Dienstag, 28. Oktober 2014

Volkshochschulkurs für Deutschland (I)

Der DIW-Chef Marcel Fratzscher hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Erstens, weil er komplexe Sachverhalte verständlich darlegt. Und zweitens, weil er nicht wie einiger seiner namhaften Kollegen der Versuchung erliegt, um der Verkaufszahlen Willen Horrorszenarien zu entwerfen.

Marcel Fratzscher, Jahrgang 1971, gilt als der neue Superstar am deutschen Ökonomenhimmel. Im Gegensatz zu vielen anderen Professoren hat er eine große Zahl an internationalen Stationen hinter sich, neben Harvard und Oxford sind vor allem die EZB und die Weltbank, aber auch Indonesien während des Crashs 1997/98 zu nennen. Der DIW-Präsident kann also glaubhaft vermitteln, dass er Krisenszenarien nicht nur aus der Theorie kennt.

Diese Information ist nicht unwichtig bei der Bewertung seiner Thesen, die sich in weiten Teilen von den alarmistischen Aussagen der einschlägig bekannten Namen – von Sinn bis Otte, von Henkel bis Lucke – unterscheidet. Sein Buch „Die Deutschland-Illusion – Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen“ trägt dabei die wichtigsten Informationen tatsächlich schon im Titel: Deutschland sollte sich nicht zu stark fühlen, denn nicht alles, was glänzt, ist auch Gold. Und alleine sind wir nichts. So provokant, wie ich es hier zusammengefasst habe, formuliert Fratzscher freilich nicht. Kante zeigt er trotzdem.

In seinem Buch nennt er drei Illusionen, denen Deutschland aus seiner Sicht derzeit kollektiv unterliegt, nämlich dass wir derzeit ein zweites deutsches Wirtschaftswunder erleben, dass wir Europa und den Euro nicht bräuchten und dass Europa nur an Deutschlands Geld wolle. Die erste Illusion ist dabei wohl am schnellsten erklärt: Fratzscher leitet gut nachvollziehbar her, dass nicht die Arbeit an sich mehr geworden ist (was für ein tatsächliches „Jobwunder“ spräche), sondern vielmehr durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die Arbeit umverteilt wurde. Darüber hinaus warnt der Ökonom davor, dass sich eine immer größere Investitionslücke auftut, weil die steigenden Steuereinnahmen nicht etwa in Zukunftsinvestitionen (Bildung, Infrastruktur) fließen, sondern in kurzfristige Beglückungsinstrumente wie etwa die Rente mit 63. Auch die Umsetzung des Mindestlohns sieht er äußerst kritisch. Wir leben also, wie es Fratzscher formuliert, aus der Substanz.

Nicht nur der Politik werden allerdings ihre Versäumnisse vorgehalten. Auch Unternehmen und Privatpersonen bekommen etwas zum Nachdenken vorgelegt. So ist die mangelnde Investitionstätigkeit – auch aus der Mitte der Gesellschaft – Fratzschers Meinung nach einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Deutschland extrem vom Export abhängig ist (was zwar immer wieder unter dem Begriff „Exportweltmeister“ gefeiert wird, so eindeutig aber nicht zu sehen ist) und die Entwicklung der export- und binnenorientierten Wirtschaftszweige immer weiter auseinanderfällt. Fratzscher spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „gespaltenen Volkswirtschaft“. Darüber hinaus sieht er in der extrem hohen Sparquote der Deutschen ein großes Problem: Nur dadurch, dass dieses Geld nicht in Investitionen geflossen sei, habe man seit 1999 400 Milliarden Euro (!) an Wirtschaftsleistung zunichte gemacht. Sparen um des Sparens willen, das wird deutlich, schadet eher, als das es nutzt. Oder anders gesagt: Wer nicht investiert, kann auch keine Rendite erwarten.

Mit einer Gesamtsicht auf die Positionierungen wird übrigens ein Missverständnis deutlich, das über Fratzscher in der Öffentlichkeit kursiert: Auch wenn er zum Beraterstab von SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel gehört, darf man den DIW-Chef durchaus als liberalen Ökonomen sehen, der allerdings nicht zum Dogmatiker taugt. Er hat einen klaren Blick für das Funktionieren des Marktes, ohne allerdings die an einigen Stellen zu Tage tretenden Schwächen alleine aus einer Weltsicht heraus zu negieren. Risiko ist für ihn kein Fremdwort, sondern wichtige Basis einer funktionieren Wirtschaft. Die Kritik, die er an der Überheblichkeit der Deutschen, aber auch an maßgeblichen Projekten der aktuellen Bundesregierung formuliert, sollte man daher ernst nehmen.

Teil II der Buchbesprechung erscheint morgen an dieser Stelle.


Disclaimer: Marcel Fratzscher und ich sind beim selben Verlag unter Vertrag und arbeiten mit demselben Lektor zusammen. Das hat meine Bewertung des Buches allerdings in keiner Form beeinflusst.

Montag, 20. Oktober 2014

Bernd Lucke und die Gaskammern

"Mut zur Wahrheit" und "Man wird ja wohl noch sagen dürfen...", das sind zwei der Gründungsmythen der AfD. In der Realität hat der Parteivorsitzende Bernd Lucke mit diesen Ansätzen so seine Probleme. Das überrascht an sich nicht weiter, ist er doch schon mehrfach mit einem seltsamen Verhältnis zur Wahrheit aufgefallen. Aktuell allerdings geht es um die Gaskammern der Nazis, da lohnt ein genauerer Blick. Und was ich da erleben durfte, spricht nicht dafür, dass die AfD tatsächlich vorhat, sich vom braunen Rand abzugrenzen. Ausgegrenzt werden nur die Demokraten.

