Der DIW-Chef Marcel Fratzscher hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Erstens, weil er komplexe Sachverhalte verständlich darlegt. Und zweitens, weil er nicht wie einiger seiner namhaften Kollegen der Versuchung erliegt, um der Verkaufszahlen Willen Horrorszenarien zu entwerfen.
Marcel Fratzscher, Jahrgang 1971, gilt als der neue Superstar am deutschen Ökonomenhimmel. Im Gegensatz zu vielen anderen Professoren hat er eine große Zahl an internationalen Stationen hinter sich, neben Harvard und Oxford sind vor allem die EZB und die Weltbank, aber auch Indonesien während des Crashs 1997/98 zu nennen. Der DIW-Präsident kann also glaubhaft vermitteln, dass er Krisenszenarien nicht nur aus der Theorie kennt.
Diese Information ist nicht unwichtig bei der Bewertung seiner Thesen, die sich in weiten Teilen von den alarmistischen Aussagen der einschlägig bekannten Namen – von Sinn bis Otte, von Henkel bis Lucke – unterscheidet. Sein Buch „Die Deutschland-Illusion – Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen“ trägt dabei die wichtigsten Informationen tatsächlich schon im Titel: Deutschland sollte sich nicht zu stark fühlen, denn nicht alles, was glänzt, ist auch Gold. Und alleine sind wir nichts. So provokant, wie ich es hier zusammengefasst habe, formuliert Fratzscher freilich nicht. Kante zeigt er trotzdem.
In seinem Buch nennt er drei Illusionen, denen Deutschland aus seiner Sicht derzeit kollektiv unterliegt, nämlich dass wir derzeit ein zweites deutsches Wirtschaftswunder erleben, dass wir Europa und den Euro nicht bräuchten und dass Europa nur an Deutschlands Geld wolle. Die erste Illusion ist dabei wohl am schnellsten erklärt: Fratzscher leitet gut nachvollziehbar her, dass nicht die Arbeit an sich mehr geworden ist (was für ein tatsächliches „Jobwunder“ spräche), sondern vielmehr durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die Arbeit umverteilt wurde. Darüber hinaus warnt der Ökonom davor, dass sich eine immer größere Investitionslücke auftut, weil die steigenden Steuereinnahmen nicht etwa in Zukunftsinvestitionen (Bildung, Infrastruktur) fließen, sondern in kurzfristige Beglückungsinstrumente wie etwa die Rente mit 63. Auch die Umsetzung des Mindestlohns sieht er äußerst kritisch. Wir leben also, wie es Fratzscher formuliert, aus der Substanz.
Nicht nur der Politik werden allerdings ihre Versäumnisse vorgehalten. Auch Unternehmen und Privatpersonen bekommen etwas zum Nachdenken vorgelegt. So ist die mangelnde Investitionstätigkeit – auch aus der Mitte der Gesellschaft – Fratzschers Meinung nach einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Deutschland extrem vom Export abhängig ist (was zwar immer wieder unter dem Begriff „Exportweltmeister“ gefeiert wird, so eindeutig aber nicht zu sehen ist) und die Entwicklung der export- und binnenorientierten Wirtschaftszweige immer weiter auseinanderfällt. Fratzscher spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „gespaltenen Volkswirtschaft“. Darüber hinaus sieht er in der extrem hohen Sparquote der Deutschen ein großes Problem: Nur dadurch, dass dieses Geld nicht in Investitionen geflossen sei, habe man seit 1999 400 Milliarden Euro (!) an Wirtschaftsleistung zunichte gemacht. Sparen um des Sparens willen, das wird deutlich, schadet eher, als das es nutzt. Oder anders gesagt: Wer nicht investiert, kann auch keine Rendite erwarten.
Mit einer Gesamtsicht auf die Positionierungen wird übrigens ein Missverständnis deutlich, das über Fratzscher in der Öffentlichkeit kursiert: Auch wenn er zum Beraterstab von SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel gehört, darf man den DIW-Chef durchaus als liberalen Ökonomen sehen, der allerdings nicht zum Dogmatiker taugt. Er hat einen klaren Blick für das Funktionieren des Marktes, ohne allerdings die an einigen Stellen zu Tage tretenden Schwächen alleine aus einer Weltsicht heraus zu negieren. Risiko ist für ihn kein Fremdwort, sondern wichtige Basis einer funktionieren Wirtschaft. Die Kritik, die er an der Überheblichkeit der Deutschen, aber auch an maßgeblichen Projekten der aktuellen Bundesregierung formuliert, sollte man daher ernst nehmen.
Teil II der Buchbesprechung erscheint morgen an dieser Stelle.
Disclaimer: Marcel Fratzscher und ich sind beim selben Verlag unter Vertrag und arbeiten mit demselben Lektor zusammen. Das hat meine Bewertung des Buches allerdings in keiner Form beeinflusst.