Montag, 28. Oktober 2013

Gastbeitrag: "FDP: Raus aus der Defensive – rein in die Reformoffensive! "

Ich erlaube mir an dieser Stelle mit freundlicher Einwilligung von Dr. Christopher Gohl seine klugen Gedanken zur Neuaufstellung der FDP als liberale Reformpartei zu teilen.


I. Programmatische Leere führt zu schwacher Regierung 

II. Personelle Probleme erschweren die glaubwürdige Positionierung

III. Organisatorische Probleme: Schlagkraft gegen Null

IV. Prioritäten des Neuanfangs


Zusammenfassung: Das Versagen der FDP als Reformpartei

Die FDP hat bei dieser Bundestagswahl 2013 versagt, sich als überzeugende liberale Kraft der Reformen zu positionieren. Dafür wirken tiefgreifende programmatische, personelle und organisatorische Probleme zusammen, die seit Jahren schwelen. Die Kampagne zur Wahl hat diese Probleme verschärft, statt sie zu überdecken. Die Stärke der FDP war es stets, Ideen und Persönlichkeiten zu verknüpfen, ihre Schwäche die schlagkräftige Organisation von Individualisten. Die Stärke ist verloren gegangen, die Schwäche geblieben. Schnelle Lösungen gibt es für die Probleme der FDP deshalb nicht – und ganz bestimmt liegen sie nicht in der Entscheidung über „klassischen vs Säuselliberalismus“, wie Frank Schäffler glauben machen will. Diese Frontstellung ist falsch.


I. Programmatische Leere führt zu schwacher Regierung 

Eine Reformagenda gibt es nicht mehr

Die programmatischen Probleme beginnen damit, dass die FDP keine erkennbare Reformagenda mehr hat. Noch Ende der 90er Jahre setzte der (inzwischen nachhaltig diffamierte) „neo-liberale Diskurs“ erfolgreich die Agenda für strukturelle Reformen: Ordnungspolitik für den föderalen Sozialstaat. Nach dem Erfolg der Agenda 2010 vermochte es die FDP aber nicht, neue und gesellschaftlich zwingende Reformprojekte offensiv zu vertreten, mit denen wir die Chancen jedes einzelnen Menschen gestärkt hätten, seinen eigenen Weg zu gehen – Beispiel Bildung oder Bürgergeld.

2009: Von der offensiven Agenda in die defensive Rückenlage

Stattdessen wandelte sie die FDP zur defensiven Schutzmacht der „vergessenen Mitte“ und nutzte zur Bundestagswahl 2009 – taktisch kurzfristig erfolgreich – Abstiegsängste einer durch die Finanzkrise verunsicherten Mittelschicht. 14,6 % der (keineswegs durchweg liberal eingestellten) Wähler honorierten den strategischen Wechsel von der programmatischen Offensive der Reformpartei in die Defensive einer Dagegen-Partei. Die verbliebenen Reformprojekte Steuerreform und Bürgergeld verloren in handwerklich katastrophalen Koalitionsverhandlungen jegliche Verbindlichkeit und wurden zum bloßen Lippenbekenntnis, der Reformeifer zur Pose. 

„Chancen für morgen“ der Grundsatzdebatte nur halb genutzt

Die folgende Grundsatzprogrammdebatte „Chancen für morgen“ zwischen 2010 bis 2012 vermochten zwar liberale Traditionen und Prinzipien zu klären. Glaubwürdige neue Reformprojekte konnten aber unter dem Druck der Mitgliederbefragung zum ESM nicht mehr diskutiert, beschrieben und personalisiert werden. Die Besinnung auf klassische Werte eines modern interpretierten humanistischen Liberalismus war wichtig. Die Idee, mündige Menschen zum Ausgangspunkt aller liberaler Chancenpolitik und den souveränen Bürgern zum Ziel aller liberaler Ordnungspolitik zu machen, wurde in sechs unterschiedlichen liberalen Traditionen aufgearbeitet. Das war in der Substanz richtig und muss jetzt Richtschnur der weiteren nachholenden Diskussion bleiben: Welche Reformprojekte folgen denn aus den Karlsruher Freiheitsthesen?

Schwacher Regierungsauftritt

Ein schlechter Koalitionsvertrag, traditionell schwache Ministerien – Wirtschaft statt Finanzen, Justiz statt Innen, Außen statt Verteidigung, ein im Regierungsalltag bereits eingespielter Koalitionspartner, machtpolitische Naivität gegenüber dem Koalitionspartner und die verschleppte Neuordnung der Parteizentrale als Sprachrohr liberaler Positionen führten zu einem Fehlstart der FDP in die Regierung, von dem wir uns nie wieder erholen konnten. Im Regierungsalltag ist es nicht gelungen, ein größeres liberales Reformprojekt durchzusetzen (mit Ausnahme der Wehrpflicht und Transformation der Entwicklungspolitik). Erst im Frühjahr 2012 gelang es der FDP ansatzweise, mit der Durchsetzung Joachim Gaucks als Bundespräsident und der Abschaffung der Praxisgebühr als Regierungspartei erkennbar zu werden – zu wenig und zu irrelevant für 14,6 Prozent Stimmenanteil und fünf Ministerien. 

Notmaßnahme Haltungswahlkampf

Der Wahlkampf 2013 wurde deshalb notgedrungen als Haltungswahlkampf geplant und geführt – in seiner Wertgebundenheit immerhin ein Fortschritt gegenüber dem opportunistischen Angstwahlkampf von 2009. Das Kalkül schien plausibel, die FDP könne als liberaler Teil der erfolgreichen Regierung Merkel und als liberale Traditionspartei ohne Denkmalschutz auch ohne Reformprogramm ein anständiges Ergebnis erzielen. Wir stehen vor den Scherben dieser Hoffnung, aber wir müssen erkennen, dass schon diese Hoffnung aus selbst verschuldeter Not geboren war.

Das falsche Fundament: ein konservativ-defensiver Freiheitsbegriff

Hinter der reformerischen Defensive der FDP steht die Idee einer Freiheit (der vergessenen Mitte), die vor (sozialdemokratischen und grünen) Interventionen verteidigt werden müsse. Aber in einer globalisierten Welt ist Abwehr nicht genug. Stets muss Politik auch Probleme lösen und neue Chancen schaffen. Aber als defensive und konservative Schutzmacht der Freiheit bietet die FDP weder Problemlösung noch neue Chancen an. Sie verzichtet sogar darauf, gesellschaftliche Probleme selbst zu formulieren, damit gesellschaftliche Konfliktlinien zu definieren und selbstbewusst liberale Wege zur Lösung aufzuzeigen. 

Freiheit muss wieder Gestaltungsauftrag werden

Reaktive Verhinderung des Schlimmsten in Rückenlage, nicht Gestaltung des Besseren in Vorlage wurde zur Maxime der FDP – bei der Euro-Rettung ebenso wie bei der Energiewende. Erst wenn die FDP Freiheit wieder als progressiven Gestaltungsauftrag versteht – erst wenn sie sich immer wieder neu um die Voraussetzungen dafür kümmert, dass jeder Mensch als mündiger Mensch und souveräner Bürger sein eigenes Leben leben kann – wird sie aus ihrer konservativen Defensive herauskommen. Dafür bedarf es eines gesellschaftspolitischen Angebots, das wirtschaftliche, soziale, ökologische und politische Anliegen aus einer bürgerschaftlichen Sicht und liberaler Haltung heraus vereint. Das heißt: Wirtschaft soll Werte schaffen, nicht Profite maximieren. Sozialpolitik soll Menschen ermächtigen, ihr eigenes Leben zu leben, und sie nicht gängeln oder abspeisen. Umweltschutz braucht verantwortliche Konsumenten und technologischen Fortschritt. Demokratische Politik braucht dezentral engagierte und ermächtigte Bürger.

