Dienstag, 31. Juli 2012

Sarrazins Dolchstoßlegende


Am 17.7. erschien in der FAZ ein langer Gastbeitrag des Ex-Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin mit dem Titel „Geburtsfehler Maastricht“. Die Lesart des Artikels ist mit Blick auf die verschiedenen bisher erschienen Kommentare sehr unterschiedlich. Dass Sarrazin allerdings den europäischen Bundesstaat gefordert hätte, wie es die FAZ selbst deutete, darf nach Lektüre des Artikels guten Gewissens in Frage gestellt werden. Vielmehr enthält der Beitrag einige gut hinter intellektuellen Formulierungen und halb-ökonomischen Betrachtungen versteckte Anleihen an die nationalen Parolen der 20er Jahre des letzten Jahrtausends, die jeden aufmerksamen Leser aufschrecken sollten.

Thilo Sarrazin hat in den letzten Jahren wahrlich gelernt, wie man provoziert. Plakative Aussagen, knackige Buchtitel – seinen Job als Bundesbanker verlor er dadurch, auch seine eigene Partei will nicht mehr allzu viel von ihm wissen. Sein Artikel in der FAZ kommt da auf den ersten Blick recht zurückhaltend daher. Und vermutlich ist der erste, äußere Eindruck auch der Grund dafür, dass die wahrhaft gefährlichen Aussagen, die sich in dem Text finden, bisher kaum zu nennenswerten Diskussionen geführt haben. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte, dass die Thesen Sarrazins sehr ähnlich schon den politischen Diskurs vergifteten – und zwar in den Jahren der Weimarer Republik. 

Die virtuos verpackten und trotzdem radikalen Tabubrüche Sarrazins sind verschiedener Art. Der wohl heftigste ist die Unterstellung gegenüber Frankreich, das gemeinsam mit Deutschland immer der Integrationsmotor Europas war. So sei die Einführung des Euro „im Wesentlichen der Eitelkeit Frankreichs geschuldet“, dem die „starke D-Markt ein Dorn im Auge“ gewesen sei. Darüber hinaus habe „das unerklärliche Agieren Helmut Kohls 1990 bis 1992, der die Wirkungen einer gemeinsamen Währung überhaupt nicht überblickte“ den Weg für den Euro frei gemacht. Diese Darstellung erscheint nicht nur historisch wenig haltbar, wurden doch die Verträge damals sicher nicht zwischen gewitzten, wendigen und hinterlistigen Franzosen einerseits und einem tumben Pfälzer anderseits geschlossen. Das weiß, davon kann man vor dem Hintergrund seiner Biografie durchaus ausgehen, auch Thilo Sarrazin. Viel mehr ist die Darstellung, sollte sie denn unwidersprochen bleiben, der Einstieg in die Entwicklung eines neuen, nationalen Mythos, wie er zuletzt in der Diskussion um den Versailler Vertrag von 1919 entstand.

So vorsichtig man mit solcherlei Aussagen umgehen sollte, bleibt doch die Erkenntnis, dass die Analogien zu eklatant sind, um Zufall zu sein. Auf der einen Seite stehen da diejenigen, die sich durch die deutsche Kraft, sei es nun militärisch oder wirtschaftlich, bedroht fühlen und die daher einen „Schandvertrag“ entwerfen, mit dem die Deutschen klein gehalten werden können. Auf der anderen Seite sitzen die deutschen Demokraten, die die Bedingungen, sei es nun aus Naivität oder aus mangelnder Standhaftigkeit, weitgehend widerstandslos akzeptieren – und damit die Interessen des eigenen Volkes verraten. Genau wie die Gegner des Versailler Vertrages in ihrer Betrachtung auszublenden versuchten, dass das Deutsche Reich zuvor einen Krieg vom Zaun gebrochen – und verloren – hatte, der ganz Europa ins Verderben riss und man daher nicht in der Position war, die Regeln zu diktieren, versucht Sarrazin die Deutschen ebenfalls alleine als Opfer darzustellen, denen der Euro gewissermaßen untergeschoben wurde. Dass es gerade die Deutschen gemeinsam mit den Franzosen waren, die etwa den Stabilitätspakt nicht nur durchgesetzt, sondern auch wieder durch Bruch der Kriterien abgeschafft haben, verschweigt er in seinem Text, kaum überraschend, komplett. Auch ansonsten könnte man bei Sarrazin meinen, Deutschland hätte nicht mit am Tisch gesessen, als in den letzten Jahrzehnten die Weichen für Europa gestellt – und dabei unfraglich auch eklatante Fehler gemacht wurden. 

Solcherlei Details würden allerdings den Weg hin zu dem Ziel stören, das man hinter dem Text nach mehrmaligem Durchlesen vermuten muss: Sarrazin baut an einer neuen Dolchstoßlegende. Genau wie sich in den 20er Jahren des letzten Jahrtausends vor allem in nationalen Kreisen mehr und mehr die Mär durchsetzte, dass das deutsche Heer im Felde unbesiegt von den eigenen Politikern hinterrücks verraten wurde, suggeriert Sarrazin heute, dass die deutsche Wirtschaft, die ohne Euro weltweit wettbewerbsfähig war, durch die Einführung des Euro von der eigenen Regierung fahrlässig den südlichen Mitgliedsländern, die nichts als eine „Beschränkung der Wettbewerbsfähigkeit der nördlichen Mitgliedsländer“ zum Ziel hatten, zum Fraß vorgeworfen wurde.

