als Nachdenklichkeit.“ Dass er dennoch nicht aufhören wird, für seine Weltsicht zu kämpfen, zeigt sich daran, dass er seinen Frust mit klaren politischen Statements verbindet. So schreibt er: „Menschen nach Herkunft zu beurteilen, finde ich boshaft. Sippenhaft ist absolut inakzeptabel“ und macht damit klar, dass er genau das bei der „Achse des Guten“ beobachtet. „Liberal“, das macht Miersch deutlich, könne sich das Blog erst wieder nennen, wenn es sich von einer großen Zahl seiner Autoren getrennt hat. 

Auch Äußerungen über „monokulturellen Dünkel“, absurde Behauptungen wie „die EU ähnele immer mehr der UdSSR und der Euro sei die schlimmste Destruktion seit dem Zweiten Weltkrieg“ oder Ansichten wie die, „dass das heutige Deutschland dekadent“ sei, keinen Platz mehr hätten, erteilt Miersch eine Absage. Derzeit finde man auf der „Achse“ jedoch von der wirren Theorie, dass „sexuelle oder andere Abweichungen von der Norm Verfallserscheinungen sind“, bis hin zur verlogenen „Idealisierung der christlichen Familie als Keimzelle der Nation“ vieles, was das neurechte Herz begehre. Miersch, der Klimaskeptiker und Jäger, der sich bis heute mit den typischen Großstadtgrünen anlegt, beendet seine Abrechnung mit dem für ihn schärfstmöglichen Fazit. Ihn störe besonders der apokalyptische Ton, den er an den „Öko-Predigern immer kritisiert“ habe: „Die aufgeregten Warnrufe vor der EU, dem Euro, der Migration, dem Untergang des Abendlandes klingen ganz genauso wie die Klimakassandras.“ Dem ist eigentlich nicht mehr viel hinzuzufügen.

Nun könnte man meinen, Miersch wäre ein einsamer Rufer in der Wüste, der vielleicht ohne es zu merken nach links gerutscht ist. Doch wie passt dazu der Artikel von Karen Horn, als Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft ebenfalls gänzlich unverdächtig, einen linksliberalen oder gar linken Freiheitsbegriff zu pflegen? In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 17. Mai 2015 schlug sie mit deutlichen Worten Alarm: Man habe – gewöhnt, „dass die Angriffe auf die Freiheit seit Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem von der linken Seite des politischen Spektrums kamen“ – den Fehler gemacht, und „die rechte Gefahr nicht erkannt“, konstatiert sie. Und sie fragt zu Recht: „Wo nur kommt der Brass auf Ausländer in den eigenen Reihen her? Das Schönreden von Diskriminierung? Die Ausfälligkeiten gegenüber Gleichstellung, Inklusion und Integration? Die Sticheleien gegen Homosexuelle? Das Gerede von der „natürlichen Bestimmung der Frau“? Die schrillen Aufrufe zur „Re-Evangelisierung des Abendlandes“, von der das Überleben der Zivilisation abhänge?“ 

Als Liberalen schüttelt es bei dieser Aufzählung – und es ist klar, dass man bei der Suche nach politischen Figuren, die diese Werte teilen, weit außerhalb des freiheitlichen Spektrums landet. Zum Beispiel in Putins Russland. Dass dort Glühbirnen nicht verboten sind und für Freunde des Präsidenten die wirtschaftlichen Freiheiten quasi unendlich sind – für alle anderen allerdings gilt das Gegenteil – reicht einigen selbsternannten Liberalen schon, Russland zu einem Hort der Freiheit umzudeuten. Dass Putin autoritär herrscht, die Menschen- und Bürgerrechte mit Füßen tritt, sich völkerrechtswidrig am Territorium seines Nachbarn bedient und dessen „Anti-Terror-Kampf“ inzwischen ein Fünftel (!) der gesamten tschetschenischen Bevölkerung das Leben gekostet hat, schiebt man da gerne zur Seite.

Das lässt sich im besten Falle absurd nennen. Im schlimmsten Fall steckt dahinter allerdings eine bewusste Strategie, nämlich die, sich beim Kampf gegen echte gesellschaftliche Liberalität an die Stelle alt- und neurechter Protagonisten zu stellen, in denen man Verbündete gefunden zu glauben scheint. Wer die Schärfe und Brutalität beobachtet, mit der die amerikanische Tea Party-Bewegung den demokratischen Diskurs zu dominieren versucht, weiß, in welche Richtung sich die Auseinandersetzung auch hierzulande entwickeln wird. Und dass dabei jeder Juli und jeder Freidemokrat immer automatisch auf der richtigen Seite der Debatte stehen werden, ist alles andere als sicher. 

Das zeigt sich schon mit Blick auf wie Hayek-Gesellschaft, wo auch FDP-Mitglieder – unter ihnen Frank Schäffler – neben Rechtsauslegern von der AfD und der Jungen Freiheit den Angriff auf die Vorsitzende Horn unterzeichnet haben, in dem dieser unter anderem „Verunglimpfung und Denunziation“ und ein „einseitiges und verengtes Liberalismusverständnis“ vorgeworfen wird. Auch das einstmals im liberalen Umfeld gegründete Magazin „eigentümlich frei“ und insbesondere dessen Gründer André Lichtschlag ist schon seit Jahren kontinuierlich auf dem Weg nach rechtsaußen – und ist sich dabei noch nicht einmal zu fein, mit der neurechten „Sezession“ um Götz Kubitschek ins Gespräch zu kommen, der selbst der AfD zu rechts war. 

„Was da am rechten Rand wächst, hat den Namen Liberalismus nicht verdient“, hat Karen Horn treffend formuliert. Die Erkenntnis alleine reicht aber nicht. Es sind alle Liberalen aufgerufen, sich dem von einem ungesunden antiwestlichen Impuls unterstützten massiven Rechtsruck entgegenzustellen. Autoritäres Denken und Diskriminierung sind mit Liberalismus niemals vereinbar.

Dieser Text ist zunächst in "jung+liberal", dem Mitgliedermagazin der Jungen Liberalen (Ausgabe 02/2015) erschienen.