Fortschrittskompetenz statt defizitäres Staats- und Gesellschaftsverständnis 

Entsprechend muss die FDP auch ihre Vorstellung von der Rolle des Staates und der Rolle von Wirtschaft, Wissenschaft, Bürgergesellschaft und Politik verändern. Bislang gelten der Staat und seine Regeln zu häufig als Problem, nicht als ein Instrument der Problemlösung. Aber Liberale sind nicht gegen den Staat. Sondern sie nutzen ihn nüchtern und in Kenntnis seiner Defizite. Wo der Staat zu kurz greift, müssen Liberale glaubwürdig und kenntnisreich die Aufgaben von Wirtschaft, Wissenschaft, Bürgergesellschaft und Politik beschreiben können. Denn sie wissen: Problemlösung und Fortschritt kommen aus vielen Quellen. Aber dafür müsste die FDP eben auch eine klare Vorstellung davon haben, was eine Gesellschaft der Bürger und eine liberale Gemeinschaft von Menschen zu leisten imstande ist. Sie müsste das republikanische und kulturelle „Wir“ einer liberalen Politik beschreiben können. Leider hat die FDP das gesellschaftspolitische Einmaleins, zusammen mit kultureller Deutungskompetenz, schon lange völlig verlernt. Das treibt die gesellschaftlichen und kulturelle Entwurzelung voran. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Die FDP aus Sicht der Wähler: Eine verbrauchte, keine fortschrittliche Partei

Diese programmatischen Probleme – Verlust der Reformagenda, einseitiges Bild der Freiheit und des Staates, mangelnde gesellschaftspolitische Kompetenz – machen einen Teil der Malaise einer schwachen Positionierung aus. Das zeigt auch eine forsa-Umfrage der FDP-Führung von 2011. 

Demnach geht der Vertrauensverlust bei Wählern auf den (so wahrgenommenen) Verlust des umfassenden liberalen Gestaltungsanspruchs zurück. So sollte eine ‚ideale’ Partei nach Meinung von deutlich mehr als der Hälfte der nach 2009 abgewanderten FDP-Wähler „eher alle Themen im Blick haben“ als sich „auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren“ und eher „fortschrittlich“ als „traditionsbewusst“ sein. Der FDP werden von diesen ehemaligen Wählern aber gerade gegenteilige Werte zugeschrieben: Sie konzentriere sich eher auf ihre Kernkompetenzen, als alle Themen im Blick zu haben, und sei eher traditionsbewusst als fortschrittlich. Deutlich über die Hälfte der abgewanderten FDP-Wähler sind demnach der Ansicht, die FDP sei „der verlängerte Arm der Wirtschaft“, sie sei „eine Partei der 80er-Jahre“ und verkörpere „die Vergangenheit, sie wird deshalb mit den Herausforderungen in Deutschland nicht fertig“. 

Ein umfassender Gestaltungsanspruch über Wirtschaftsfragen hinaus wird nach diesen Beobachtungen also nicht mehr wahrgenommen – in der Öffentlichkeit wird das unter den Überschriften „Lobbyismus statt Liberalität“, „Freibetrag statt Freiheit“, „Klientel statt klare Kante“ wahrgenommen.



II. Personelle Probleme erschweren die glaubwürdige Positionierung

Die FDP stand einmal Hinter dem programmatischen Absturz der einstigen Reformpartei steckt aber auch ein dreifaches personelles Problem. 

Generationswechsel zur Unzeit

Erstens ist der Generationenwechsel zur Unzeit gekommen. Die bundespolitisch noch relativ unerfahrene Generation Lindner – Rösler – Bahr – Döring (inklusive ihrer jungen Referenten) geriet nach dem Abgang des Bundesvorsitzenden Westerwelle zu früh und in zu unruhigen Zeiten an die Schaltstellen der FDP. Rösler, durch die dramatischen Tiefstände der FDP in der öffentlichen Meinung verunsichert, warf ihm eigene und authentische gesellschaftspolitische Anliegen über Bord und reduzierte sich selbst zum Sprachrohr einer vermeintlichen wirtschaftlichen Kernkompetenz – tragisch. Erst nach der gewonnen Niedersachsen-Wahl gewann er seine Stimme zurück – leider zu spät.

Unglücklicher Spitzenkandidat Brüderle führt zurück in die Malaise der defensiven FDP

Die Einbindung von Rainer Brüderle als Spitzenkandidat führte zweitens zwar zur Stabilisierung der Führung, aber auch zum totalen Stillstand, wenn nicht gar zum Rückschritt der FDP in die programmatische und personelle Defensive. Brüderles Brot-und-Butter-Themen überlagerten den progressiven Charakter des ursprünglichen Wahlprogramm-Entwurfs. Dazu gehörte mit „sicherem Geld“ ein Thema, das nur Brüderle selbst wirklich für ein zentrales Anliegen der Wähler hielt. Der Unfall Brüderles und der folgende Kampf um seine Gesundheit waren tragisch für die Person Brüderle und dramatisch für die FDP, die jetzt noch nicht einmal Angriffslust simulieren konnte. Die wiederholte Behauptung Brüderles in der letzten Woche vor der Wahl, wer Merkel als Kanzlerin haben wolle, müsse FDP wählen, markierte den Tiefpunkt einer perspektiv- und mutlosen Überlebenskampagne.

Personalisierung von Projekten findet nicht mehr statt

Drittens ist es der FDP schon lange nicht mehr gelungen, ihre Projekte erfolgreich zu personalisieren – erstens, Projekte überhaupt zu definieren und zweitens, sie glaubwürdig zu besetzen. Mit einer und zwei halben Ausnahmen: Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger stand deshalb erkennbar für liberale Justizpolitik ein, weil sie vor vielen Jahren einmal aus Überzeugung als Justizministerin zurück getreten war. Und Christian Lindner und Wolfgang Kubicki verkörperten von Stil und Anspruch alternative Versprechen einer anderen (sozial sensibleren) FDP. Alle anderen Minister schienen in den Augen der Öffentlichkeit – in der Sache zu Unrecht – eher von Karriereerwägungen getrieben: Westerwelle als Außenminister auf der Suche nach Liebe; Niebel in einem Ministerium, das er abschaffen wollte; Rösler im Wirtschaftsministerium auf der Suche nach Bedeutung als Parteivorsitzender; und Bahr als Aufsteiger innerhalb des Ministeriums.


III. Organisatorische Probleme: Schlagkraft gegen Null

Mangelnde Strategiefähigkeit (1): Kein strategisches Zentrum

Das personelle Problem der glaubwürdigen Positionierung geht in organisatorische Probleme über. Der FDP fehlte zwischen Partei, Parlament und Ministerien ein operativ arbeitsfähiges strategisches Zentrum. Die Führung der FDP war über weite Strecken in den letzten vier Jahren nicht strategiefähig. Die Planungsstäbe der Ministerien koordinierten sich schwach, einen Fahrplan für übergreifende Themen und Kampagnen gab es nicht, das Dehler-Haus wurde auf die Rolle des Verkäufers zwischen rivalisierender Parlamentsfraktion und Ministerien reduziert.

Mangelnde Strategiefähigkeit (2): Keine klare Empirie der eigenen Lage und Potenziale

Grundlegend fehlte eine klare Analyse der Lage, Dilemmata und Potenziale der FDP. Alle empirischen Umfragen, die Übersicht schaffen sollten, waren von vorneherein so angelegt, dass sie eine Fortsetzung des alten Kurses nahe legen sollten. Statt neue Milieus zur Besetzung zu prüfen, wurde lediglich abgefragt, was bisherige Wähler wollten – und die waren nicht immer liberal und schon gar nicht gestalterisch anspruchsvoll. FDP-Chef Rösler vermochte sich nicht mit seiner – freilich unreif vorgetragenen – Idee durchzusetzen, die „neuen bürgerlichen“ Schichten selbstbewusster, aufstiegsorientierter Menschen zu bestimmen und anzusprechen.