Auch wenn Sarrazin an verschiedenen Stellen des Textes im Rückblick sicherlich nicht unrecht hat, die eine oder andere ökonomische Wahrheit ausspricht und selbst die weitere Integration Europas als einen Lösungsansatz nennt – wenngleich er ihn dann gleich wieder verwirft – muss man genau diese Teile als kalkulierten Teil eines insgesamt perfiden Spiels ansehen. Jeder Bemerkung, die man als halbwegs pro-europäisch werten kann, folgt eine weitere mit der Zielsetzung, den Euro als Ganzes oder einzelne Mitgliedsländer abzuqualifizieren und einer Rückabwicklung zumindest der Währungsunion das Wort zu reden. Dabei werden Vergleiche bemüht, bei denen man auch wieder davon ausgehen darf, dass einem Statistik-Freund wie Sarrazin deren Schrägheit durchaus bewusst ist. Dass er sie trotzdem nutzt, spricht dafür, dass hinter dem Text tatsächlich ein größeres Ziel steht.

 So stellt er etwa fest, dass diejenigen EU-Länder, die den Euro nicht eingeführt haben, seit Beginn der gemeinsamen Währung stärker gewachsen sind, als die Euroländer. Dass erstere dabei teilweise von einem deutlich niedrigen Durchschnittsniveau kommen – und in Teilen unter anderem deswegen den Euro nach den damals gültigen Kriterien gar nicht hätten einführen dürfen – verschweigt Sarrazin bewusst. Davon abgesehen würde der ehemalige Bundesbanker wohl auch nicht vorschlagen, den Kommunismus einzuführen, nur weil in China die Wachstumsraten in der letzten Dekade höher waren, als in Deutschland.

Auch die Betrachtung, dass eine gemeinsame Währung weder „eine notwendige oder gar hinreichende Bedingung für Frieden“ sei, ist nicht falsch. Allerdings widerlegt er ein selbst erfundenes Argument, denn in dieser Richtung hat sich in zumindest in letzter Zeit keiner der führenden Köpfe der deutschen Politik geäußert. Zwar sind solcherlei Schachzüge Teil des politischen Geschäfts und deshalb noch im Rahmen des üblichen. Was man allerdings fast schon als unanständig ansehen muss, ist der Vergleich der Eurozone mit den „Völkergefängnissen“ Jugoslawien und UdSSR, wo die gemeinsame Währung Kriege auch nicht zu verhindern wusste. Natürlich würde sich Sarrazin auf Nachfrage dagegen verwahren, es so gemeint zu haben, wie manche ihn nun verstehen. Die sich inzwischen allerdings wieder zunehmend formierenden Europagegner feiern Sarrazin im Internet allerdings für genau diesen Teil, fühlen Sie sich doch darin bestätigt, dass Europa auf dem Weg in eine „EUdSSR“ sei, was der Bundestag durch „Ermächtigungsgesetze“ ermögliche. Auch hier darf man getrost davon ausgehen, dass Sarrazin sich der Symbolik wohl bewusst war.

Einer der größten Fehler, die die Siegermächte nach 1918 machten, war der, einen zukünftigen Frieden auf dem Kontinent nicht als europäische Aufgabe, sondern als deutsche Bringschuld zu verstehen. Genau dieses Denken wurde im Versailler Vertrag manifestiert – was in Deutschland eine nationalistische Radikalisierung weiter Teile der Bevölkerung beförderte. Der Vertrag von Locarno, in dem die Auflagen 1925 gelockert wurden, kam zu spät, die Wirtschaftskrise bereitete den Weg ins deutsche und europäische Verderben. Thilo Sarrazin hat aus diesen Entwicklungen nichts gelernt, sondern setzt sich vielmehr bewusst an die Spitze einer wachsenden, revisionistischen Bewegung. Wer das Eintreten der Bundesregierung gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden mit historischen Völkerschlachten vergleicht und unterstellt, dass Frankreich und die anderen Südländer nur danach trachten würden, „die Nordländer“ dafür „zahlen zu lassen“, dass sie „den Kuchen essen und behalten“ können, der hat die Suche nach gemeinsamen Lösungen längst aufgegeben und steht für eine Renationalisierung des Denkens wie auch der Politik. Er stellt damit alle wichtigen Traditionslinien deutscher Politik nach dem letzten Weltkrieg in Frage, was durchaus einer breiteren Diskussion bedarf, als sie bisher geführt wurde. 

Dass Sarrazin dabei auch noch den Menschen in den südlichen Ländern in großen Teil unrecht tut, die derzeit mit Einschnitten und persönlichen Tragödien zu leben lernen müssen, wie wir sie uns kaum vorstellen können, bleibt da fast eine Randnotiz. An dieser Stelle zumindest kann man davon ausgehen, dass er es tatsächlich nicht besser weiß. Denn das wissen wir schon seit seinem ersten Buch: Sarrazin schreibt gerne über Menschen, zu denen ihm der persönliche Bezug fehlt und deren Lebenswirklichkeit er nicht kennt. Zumindest in dieser Hinsicht bleibt er sich treu.

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