Um was geht es? Bernd Lucke reagierte am Wochenende auf zwei konkrete (von vielen, vielen) "Einzelfälle" in seiner Partei. Einer davon war Martin Sichert, der immerhin von einem Landesparteitag der AfD zum Vorsitzenden gewählt worden war, was wegen Fehlern in der Abstimmung allerdings für ungültig erklärt wurde. Er ist davon überzeugt, dass am Ende des zweiten Weltkrieges die "zwei größten Massenmörder gesiegt" hätten. Der andere war ein AfD-Mitglied, das in einer Parteiveranstaltung offensiv den Holocaust leugnete - und dafür Applaus bekam.

Auf seiner Facebook-Page distanzierte sich Lucke nun von beiden Aussagen und Personen und kündigte ein Ausschlussverfahren an. Meine Bemerkung, dass sich wieder einmal der Parteivorsitzende von seiner Partei distanziere und es sich wohl um strukturelle Probleme handeln dürfte, wurde sofort, wohl von Lucke persönlich - der danach noch weiter an der Diskussion teilnahme -, gelöscht und ich für zukünftige Kommentare geblockt. Nun darf jeder auf der eigenen Facebook-Page tun und lassen, was er will. Ein Prinzip übrigens, was gerade AfD-Primitivbürger oftmals nicht verstehen und gleich "Zensur" brüllen. Was allerdings interessant ist: Als meine Bemerkung, die ohne Beleidigungen oder sonstige strafrechtliche relevante Ausfälle auskam schon lange gelöscht war, durfte ein Bild, in dem die Nutzung der Gaskammern für den Massenmord in Frage gestellt werden, weiter stehenbleiben. Auch die sonstigen Kommentare werden scheinbar nicht für problematisch erachtet:
da waren knapp 20 Zuhörer und ein Pressevertreter, völlig belanglos
Das sind Uboote, eingeschleust um die Partei von innen zu zerstören. 
alles so passend, die Euro-Krise kommt wieder an die Oberfläche, die CDU in Panik und jetzt werden diese U-Botte gesendet.  
Bernd Lucke: Relativieren sie etwa die 20 Millionen Morde von Stalin und die 70 Millionen von Mao????????????????????????????????????????? 
 Ich persönlich bin der Meinung, daß in einer Volkspartei,die sie ja sein wollen, auch mal unbequeme Aussagen getroffen werden dürfen, ohne gleich ausgeschlossen zu werden. Eine Rüge, sollte da eigentlich reichen. 
Deutschlands und die Nazi Keule... man kann alles und jeden fertigmachen! Man muss sich für die heutige Gesellschaft in Grund und Boden schämen 
Henrik Mpll, die AfD ist eine Partei die sich um die Zukunft kümmern muss und nicht Zeit und Energie um haarspaltende Geschichtsbetrachtung verlieren sollte.   
Mut zur Wahrheit und gegen Denkverbote was zählt sind Fakten 
Querulanten entfernen.. nett ausgedrückt Miguel Kay! Wie wäre es mit Säubern oder eliminieren? Jede andere Meinung unterdrücken und verbieten! Ihr seid in kürzester Zeit genauso scheisse geworden wie die Altparteien, Glückwunsch! 
Diese Kommentare zeigen wieder einmal deutlich, wie raffiniert und effektiv versucht wird die AfD zu zerstören!  
Innerparteiliche Konkurrenten durch Schauprozesse und angetriebene Scheinverfahren loswerden wollen, keine feine Art. 
Wenn Menschen wie Herrn Sichert Unrecht widerfährt, kann ich nicht stillhalten, 

(Alle Rechtschreibefehler und Co sind natürlich 1:1 von den Verfassern, nach eigenem Empfinden ja Deutschlands Elite, übernommen.)

Was aus diesem Handeln Luckes deutlich wird: Mit Meinungsfreiheit ist bei ihm die Meinung derjenigen gemeint, die sich vorstellen können, AfD zu wählen. Rechtsradikale und Rechtsextreme sind ihm da immer noch lieber, als Demokraten, die seiner Partei kritisch gegenüber stehen. Das Problem ist nicht das Leugnen des Holocausts an sich, so wirkt es, sondern nur das Leugnen des Holocausts, das es in die Medien schafft und der AfD schaden könnte. Dazu passt auch, dass Lucke kein Problem damit hat, auf eine Demo gegen Judenhass zu gehen, während auf Landtagswahllisten der AfD Kandidaten sitzen, die offen antisemitische Propaganda verteilen oder über den offiziellen Account der AfD Berlin verbreitet wird, die Juden hätten vom Holocaust profitiert.

Ich persönlich halte die AfD für deutlich gefährlicher, als es die NPD jemals war. Rassisten, Antisemiten, Behindertenfeinde, Homophobe - all das tummelt sich in der AfD unter einem bürgerlichen Mäntelchen. Das in die Welt zu tragen, das ist wirklich Mut zur Wahheit. Und das wird man ja wohl noch sagen dürfen...