Kaputte Kommunikation zwischen Führung und Basis

Die FDP hat keine kosteneffizienten, schnellen und funktionstüchtigen Kommunikationskanäle bis zum einzelnen Mitglied – schon gar keine funktionierenden Feedback-Kanäle. Für die Führung ist die Basis am liebsten nur ausführendes Organ. Das einzelne Parteimitglied wird zu häufig als Störfaktor gefürchtet, nicht als Partner der liberalen Sache ermächtigt. Die Grundsatzdebatte brachte Experimente einer vorsichtigen Öffnung und führte, etwa in der Arbeitsgruppe Parteireform, zu zaghaften Reformvorschlägen. Aber eine systematische Überprüfung, geschweige denn ein Aufbau einer schlagkräftigen Infrastruktur blieb bislang aus.

Geschwächte Parteizentrale

Nach dem Wechsel des Generalsekretärs und des Bundesgeschäftsführers in das Entwicklungsministerium war das Dehler-Haus zu lange verwaist, dann Arena gegensätzlicher Politikansätze, personeller Rochaden und Stellvertreter-Kämpfe einer wechselnden Führung. Zusätzlich behindert wurde die Arbeit durch ungeklärte Verhältnisse der einzelnen Abteilungen zu den politischen Dienstleistern der liberalen Familie. Weil das strategische Zentrum der FDP-Führung fehlte, wurde das Dehler-Haus zum Sekretariat mit Schreibstube, statt als Zentrum weitsichtiger Planung und Umsetzung zu dienen. Auch in Bezug auf die Landesgeschäftsstellen bedarf es einer integrativen Organisationsentwicklung. Das kostet Geld – hierfür muss die FDP neue Formen des Fundraisings finden.


IV. Prioritäten des Neuanfangs

1. Liberale Politik als Gesamtprojekt jenseits des politischen Einzelhandels denken

Die Positionierung der FDP ist seit Jahren nicht mehr an inhaltlicher Überzeugung, sondern nur noch taktisch an Wählergruppen ausgerichtet worden – sehr erfolgreiche, aus der schieren Not geborene Ausnahmen bei Landtagswahlen bestätigen die Regel. Aber liberale Politik ist kein Einzelhandelsgeschäft mit unterschiedlichen Kunden und unterschiedlichen Kundenwünschen. Es reicht nicht, in Wahlkämpfen einzelne Wählergruppen über materielle Instinkte zu mobilisieren, sondern wir müssen jeden Tag Anhänger der liberalen Idee gewinnen. 

2. Gesellschaftliche Wurzeln schlagen

Die FDP ist zu einer Partei mit Luftwurzeln geworden, die zunehmend vertrocknen. Wirtschaftlich mittelständische, bürgerlich-konservative Milieus wechseln, wie geschehen, gerne zur CDU. Den Kontakt zu liberal affinen Milieus – kulturell und unternehmerisch Kreative, Digital Natives, bürgerschaftlich Engagierte, junge Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund und Aufstiegswillen, Technologie-Freunde und Geisteswissenschaftler etc. – haben wir verloren oder nie gehabt. Jetzt müssen wir wieder gesellschaftliche Wurzeln schlagen. Dafür bedarf es eines Plans für einen dauerhaften Brückenschlag der Werte und Haltungen in alte und neue Milieus der Gesellschaft hinein. Auf die kommunale Verwurzelung kommt es dabei an!

3. FDP als konsequente bürgerliche Reformpartei zwischen CDU, SPD und Grünen positionieren

Die FDP ergreift konsequent Partei für die Freiheit der einzelnen Menschen – konkret für ihre Lebenschancen. Eine konsequente liberale Haltung zieht sich durch alle Politikfeldern („Verantwortung und Fairness in Freiheit“). Sie schafft faire Chancen mit und für jeden mündigen Menschen. Sie sichert eine faire freiheitliche Grundordnung für souveräne Bürger in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Sie baut auf Menschen und Bürger, die Verantwortung für sich selbst sowie ihre Mitwelt, Umwelt und Nachwelt übernehmen. Sie strebt nach Fortschritt durch nachhaltige Entwicklung, die als dezentraler Verbesserungsprozess viele Quellen hat: den Wettbewerb der Wirtschaft, die Kooperation der Bürgergesellschaft, die Verständigung der Demokratie und die Wahrheitssuche der Wissenschaft. Zur CDU (Motive: Ordnung und Verantwortung), zur SPD (Motive: Chancen und Fairness) und zu den Grünen (Motiv nachhaltiger Fortschritt) wahrt sie so gut als möglich Äquidistanz. Ampeln müssen möglich werden – auch in Hessen.

4. FDP als selbstbewusste Europa-Partei aufstellen

Der Europa-Wahlkampf ist eine Chance, die Stärken der FDP zu demonstrieren: Ordnungspolitik für eine freiheitliche Grundordnung in Europa heißt Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft und Demokratie in einem föderalen, subsidiären Bundesstaat aufzubauen. Chancenpolitik heißt, dass Europa der Kontinent mit den besten Lebenschancen der Welt werden soll. 

5. Eine liberale Reformagenda für 2020 formulieren

Als Reformpartei formulieren wir eine Agenda „Fünf für 20“, zum Beispiel:

1. Föderalismusreform zur Stärkung von Bildung und Wissenschaft, Finanzierung von Infrastruktur im demographischer Wandel, Reform des Länderfinanzausgleichs und Stärkung der Kommunen,

2. Initiative "Verantwortungswirtschaft" zur Stärkung souveräner Bürger an den Daten-, Finanz- und Arbeitsmärkten,

3. Initiative "Chancen für Europa", weil es überall in Europa die besten Lebenschancen der Welt geben soll, wofür wir souveräne Bürger durch einen verlässlichen Rechtsstaat, Regeln und Standards der sozialen Marktwirtschaft und politische Mitsprache in einer europäischen Demokratie stärken müssen,

4. Nationaler Dialog zur Zukunft des Gesundheitssystems, um einen Konsens über Eigenverantwortung und die Finanzierung eines solidarischen, humanen Gesundheitssystems im demographischen Wandel zu erzielen, und

5. Stärkung der Bürgerschaft durch mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung


Ich freue mich über Feedback und Verbesserungen dieses Papiers! info@christopher-gohl.de

Tübingen, 23. September 2013 

Dr. Christopher Gohl

Das Papier ist als PDF auch hier abrufbar.

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Arbeitnehmerpolitik als liberales Zukunftsthema

„Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage in Deutschland.“ Spätestens seit diesem Frontalangriff von Guido Westerwelle im Jahr 2005 haben sich die Liberalen kaum noch mit Arbeitnehmerfragen jenseits der Deregulierung des Arbeitsmarktes beschäftigt. Das ist ein Fehler, den es zu beheben gilt.

Mit dem genannten Zitat trat Guido Westerwelle vor sieben Jahren das los, was man heute wohl einen veritablen Shitstorm nennen würde. Tragisch war dabei, dass der heutige Außenminister zwar durchaus ein zentrales Thema der Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas streifte, eine konstruktive Debatte aber mit seiner katastrophalen Wortwahl unmöglich gemacht hatte. Gewerkschaften werden von vielen Liberalen als überflüssig angesehen. Dabei wird übersehen, dass ohne diese ein liberales Staatsgebilde nicht funktionieren kann. Darüber hinaus wird nur gemeinsam mit den Gewerkschaften eine Gestaltung des derzeitigen Transformationsprozesses von Arbeit möglich sein, der auch der jüngeren Generation in Zukunft Entwicklungschancen bietet. Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit, das Thema Arbeitnehmer- und Gewerkschaftspolitik zu einem, wenn nicht dem liberalen Zukunftsthema zu machen.

Unfraglich ist es so, dass viele Gewerkschaftsfunktionäre bis heute eher dafür kämpfen, das zu bewahren, was in der Vergangenheit erkämpft wurde – und dabei gerne übersehen, dass die Forderungen gar nicht mehr in die Lebensrealität ihrer potenziellen und tatsächlichen Mitglieder passen. Die Folge ist ein seit Jahrzehnten anhaltender Mitgliederschwund, der, sollte er nicht doch noch gebremst werden, bei ver.di etwa rein rechnerisch dazu führen würde, dass das letzte Mitglied im Jahr 2050 die Gewerkschaftszentrale absperrt und den Schlüssel in der Spree versenken könnte. Genau diese Schwäche der Gewerkschaften legt aber nicht nur die Axt an das sozialpartnerschaftliche Modell des „Rheinischen Kapitalismus“, weil die Lohnfestsetzung dann zwangsläufig vom Staat ausgehen wird. Das ist fast so etwas wie ein ultimatives Albtraumszenario für jeden Liberalen. Vielmehr würden die Gewerkschaften auch dringend gebraucht, um in einer sich zergliedernden, individualisierten Arbeitswelt mit fragmentierten Erwerbsbiografien die Zukunftsfähigkeit der deutschen und europäischen Arbeitnehmer – und damit auch der Wirtschaft – sicherzustellen.

Das Normalarbeitsverhältnis, in dem man von der Ausbildung bis zur Rente bleibt, vielleicht ein- oder zweimal unterbrochen durch Firmenwechsel, ist für immer weniger Menschen Realität. Dass es dabei eine gewisse Schicht von besonders gut ausgebildeten und flexiblen Menschen gibt, die diese neue Freiheit immer angestrebt haben und erst in dieser in der Lage sind, ihre kreativen Potenziale auszuschöpfen und sich dabei selbst zu verwirklichen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass für viele Menschen diese Entwicklungen eher bedrohlich wirken – zumal dann, wenn sie auch noch von Niedriglöhnen in immer mehr Branchen begleitet werden. Das hat auch gesellschaftliche Auswirkungen, die ganz unterschiedlich sein können. Man denke etwa an ausbleibende Beiträge in der Arbeitslosen-, Kranken- oder Rentenversicherung, eine weiter zurückgehende Geburtenrate aufgrund einer mangelnden Planbarkeit des weiteren Lebens oder den weiteren Rückgang gesellschaftlichen Engagements aufgrund der zunehmenden psychischen und zeitlichen Belastungen in der Arbeitswelt.

Die Entwicklungen lassen sich langfristig nicht dadurch aufhalten, dass der Staat immer weiter reglementiert – und die Unternehmen immer wieder Mechanismen finden, diese zu umgehen. Der einzige erfolgversprechende Weg ist, möglichst viele Arbeitnehmer umfassend und kontinuierlich weiter zu qualifizieren, um möglichst breite Schichten zu wertvollen Ressourcen für die Wirtschaft zu machen. Das bringt nicht nur Produktivitätsfortschritte – und damit mehr Spielraum auch für die Bezahlung der eigenen Mitarbeiter –, sondern sorgt gleichzeitig für eine Knappheit von Ressourcen bei den einfachen und derzeit häufig sehr schlecht bezahlten Tätigkeiten und damit für steigende Löhne am unteren Ende der Lohnskala. Ganz ohne Staatseingriff wohlgemerkt. 

Diese Bildungsleistung, die in Zeiten großer Loyalität und lange anhaltender Arbeitsbeziehungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern maßgeblich auf der betrieblichen Ebene geleistet wurde – und inzwischen eben immer weniger geleistet wird – wäre das richtige Betätigungsfeld für moderne Gewerkschaften mit einem zukunftsfähigen Leitbild. Wer sonst soll in einigermaßen strukturierter Form die Idee des lebenslangen Lernens in Angebote umsetzen? Denkt man dieses Modell weiter, kommt man auch recht schnell zur Erkenntnis, dass hier der Grundstein für eine liberale Antwort auf die Idee des „Bedingungslosen Grundeinkommens“ liegen kann. Denn dieses beschreibt zwar durchaus richtig die zunehmende Herausforderung von fragmentierten und mit Lücken versehenen Berufslaufbahnen, weiß als Antwort aber auch wieder nur staatliche Subventionierung anzubieten.

Derzeit befinden sich viele Gewerkschaften noch in einer Schockstarre, weil ihnen die Antworten ebenso fehlen, wie der Politik. Das sorgt dafür, dass sie eine Politik betreiben, die maßgeblich darauf ausgerichtet ist, den bestehenden Mitgliedern den Zwang zum Wandel möglichst bis zur Rente vom Leibe zu halten. Das ist in dieser Form nicht generationengerecht. Vor diesem Hintergrund ist Kritik an der Gewerkschaftspolitik durchaus angebracht. Allerdings muss sie, schon aus Eigennutz, konstruktiv sein. Wer eine liberale Gesellschaft will, in der der Staat nicht von Intervention zu Intervention springt, braucht die Gewerkschaften als starken Gegenpol zu den Arbeitgebern. Und wer will, dass die Menschen in Deutschland und Europa ohne jeden Tag in Zukunftsangst zu leben ihre Potenziale entfalten können und unseren gemeinsamen Wirtschaftsraum damit wetterfest zu machen, braucht moderne, flexible, kreative Gewerkschaften, die auf den Einzelnen vertrauen.

Zuerst erschienen 2012 im "jung + liberal", der Mitgliederzeitschrift der Jungen Liberalen Deutschland.

Sonntag, 22. September 2013

Christian Lindners Verantwortung

Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die FDP den Sprung in den Bundestag verpasst. Ein Parlament ohne liberale Partei ist ein Parlament, in dem etwas fehlt. Allerdings scheint der Wähler es ähnlich gesehen zu haben, wie ich: die FDP in ihrer jetzigen Verfassung ist höchstens das Zerrbild einer liberalen Partei - und somit für viele entbehrlich.

In der Stunde der Niederlage gibt es allerdings durchaus auch positive Aspekte. Zunächst einmal ist ohne FDP auch Frank Schäffler nicht im Bundestag vertreten. Wenn es auch die AfD nicht schafft, fehlen somit die Scharfmacher im Parlament, die mit einer libertär-konservativen bis rechtspopulistischen Agenda gegen alles hetzen, was ihnen nicht national genug ist. Noch dazu werden nun endlich all diejenigen FDP-Politiker aus dem Amt gespült, die nie seit 1998 wirklich weiter gedacht haben, als die Liberalen weiterhin als liberal-konservative Mehrheitsbeschafferin für eine schwarz-gelbe Mehrheit zu positionieren. Eine Partei als Hure einer anderen, das braucht kein Mensch mehr - so deute ich die missglückte Zweitstimmenkampagne der FDP. Und ich gebe zu, dass mich das selbst wundert.

Mit dieser Ausgangslage ist ein Neuanfang möglich. Ein Neuanfang, für den Christian Lindner stehen muss. Diesmal wird er nicht darum herumkommen, die Verantwortung an vorderster Front zu übernehmen. Ich habe schon vor längerer Zeit eine Spaltung der FDP ins Spiel gebracht. Dazu ist es nun gekommen, denn mit der AfD gibt es faktisch eine Rechtsabspaltung der FDP - das werden sicher auch die Wählerwanderungsuntersuchungen zeigen. Somit gibt es für den Rest der FDP nur einen Weg: Endlich zurück in die Mitte, weg aus der Geiselhaft der Union, hin zur ursprünglichen klar pro-europäischen Position. Und dafür steht glaubwürdig vor allem Christian Lindner.

Wachsweiche Positionen, mit denen man es allen Recht machen will, sorgen dafür, dass einen niemand mehr braucht. Das hat die FDP in den letzten vier Jahren nicht begreifen wollen, obwohl es ihr oft genug zugerufen wurde. Nun lernt sie es auf die härteste Art und Weise...

Sonntag, 3. März 2013

(Keine) Alternative für Deutschland

Hans-Olaf Henkel scheint endlich angekommen. Nachdem er vor anderthalb Jahren noch zur Unterwanderung der FDP aufrief (ohne allerdings selbst beizutreten) und sich dann den Freien Wählern zuwandte, hat er sich jetzt mit vielen anderen alten Männern aus der Anti-Euro- und Anti-Europa-Szene entschieden, mit der „Alternative für Deutschland“ zur Bundestagswahl 2013, spätestens aber zur Europawahl 2014 anzutreten. Nun muss man sich alleine schon aufgrund des Altersschnitts fragen, wo denn der Zukunftsentwurf der Partei liegen soll. Die Unterstützerliste ist nämlich gespickt mit Männern jenseits der 60 oder 70, deren politische Zukunft irgendwann in den 80ern oder 90ern schon wieder aufgehört hat. Frauen und Vertreter jüngerer Generationen fehlen fast komplett (wegen Missverständnisgefahr angepasst). Aber das wäre zu einfach. Spannender finde ich da schon die Frage, wieso lauter 70-jährige heute den Status Quo beklagen, den sie selbst über Jahrzehnte mitgestaltet haben. Und noch mehr, mit welcher Begründung sie glauben, dass gerade sie jetzt die richtigen Antworten wüssten, die sie in der Vergangenheit nachweislich nicht hatten. 

Ein Blick auf das Ziel der Partei, dass auf der Seite der „Wahlalternative 2013“ nachzulesen ist, macht deutlich: Um Antworten geht es auch gar nicht, sondern um Ideologie. Drei Punkte werden überhaupt nur formuliert, aber wichtig ist eigentlich nur das klare Ziel eines Austritts aus dem Euro. Dafür, und jetzt wird es spannend, wolle man mit einer politischen Partei kooperieren, die die eigenen Ziele teile. „Alle anderen politischen Meinungsverschiedenheiten sind angesichts der heutigen Herausforderungen unbedeutend.“ Wenn man letzteren Satz ernstnimmt, dann kommen verschiedene hochseriöse Parteien in Frage. Die Freien Wähler wollen wohl nicht, also bleiben die Partei der Vernunft (PdV), die „Freiheit“, „PRO“ und solche lustigen Kräfte wie die NPD und BüSo. Andere (gemäßigte) Kräfte, die im Wahlprogramm einen Austritt aus dem Euro stehen hätten, fallen mir erst einmal nicht ein. 

Bei der PdV darf man davon ausgehen, dass Parteichef Janich, der sich als Alleinunterhalter inszeniert und reichlich Bücher verkauft, kein Interesse daran hat, zukünftig im Schatten des noch größeren Anti-Euro-Bücherverkäufers Hans-Olaf Henkel zu stehen. Die „Freiheit“ und PRO haben ein ganz klar anti-muslimisches Profil, die NPD ein ausländerfeindliches und die BüSo steht in dem Ruch, antisemitische Tendenzen zu dulden. Aber wie gesagt: politische Meinungsverschiedenheiten auf anderen Feldern sollen ja keine Rolle spielen, da kann man sich eigentlich auch ohne weiteres mit diesen Kräften zusammenschließen. Zumal einige der Protagonisten der „Alternative für Deutschland“ in diese Richtung sowieso wenig Berührungsängste zeigen. 

Karl-Albrecht Schachtschneider ist gern gesehener Gast bei „PRO Köln“ und der FPÖ. Auch mit Parteigründungen kennt er sich aus, war er doch am Anfang beim Bund freier Bürger dabei, der später vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurde. Auch in SPD und CDU war er schon Mitglied, aber das war sicher nur, um Erfahrungen zu sammeln. Wilhelm Hankel publiziert ohne Berührungsängste auch einmal in der rechtsextremen „National-Zeitung“ oder BüSo-nahen „Neuen Solidarität“, Uwe Woltemath, ehemaliger FDP-Fraktionschef in Bremen, der danach schon eine andere Wahlalternative mitbegründet hat, scheint eher auf der Suche – vielleicht vor allem nach einem ordentlichen Abgeordnetengehalt.

Die einschlägigen Seiten wie PI-News und Deutschland.NET jubeln über diesen Zusammenschluss. Das ist wenig überraschend. Sorgen müssen sich wohl vor allem die anderen rechten Kleinstparteien, aber auch Union und FDP machen. Vor allem in der CSU (sowieso) und in der FDP rund um Frank Schäffler haben sich Kräfte gesammelt, die offen für eine reine Anti-Euro-Partei scheinen. Schäffler selbst dürfte sich über die Pläne seiner "Freunde" weniger freuen, denn er steht schon auf einer Wahlliste, nämlich der der FDP in NRW und muss bei einem Erfolg der "Alternative" um seinen Wiedereinzug - und sein Alleinstellungsmerkmal im Bundestag - bangen. Es wird spannend sein, die Reaktion der angegriffenen Parteien auf die "Alternative für Deutschland" zu beobachten. Sucht man die inhaltliche Herausforderung oder biedert man sich an? Oder löst sich die Geschichte zumindest mit Blick auf die Bundestagswahl schon wieder in Wohlgefallen auf? Ich hoffe auf Letzteres, denn ich sehe in der "Alternative" eine Bewegung, die zurück will in eine Zeit, die endgültig vorbei ist. Nationales Denken in einer globalisierten Welt sehe ich als Angriff auf das Lebensglück der jüngeren Generation. Dagegen gilt es alle Kräfte zu mobilisieren.

Freitag, 8. Februar 2013

Die FDP und der Rassismus

"Rösler rassistisch beleidigt" titelt heute eine große deutsche Zeitung. Wahrscheinlich würde diese Schlagzeile jeden Tag passen, denn ohne es genau zu wissen vermute ich, dass Philipp Rösler, wie jeder andere Mensch in Deutschland, der in der Öffentlichkeit steht und es dabei wagt, fremdländisch auszusehen, tagtäglich mit rassistischem Müll befeuert wird. Deutschland hat ein Rassismus-Problem. Das beschränkt sich nicht auf Ränder der Gesellschaft, sondern ist auch in einem nicht unwesentlichen Teil der Mitte zu finden. Und die Art und Weise, wie über Sarrazins-Thesen, die Tilgung des Wortes "Neger" aus Kinderbüchern oder über die Euro-Krise debattiert wird, lässt vermuten, dass wir gerade vor einer Renaissance eines offenen Rassismus aus der Mitte stehen, der natürlich vorgibt, nicht rassistisch zu sein, sondern sich gegen die so genannte "Political Correctness" zu richten. Das macht ihn allerdings nicht weniger gefährlich, eher im Gegenteil. 

Jörg-Uwe Hahn nun zu unterstellen, er habe sich rassistisch geäußert, halte ich für mehr als seltsam. Aber wenn die FDP zeigen will, dass es ihr um eine Debatte um Alltagsrassismus geht, dann hätte ich einen Vorschlag, wie sie die Ernsthaftigkeit dieses Ansinnens beweisen kann. Denn auch in der FDP gibt es, wie leider in jeder Partei, Menschen mit rassistischem Gedankengut. Und eines dieser Exemplare, dass bei Facebook unter dem Pseudonym "Liberale Arbeitnehmer Sachsen" zu finden ist und nach meiner Recherche Stadtratsmitglied und Mitglied des Kreisvorstandes in Chemnitz ist, hat vor einigen Wochen folgendes Zitat gebracht: 

Lieber Christoph Giesa, meine Frau ist Filippina und wundert sich über ihre Argumentation. Auf den Philippinen sei es völlig normal "Weiße" als "Langnasen" zu bezeichnen und diverse Dienstleistungen kosten sie auch mehr als den Einheimischen trotzdem beschwert sich von den "Weißen" die dorthin ausgewandert sind niemand ob diesem klaren rassistischen Verhaltens. Denn der Weiße hat ja die Freiheit dorthin zu gehen, wo er herkam, weil man ihn dort nicht diskriminiert. Ich persönlich denke auch, dass man sich schon irgendwie in die Gesellschaft in die man kommt einleben muss. Sie nimmt einen doch auch auf. Stellen Sie sich bitte vor : ich klingel bei Ihnen an der Tür und sag ich will mal auf Ihrer Couch sitzen. Sie machen dass und nun fange ich an mich darüber zu beklagen, dass mir Ihr Teppich nicht gefällt, weil dort wo ich herkomme die Farbgebung einfach eine Beleidigung darstellt und die Möbel beleidigen mich auch und müssen deswegen ersetzt werden. Da ich dies laut sage kommt nun Ihr Nachbar und ist auch der Meinung das es ja wohl so nicht gehen kann, dass Sie in Ihrer Wohnung Sachen haben, die mich beleidigen. Wir haben uns nicht ausgesucht, dass wir hier geboren sind genauso wenig wie unser Afrikaner es sich ausgesucht hat in Afrika geboren zu sein. Ich kenne durchaus rassistischere Länder als Deutschland in Europa. Wir müssen uns nicht schämen !

Damit sagt er, wenn man es auf den Vizekanzler beziehen möchte, nichts anderes als: Wenn es ihm hier nicht gefällt, dann soll er nicht den Mund aufmachen und versuchen, es zu ändern, sondern dahin zurückgehen, wo er hergekommen ist. Mehr Rassismus geht nicht. Und daran ändert auch eine Beziehung mit einer Ausländerin nichts. Dem Herren scheint alleine der Gedanke fremd, dass es Deutsche geben kann, die rot, gelb, braun oder schwarz sind und die nicht dahin zurückgehen können, wo sie hergekommen sind, weil sie in Hannover, Frankfurt, München oder Chemnitz geboren wurden oder - wie Philipp Rösler - schon als Baby adoptiert wurden. Ich meine: Für solche Gedanken sollte in einer liberalen Partei kein Platz sein. Wer sich über Alltagsrassismus beschwert, muss vor der eigenen Tür anfangen zu fegen. Ich bin gespannt, ob sich jemand findet, der sich des Themas annimmt.

Montag, 28. Januar 2013

Emanzipation geht uns alle an

Es ist schon einige Jahre her, als ich als externer Berater plötzlich anzügliche Mails von einem Auftraggeber bekam. Es stand gerade die Entscheidung über eine lukrative Verlängerung des Projektes an, die ich natürlich nicht gefährden wollte, gerade auch, weil es mein erster Job war. Andererseits wusste ich nicht, wie ich weiterhin professionell mit dem Manager zusammenarbeiten sollte, der mir in unwürdiger Art und Weise nachstellte. Meine Chefin, die ich ins Vertrauen zog, lachte mich aus. Ich solle mich nicht so anstellen, als Frau sei das ganz normal und man könne das in Teilen auch für sich nutzen. Kurz danach kündigte ich. Das Erlebnis hat mich aber sensibilisiert. Diskriminierung, Sexismus, Belästigung – all das sind Dinge, die jeden von uns treffen können. 

Deutschland ist ein aufgeklärtes Land, in dem Diskriminierung inzwischen zu rechtlichen Konsequenzen führen kann. Es gibt allerdings Graubereiche, gewissermaßen Schutzräume für Intoleranz und Diskriminierung, die juristisch nicht gestaltbar sind. Das sind die Gespräche zwischen Chefs und ihren Angestellten, Auftraggebern und Auftragnehmern, aber auch zwischen Politikern und Journalisten, in denen Dinge gesagt werden können, die die Idee einer Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtig tatsächlich gleichberechtigt sind, unterlaufen. 

Ein ehemaliger Ministerpräsident vertraute mir in einer weinseligen Runde einmal an, er vermute, er und seine Amtskollegen hätten alle Probleme mit der Justiz bekommen, wenn damals schon die Transparenz geherrscht hätte, die heute herrsche. In eine ähnliche Richtung geht die Beschwerde eines Einkäufers, der früher große Deals gerne auf Einladung von Lieferanten in Bordellen abschloss, was nicht mehr möglich sei, seitdem auch Frauen auf den Einkaufsreisen mit dabei seien. Auch wenn beide das vermutlich nicht unbedingt so meinten, beschreiben die Aussagen doch eine positive Entwicklung. Die Graubereiche sind offensichtlich kleiner geworden. 

Die Emanzipation, das kann man sagen, hat in den vergangenen Jahrzehnten dieses Land verändert. Und damit ist nicht nur die Emanzipation von Frauen gemeint, sondern genauso die anderer gerne diskriminierter Gruppen wie Ausländer, Deutsche anderer Hautfarbe oder Homosexuelle. Nichtsdestotrotz muss man Emanzipation als Prozess verstehen, der niemals beendet ist. Es ist wichtig, dass der Gedanke nicht nur in den professionellen Köpfen von Personalchefs und Pressestellen verankert ist, sondern dass er auch im politischen und wirtschaftlichen Alltagsgeschäft seine Wirkung entfaltet. Dazu gehört, dass es eine Öffentlichkeit gibt, die sehr genau hinschaut. Dazu gehört ebenso, dass der Herrenwitz, wenn überhaupt, ins Private verbannt wird und in einem öffentlichen Kontext Widerspruch statt Lachern erntet. Es braucht einen neuen, starken Bekennermut derjenigen, die unter alten Denkmustern leiden. Und es braucht die Erkenntnis, dass es durchaus nicht nur junge Frauen oder Ausländer, sondern jeden von uns treffen kann. 

Emanzipation kann und darf nicht auf formale Rechte beschränkt sein, sondern muss alle Teile der Gesellschaft durchdringen. Die Verantwortung liegt nicht bei Behörden, sondern bei jedem einzelnen von uns. Und diese Position müsste eigentlich auch Rainer Brüderle unterschreiben können, denn sie ist urliberal. Mit einer Entschuldigung und einem klaren Bekenntnis zur Emanzipation könnte er der Diskussion sogar noch einen positiven Spin geben. Dass er sich dazu nicht äußert, dass er sich einem klaren Bekenntnis verweigert, spricht nicht für ihn. Was er damit nicht erreichen darf, ist, dass die Debatte im Sande verläuft. Denn sie hat gerade erst begonnen. Sie am Laufen zu halten, ist Aufgabe all derjenigen, die das Thema für richtig und wichtig halten. Die #aufschrei-Diskussion auf Twitter darf nur der Anfang sein…

Donnerstag, 24. Januar 2013

Sexismus, dokumentiert...

Rainer Brüderle soll einer Journalistin zu nahe getreten sein, die das dann ein Jahr später in einem Beitrag für den "Stern" verarbeitet. Das Thema schlägt hohe Wellen und wird von allen Beteiligten zu ihren Zwecken interpretiert. Fest steht, dass unabhängig von Rainer Brüderle und der Geschichte von Dreikönig 2012 Sexismus im politischen Betrieb ein Problem ist. Und darüber hinaus. Wer das bestreitet, hat keine Ahnung oder sieht Sexismus insgesamt nicht als Problem an. Hier, wie auch beim Kampf gegen die Tilgung des Wortes "Neger" aus Kinderbüchern zu glauben, man müsste die Freiheit verteidigen und gegen die vermeintlich bevormundende "Political Correctness" ins Felde ziehen, lässt mich nur noch frustriert mit dem Kopf schütteln.

Was die Diskussion an Widerlichkeiten hervorbringt, will ich hier in Auszügen dokumentieren. Weitere Fundstellen können gerne in den Kommentaren hinterlegt werden. Vielleicht regt es ja den einen oder anderen, der die Sache grundsätzlich verharmlost, zum Nachdenken an. 

Gefunden bei FDP Liberté:

Wiedermal eine Frau mit Persönlichkeitsstörung oder Aufmerksamkeitsbedürftnis^^

Cicero hat doch festgestellt, dass die FDP-ler am meisten Sex haben. War die Dame des Stern wohl mit dem Flirt überfordert!

boah.. .er hat sie angeguckt.. .nachts um 1 hat er sie angeguckt, die arme Journalistin, die auch nach Mitternacht natürlich nur ihren Job im Kopf hatte. ... Ich hoffe, der Stern hat nen hauseigenen Betreuer, der in solchen Fällen das seelische Leid etwas lindern kann. .. .*ironie-ende*

Das ist alles relativ sinnlos, weil die Leujte, die sowas stört, ohnehin nicht FDP, sondern Grün oder irgendein anderes Rot wählen.

stört sich denn niemand an den anzüglichen Kommentaren, die die armen Kühe ertragen mussten ....? wo ist der BUND wenn man ihn mal braucht?

Laura Himmelreich hat sich das Prädikat "Ekelfeder" redlich verdient. Und wenn man den Artikel mal genau liest, hat sich Brüderle im Vergleich zu den meisten seiner Kollegen - besonders, wenn sie von der SPD kommen - wie ein vollendeter Gentleman verhalten, selbst wenn Frau Fimmelreich die Wahrheit sagen *sollte*.

Weil in den Strategiekonferenzen aller großen Medienhäuser kriminelle Operationen vorbereitet und geplant werden. Wers nicht glaubt, bewerbe sich einfach als Praktikant und spitze mal 14 Tage die Lauscher. Diese Journalistentussi will zudem befördert werden und dafür braucht sie einen Verkaufsschub, wenigstens für 2-3 Tage. Dann muss sie wenigstens nicht mit dem Chefredakteur in die Kiste. Ich meine, sie kennt das ja zur genüge, irgendwann hat sie einfach alle durch. Da ist diese Tour verständlich

Gefunden auf Welt.de:

...es hat was von einem Zimmermädchen... Die Frage ist doch, wieso kann sich eine erfolglose Journalistin nicht auf andere Schlagzeilen stürzen um ins Licht zu kommen? Oder ärgert sie sich nur, dass außer einem alten Mann niemand sonst Interesse an ihrer Oberweite hat. Diese Frau ist einfach nur peinlich und auch wenn mir persönlich die Parteizugehörigkeit des 67 jährigen Opfers egal ist, hat er es nicht verdient als Portemonnaie-Füller für Mrs. Self Impotant herangezogen zu werden.

Gefunden auf Zeit.de:

Ja ja, dieser Feminismus mit Schaum vorm Mund ist ein rechter Segen für unsere Gesellschaft.

Gefunden auf Spiegel.de:

Sexismus ist kein Problem, sondern ganz einfach menschlich. Die Debatte darüber ist albern und wichtigtuerisch und so sinnvoll, wie der Versuch, mit einem Zahnputzbecher den Atlantischen Ozean zu leeren. Es scheint als wollten sich manche Journalisten darüber profilieren, indem sie beim derzeitigen Modethema "political correctness" ganz vorn mitmischen. Und Frauen, die mal einen Spruch im Suff nicht vertragen, kann ich nicht ernst nehmen.


Der Mann ist dabei der Drängende, die Frau eher die Auswählende. Wenn Sie den angeprangerten Sexismus per Gesetz oder per Erziehung unterdrücken, könnte es sein, dass die Menschheit im Extremfall ausstirbt, da keiner mehr das andere Geschlecht provoziert und versucht, Verbindungen herzustellen - Frauen tun dies ja bekanntlich eher nicht - und das ist nach Ihrer Ansicht vermutlich auch "normal". Im Übrigen: Sexismus ist nicht unser aller Problem, es ist Ihres

Sonntag, 20. Januar 2013

Landtagswahl in Niedersachsen – Eine kleine Wahlanalyse

Die Wahllokale in Niedersachsen sind geschlossen. Wer regieren wird, wissen wir noch nicht. Allerdings gibt es schon einige Erkenntnisse, auf die es sich zu blicken lohnt.


Zunächst einmal zur Opposition: Das Ergebnis der SPD in einem ihrer Stammländer ist sicher nicht überragend, allerdings auch nicht halb so schlimm, wie die Umfragen auf Bundesebene. Die Ausgangslage ist der im Bund dabei gar nicht unähnlich gewesen: Ein beliebter Ministerpräsident, der mit der FDP regiert, die in den Umfragen schwächelte und auf der anderen Seite ein klar zusammenstehendes rot-grünes Lager. In Niedersachsen wird es eng zwischen beiden Lagern, in Berlin würde es nicht eng werden, wäre heute Bundestagswahl. Der Unterschied liegt in einem profilierten, soliden und für seine Arbeit geschätzten Spitzenkandidaten der SPD in Niedersachsen und einem katastrophalen Spitzenkandidaten auf Bundesebene. Die SPD hat Potenziale – die Peer Steinbrück aber nicht abrufen kann. Das sollte zum Nachdenken anregen.

Die FDP lebt. Warum sie lebt, ist dabei recht irrelevant. Unabhängig von dem, was im Herbst bei der Bundestagswahl passieren wird, ob die FDP es schafft, oder nicht, wird sie in wichtigen Flächenländern wie NRW, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie im Stadtstaat Hamburg in ordentlicher Mannstärke in den Parlamenten sitzen. Damit wäre selbst eine außerparlamentarische Legislatur nicht das Todesurteil für die Partei. Ganz unabhängig davon hat die FDP die Frage, wo sie langfristig hin will, immer noch nicht beantwortet. Orientiert sie sich an den Wahlsiegern, wird sie allerdings nicht darum herum kommen, deren gemäßigt Kurs zu folgen und sich klar gegenüber libertären, klassisch-liberalen und anti-europäischen Strömungen abzusetzen. Einen "Liberalen Aufbruch" von rechts braucht die FDP definitiv nicht. Lindner und Kubicki stehen für einen „mitfühlenden Liberalismus“, Birkner hat unter anderem zum Thema Mindestlöhne eine deutlich gemäßigtere Position abgegeben, als sie von Teilen der Partei gefordert wurden und musste dafür Schläge einstecken. Nicht trotzdem, sondern gerade weil die genannten Personen nicht radikal, sondern gemäßigt, in alle Richtungen offen und reflektiert aufgetreten sind, wurden sie gewählt. Für eine liberale Partei der Lindners, Kubickis und Birkners gibt es ein Wählerpotenzial deutlich jenseits der 5%. Der einzige Landesverband, der in den letzten Jahren auf einen deutlich radikaleren Kurs abgebogen ist, war Berlin. Und die landeten bei 1,8%.

Damit ist auch klar, was Philipp Röslers Aufgabe ist: Endlich ein klares liberales Profil zu entwickeln. Das Irrlichtern der ersten Amtszeit als Parteivorsitzender muss ein Ende haben. Dass jetzt allerdings noch irgendjemand auf die Idee käme, Rösler durch Brüderle ersetzen zu wollen (letzterer ist mit seiner Landes-FDP übrigens aus dem Landtag geflogen), ist nicht zu vermuten. Der ganzen Partei sei allerdings mitgegeben: Der Wahlerfolg darf nicht faul machen, die Umfragen auf Bundesebene sollten Warnung genug sein. Angela Merkel ist weniger emotional gebunden, als es David McAllister war und neigt nicht dazu, eine Zweitstimmenkampagne zugunsten der FDP zu fahren.

Die Linke findet im Westen nicht statt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ich würde sie auch im Bundestag nicht vermissen. Die Piraten wiederum müssen jetzt das lernen, was sie von den anderen Parteien immer gefordert haben (und weshalb sie eine Zeitlang gewählt wurden): Demut und inhaltliche Arbeit. Es wäre schade, wenn die Piraten so schnell wieder komplett von der Bildfläche verschwinden würden, weil sie alleine durch ihre Existenz den etablierten Parteien Beine gemacht haben. Dass sie so schlecht dastehen, haben sie allerdings alleine sich selbst zuzuschreiben. Solange sie das nicht verstehen, solange sie es nicht schaffen, rechte und linke Spinner zu isolieren, solange sie es nicht schaffen durchdachte Inhalte zu produzieren, wird es nicht besser werden. Klingt wie die FDP, sind aber die Piraten. Wird ihnen nicht gefallen, ist aber die Wahrheit. Marketing alleine ist eben keine Politik. Da hilft auch kein Shitstorm.

Samstag, 19. Januar 2013

Von Negern und anderen Wilden

Es gibt immer wieder Debatten, die mich fassungslos zurücklassen. Und eine davon ist die, um den Gebrauch des Wortes „Neger“. Diejenigen, die sich dafür einsetzen, dass das Wort auch weiterhin unverändert in Büchern wie „Die kleine Hexe“ und „Pippi Langstrumpf“ verwendet werden soll, argumentieren damit, dass es doch früher ganz normal war, diesen Begriff zu nutzen. Diesen Wortführern sei gesagt: „Neger“ ist seit mehr als zweihundert Jahren nie etwas anderes gewesen, als eine rassistische Herabsetzung. Und daran ändert sich auch nichts dadurch, dass man es eine Zeitlang (aus Unwissenheit oder Überzeugung) als normal empfunden hat, dieses Wort zu benutzen. Denn, und das muss man so hart formulieren, in der Zeit, in der dieses Wort als normal empfunden wurde, war auch der Glaube an die rassische Überlegenheit der „Kaukasier“ über die anderen Völker, insbesondere „die wilden Neger“ aus Afrika normal. Diese Zeiten sind für die meisten Menschen Gott sei Dank vorbei. Und daher gibt es auch keinen Grund, die diskriminierende Sprache von damals als schützenswert zu erachten. 

Kant etwa, der große Philosoph, schaffte es niemals weit aus Königsberg heraus. Über „die Negers von Afrika“ allerdings hatte er eine klare Meinung, nämlich dass diese „von der Natur kein Gefühl“ hätten, „welches über das Läppische stiege“. Auch Hegel glaubte, dass man, um den „Neger“ richtig verstehen zu können „von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt“ abstrahieren müsse. Beim Neger sei das Charakteristische, dass sein Bewusstsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen sei. Noch ein wenig „wissenschaftlicher“ formulierte es der Göttinger Professor Christoph Meiners: „Ganz unten, dem Tier am nächsten, steht der Neger. Knapp über ihm rangiert der braune, rote und gelbe Mensch, allesamt Exemplare der mongolischen Rasse. Sodann folgen die hellhäutigen Kaukasier, untereilt in minderwertige Slawen und höherwertige Kelten, deren edelste Sorte die Germanen, insbesondere die Teutschen, sind.“ 

Wer also heute glaubt, mit dem „Neger“ die Freiheit und die deutsche Sprache schützen zu müssen, kämpft für eine Freiheit zur Beleidigung und für die Bewahrung des Deutschen, wo es diskriminierend und rassistisch abwertend ist. Das sollten sich auch die Feuilletonisten, die sich zu diesem Thema in Teilen ziemlich weit - und von ihrem Bauchgefühl geleitet – aus dem Fenster gelehnt haben, einmal vor Augen führen. Sprache verändert sich. Und das ist auch gut so. Oder sollen wir in Zukunft auch wieder von der Herrenrasse und vom Untermenschen sprechen, nur weil das auch mal irgendwann in Ordnung war? Der „Neger“ soll aus den Büchern, nicht nur aus den Kinderbüchern, verschwinden. Dass es ihn einmal gab, ist hinreichend dokumentiert, denn es fordert ja niemand, alte Versionen der „Kleinen Hexe“ zu verbrennen. Wer sich jetzt genau darüber so echauffiert, sollte sich anstattdessen lieber überlegen, was er oder sie gegen den in Deutschland immer noch hochpräsenten Alltagsrassismus tut. Darüber könnten die Feuilletonisten doch mal schreiben. Denn das ist wirklich ein Problem, über das es sich aufzuregen lohnt.

Donnerstag, 3. Januar 2013

Buchprojekt – Zidov Akuma: „Ansonsten wäre ich wohl tot!“

Vor einigen Tagen habe ich an dieser Stelle angekündigt, ein paar Worte über meine neuen Projekte zu verlieren. Et voilà… Konkret arbeite ich derzeit gemeinsam mit unterschiedlichen Co-Autoren an zwei (sehr unterschiedlichen) Buchprojekten. Das erste wird rund um den September 2013 im Verlagshaus Orell Füssli erscheinen und ist die Autobiografie des Schweizer Thaibox-Stars und Ex-Knackis Zidov Akuma, bei der ich diesen unterstütze, ohne am Ende aber namentlich in Erscheinung zu treten. Was man davon erwarten kann? Hier ein paar erste Eindrücke… 

Zidov Akuma ist heute 31 und lebt auf der thailändischen Insel Koh Samui. Was er in drei Jahrzehnten erlebt hat, reicht normalerweise gleich für mehrere Leben. Aus einem Arbeiterhaushalt stammend eckte er schon früh immer wieder an und stellte Eltern und Lehrer vor unlösbare Aufgaben. Nach einer abgebrochenen Lehre als KFZ-Mechaniker rutschte er immer tiefer in die kriminelle Szene in Zürich ab und wurde immer wieder wegen verschiedener Delikte verhaftet. Schlägereien gehörten genauso zum Alltag wie rauschende Feste mit Nutten, Koks und allem was sonst noch dazu gehörte. Bei dem Versuch, rund um das Züricher Techno-Festival Streetparade Falschgeld unter die Leute zu bringen, wurde Zidov Akuma gemeinsam mit seinen Komplizen zufällig erwischt und landete für anderthalb Jahre hinter Gitter. 

Schon vor Haftantritt hatte er sich allerdings geschworen, sein Leben radikal zu ändern, um seine Eltern nicht mehr unglücklich zu machen. Und diesen Vorsatz setzte er dann schonungslos um. Wog er zu Beginn noch 93 Kilo, verließ er das Gefängnis mit seinem Idealgewicht von 67 Kilo. Das erreichte er durch tägliches Seilspringen und regelmäßiges Training in der thailändischen Nationalsportart Muay Thai. Kaum aus dem Gefängnis entlassen kaufte er sich ein One-Way-Ticket nach Bangkok, um dort mit 1000 Schweizer Franken in der Tasche und ohne Englisch- oder Thai-Kenntnisse ein neues Leben zu beginnen. Nach einigen Wochen in den Slums von Bangkok verschlug es ihn in ein Trainingscamp im Nordosten Thailands, in der Nähe der laotischen Grenze, wo er intensiv trainierte und sich für 10 bis 15 Euro Gage durch die Provinzstadien kämpfte. Seinem Ziel, seinen Lebensunterhalt mit dem Thaiboxen bestreiten zu können, kam er nur langsam nahe, bis er eines Tages in die international von über 400 Millionen Zuschauern verfolgte Reality Show „The Contender Asia“ hineinrutschte. Dort traten 16 der besten Thaiboxer der Welt gegeneinander an, wohnten in einem Loft zusammen und wurden auch außerhalb des Rings von der Kamera begleitet. 

Als nur noch sechs Kämpfer verblieben waren, unterlag er in einem historischen Kampf dem deutlich schwereren achtfachen Weltmeister John Wayne Parr erst nach dem siebten Niederschlag und wurde spätestens damit zum absoluten Publikumsliebling. Nach „The Contender“ tourte Zidov auf Einladung von Veranstaltern um die ganze Welt und kämpfte knapp drei Jahre lang im Schnitt alle zwei Wochen. Heute lebt er auf Koh Samui und konzentriert sich derzeit darauf, als Trainer seinem brasilianischen Schützling Thiago Teixeira, derzeit die Nummer 15 der Welt, das Handwerkszeug für seinen ersten Weltmeisterschaftskampf beizubringen. Seine Tochter, die er mit einer singapurianischen Sängerin gemeinsam hat, schickt sich derweil an, den Namen ihres Vaters noch in den Schatten zu stellen und ist derzeit das erfolgreichste Kindermodel Asiens. 

Zidov hat eine Menge erlebt – und demnach auch eine Menge zu erzählen. Dazu gehört Grausames genauso wie Lustiges, Packendes genauso wie Erschreckendes. All das schreiben wir derzeit auf und versuchen vor allem deutlich zu machen, wie man sich am eigenen Schopf und mit viel Willen auch aus den schwierigsten Situation wieder herausziehen kann. Muay Thai hat Zidov gerettet, sonst, da ist er sich sicher, wäre er wohl schon tot.

Solange das Buch nicht auf dem Markt ist, freuen wir uns allerdings auch jetzt schon über Unterstützung für die Facebook-Seite von Zidov Akuma. Und ansonsten heißt es: warten und freuen… ich verspreche, das Buch wird ein Schmankerl! :-) Hier noch ein kleines Video mit Bildern und Videos, die eine ganz gute Idee von Zidov geben: