Samstag, 31. März 2012

Was man von den Piraten erwarten darf – und was nicht

Seit dem Einzug der Piratenpartei in den Landtag im Saarland herrscht in den Medien (mal wieder) Alarmstimmung. „Wo bekommen wir einen Piraten für unsere Sendung her?“, scheint die Frage zu sein, die sich in sämtlichen Talkshow-Redaktion stellt. Und irgendeinen findet man dann auch irgendwie, egal ob der zum Thema der Sendung (oder zu dem, das sich in der Sendung entwickelt), dann auch etwas zu sagen hat. Das führt zu mitunter absurden Situationen und zu entsprechenden Diskussionen darüber, wie viel Ahnungslosigkeit in der Politik erlaubt ist bzw. wie deutlich man diese zur Schau stellen darf. Die BILD-Zeitung, wahlweise Zentralorgan gegen die da oben oder des Establishments, was nicht immer ein Gegensatz sein muss, hat schnell eine klare Meinung, ohne sich mit den Zwischentönen auseinanderzusetzen. Vor allem Christopher Lauer wird immer wieder zur Zielscheibe, sogar innerhalb der eigenen Partei. Das liegt daran, dass er zwar das ursprüngliche Ideal der Piraten wie kaum ein zweiter verkörpert – er verweist immer wieder darauf, dass nicht seine Meinung zählt, sondern die der Partei, er hält dem Politikbetrieb den Spiegel vor –, gleichzeitig aber als Abgeordneter inzwischen selbst Teil genau dieses Betriebs ist und Diskussionen mit Provokationen bis an die Grenze zur Arroganz auf die Spitze treibt, mit denen nicht jeder klar kommt. Vor allem das Kokettieren mit der eigenen Unwissenheit bzw. der der eigenen Partei schmeckt vielen nicht. Und genau da kommen wir wieder zurück zu der Frage, die auch die Piraten seit langer Zeit beschäftigt und die eben nicht endgültig beantwortet ist: Welche Rolle können die Piraten im Parteienspektrum einnehmen – und welche vielleicht nicht?

Nachdem zu Beginn in erster Linie netzpolitische Themen und die Erneuerung politischer Prozesse in Richtung von mehr Transparenz die Themen der Piraten waren, versucht man inzwischen zu immer mehr Themenkomplexen Positionen zu entwickeln – und biegt dabei deutlich nach links ab. Damit werden die Piraten schon automatisch immer mehr zu einer „normalen Partei“, was positive und negative Effekte hat. Der positive ist, dass die Bürger sich ein besseres Bild machen können von dem, was sie mit ihrer Stimme an Positionen unterstützen, was ja auch eine nicht zu unterschätzende Form von Transparenz ist. Außerdem hat eine Partei auf Dauer nur die Chance, wirklich große Veränderungen anzustoßen, wenn sie regiert – und mit ihrer „Normalisierung“ wird sie grundsätzlich koalitions- und regierungsfähig, weil berechenbarer. 

Negativ ist allerdings, dass eine „normale“ Partei kaum mehr dazu taugt, dem System insgesamt den Spiegel vorzuhalten, weil sie ja selbst ein Teil davon ist. Sie kann sich nicht mehr hinter dem Protest verstecken und vermeintlich neutral Vorschläge zur Verbesserung der Prozesse einbringen, weil sie von den einen (maßgeblich der politischen Linken, aber auch den Liberalen) als politischer Konkurrent und den anderen (maßgeblich den Konservativen) als politischer Gegner wahrgenommen wird, von dem man fast schon automatisch keine Vorschläge annimmt. Genau dieses Dilemma verkörperte Christopher Lauer bei seinem Auftritt bei Maybritt Illner, bei dem er Kurt Beck fast zum explodieren brachte. Wäre er Moderator gewesen, gewissermaßen neutral und von allen anderen gleich weit entfernt, man müsste ihm einen fantastischen Job attestieren, denn selten in den letzten Jahren hatte es jemand geschafft, den Etablierten die wirklich unangenehmen Fragen (zum Beispiel nach den Millionen, die Kurt Beck höchstpersönlich im Milliardengrab am Nürburgring verbuddelt hat) zu stellen und daraufhin auch eine echte Reaktion zu erhalten. Als Vertreter einer Partei, die für sich in Anspruch nimmt, den Etablierten auch inhaltlich zu sagen, was sie an deren Politik nicht gut findet (z.B. Hartz IV, das Gebührenmodell des ÖPNV etc.) muss man aber erwarten dürfen, dass sie zu wichtigen Themen mehr zu sagen hat als „Dazu haben wir noch keine Meinung“. „Cherry Picking“ funktioniert auf Dauer nicht, entweder man lässt sich ganz ein, oder man lässt es ganz. 

Kaum jemand erklärt Politik – und die Probleme von Politik – derzeit so schön schnoddrig wie Christopher Lauer oder so schön blumig wie Marina Weisband. Schon alleine damit sind die Piraten eine Bereicherung des politischen Betriebs. Und das gilt auch für ihre Bereitschaft, neue Wege in der Entscheidungsfindung auszuprobieren, Diskussionskultur als Thema wieder in den Mittelpunkt zu stellen, die Herausforderungen und Chancen der zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Auf diese Themenfelder beschränkt darf man von den Piraten Impulse erwarten – und sollte auch bereit sein, diese unvoreingenommen zu prüfen. Alles darüber hinaus sollte man als Anstoß betrachten, wie er von jeder beliebigen (linken) Partei kommen könnte. Und man sollte es dann auch entsprechend behandeln. 

Schade wäre es, wenn die Vermischung der beiden Ebenen dazu führen würde, dass sich die Piraten immer weiter normalisieren ohne, dass sie prozessual wirkliche Veränderungen anstoßen können. Die Gefahr besteht derzeit – und darüber sollten sich nicht nur die Piraten Gedanken machen. Denn es wäre eine verschenkte Chance für die Demokratie.

Donnerstag, 29. März 2012

Ein paar Gedanken zu Schlecker...

Nun ist es also amtlich: Es wird keine Auffanggesellschaft für die Schlecker-Mitarbeiterinnen geben, die Kündigungen sind verschickt. Die Emotionen schlagen hoch, man ist sich einig, dass die FDP die Entscheidung verantwortet – und je nach Blickwinkel drischt man auf sie ein oder lobt sie dafür. Dabei sollte man in der Bewertung insgesamt vorsichtig sein, denn am Ende weiß man eben nicht, was genau hinter den Kulissen diskutiert wurde und was am Ende den Ausschlag gab. Von überzeugenden Sachargumenten bis hin zu reiner Parteitaktik ist alles möglich. Unabhängig davon möchte ich an dieser Stelle einmal meine Gedanken zu dem Thema sortieren. 

Zunächst einmal habe ich das Gefühl, dass (bewusst?) in der Öffentlichkeit ein falsches Bild davon gezeichnet wurde, was eine Auffanggesellschaft ist bzw. leisten kann. Klar ist: mit der Einrichtung einer solchen ist noch kein Problem gelöst, sondern höchstens Zeit gekauft. Menschen, die jetzt nicht vermittelbar sind, werden es aller Voraussicht auch am Ende der Laufzeit der Gesellschaft nicht sein. Menschen, die am Ende vermittelbar sind, sind es vermutlich auch jetzt schon. Sie hätten darüber hinaus von der Auffanggesellschaft wohl eher nicht profitiert, wie im Hamburger Abendblatt ausgeführt wurde, was zu einer Negativselektion geführt hätte: Die Vermittelbaren hätten geklagt, die nicht Vermittelbaren wären mit Steuergeld für sechs Monate aufgefangen worden, um dann trotzdem in die Arbeitslosigkeit zu rutschen. 

Die Artikel, die die rein emotionale Ebene verlassen haben, kommen mehrheitlich zu der Erkenntnis, dass es für die Mitarbeiter selbst gar nicht besonders attraktiv sein könnte, in die Auffanggesellschaft zu wechseln – was diese vielleicht selbst noch gar nicht verstanden haben. Vor diesem Hintergrund darf man durchaus die Frage stellen: „Wem nützt es?“ Ganz klar ist: „Die Suche nach einem Investor wird jetzt schwieriger“ – aber was steckt eigentlich dahinter? Der Insolvenzverwalter hat natürlich ein Interesse daran, möglichst viele Probleme des Unternehmens auszugliedern. Die Auffanggesellschaft sollte so etwas Ähnliches werden, wie eine „Bad Bank“ für Schlecker: Die Risiken werden ausgelagert, um einen Einstieg für Investoren attraktiver und dem Insolvenzverwalter den Job einfacher zu machen. Die jetzt anstehenden Kündigungsschutzklagen – und die damit einhergehenden Risiken – sind aber schlicht Teil des Unternehmens Schlecker. Das erhöht das Risiko für Investoren – aber es senkt vermutlich auch den Kaufpreis. Lagert man es aus, zahlt der Steuerzahler die Risikoprämie für Investoren. Das kann ordnungspolitisch nicht richtig sein, sagt mir mein Bauchgefühl. 

Ein weiteres Argument ist das, dass schon bei der (nur vorübergehenden) Rettung von Holzmann in der Schröder-Ära oder der Diskussion rund um Opel richtig war: Es kann nicht sein, dass der Staat dort eingreift, wo es publikumswirksam möglich ist (also bei den großen Namen) und wegschaut, wenn das nicht der Fall ist (also bei kleinen Firmen). Bei Schlecker wäre die Transfergesellschaft nach aktuellen Angaben nur noch für ca. 10.000 Mitarbeiterinnen in Frage gekommen, weil über 1.000 das Unternehmen schon freiwillig verlassen haben (vermutlich mit einem neuen Job in der Tasche). Bei zwischen 30.000 und 40.000 Unternehmenspleiten pro Jahr sind insgesamt deutlich mehr Menschen betroffen, als bei der Schlecker-Pleite, die in aller Regel auch nicht in staatlich unterstützten Auffanggesellschaften, sondern im Aufgabenbereich der Bundesagentur für Arbeit landen. Es kann nicht sein, dass Mitarbeiter großer Unternehmen gleicher sind, als andere – das wäre eine unbegründbare Schieflage. 

Dass allerdings das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen trotzdem eine nicht unerhebliche Störung ausmacht, und damit wären wir wieder auf der emotionalen Ebene, kann ich bestens verstehen. Warum, so mag man sich fragen, sind „Bad Banks“ für Banken legitim, für Drogeriemärkte allerdings nicht? Wie kann es sein, dass für angeschlagene Banken, Staaten und Bundesländer Milliarden zur Verfügung stehen, für die 11.000 Mitarbeiterinnen von Schlecker aber noch nicht einmal 71 Millionen Euro? Die Gegenüberstellung der Geld scheffelnden Banker einerseits, denen geholfen wird und der sowieso schon darbenden alleinerziehenden Schlecker-Verkäuferin, die nun auf der Straße steht, ist vermutlich das stärkste Bild, das die durchaus bereits vorhandene Schieflage in unserer sozialen Marktwirtschaft verdeutlicht. Es mag ordnungspolitisch richtig gewesen sein, kein Geld für eine Auffanggesellschaft zur Verfügung stellen. Moralisch richtig wird es aber erst, wenn nun mit Nachdruck daran gearbeitet, dass die beschriebene Schieflage behoben wird. Eine große Aufgabe, unfraglich. Aber es wird Zeit, dass sie angenommen wird. Da muss die FDP nun ebenso Rückgrat zeigen, wie sie das in den letzten Tagen bei Schlecker getan hat.

Mittwoch, 28. März 2012

Wo bleibt die Kapitalismuskritik aus der Mitte?


Kapitalismuskritik ist inzwischen ein Massenphänomen, denn es eignet sich sogar unter Handwerkern, Ärzten und Unternehmern als Partygesprächsthema. Daran ist erst einmal nichts Falsches, denn zu kritisieren gibt es genug. 

Die öffentliche Debatte zu diesem Thema allerdings, die läuft an der gesellschaftlichen Mitte bisher komplett vorbei. Das ist ein Fehler. Man könnte sagen: Diejenigen, die dieses Land voranbringen, die persönliche Risiken auf sich nehmen und Verantwortung für sich und andere tragen, verschlafen gerade ihren Einsatz. Es reden andere - die bestens organisierten Lobbyisten der Banken und Fonds einerseits oder die politische Linke mit ihrem jaulenden Protest andererseits. Zwischen Großkapital und Antikapitalismus geht die Idee der Sozialen Marktwirtschaft verloren.

Dabei war es doch genau die Mitte der Gesellschaft, welche diese Idee groß gemacht hat - und die gleichermaßen durch sie groß geworden ist. Der deutsche Mittelstand ist das Kind dieses Gesellschaftsmodells, das selbst wiederum kerngesund dafür sorgt, dass Deutschland im weltweiten Vergleich gut dasteht. Man könnte also meinen, es gäbe etwas zu verteidigen. Doch wo bleiben die neuen, konkreten Vorschläge aus der Mitte, wie man aus einem ungeordneten kapitalistischen Selbstbedienungsladen wieder eine echte soziale Marktwirtschaft machen könnte? Bisher: Fehlanzeige. Und dieses Vakuum lockt die Falschen auf den Plan.

So jongliert etwa Sahra Wagenknecht, bekennende Kommunistin innerhalb der Linkspartei, mit Begriffen und Namen, die ihr in der Vergangenheit eher fremd schienen. Von Ludwig Erhards Konzept eines "Wohlstands für alle" sei das Land weit abgekommen. Es wäre ja auch nur im Rahmen eines modern gedachten Sozialismus zu erreichen. 

Ich bin mir sicher: Weder Erhard noch Eucken oder Müller-Armack wollten sich von der Frontfrau der Linken vereinnahmen lassen. Zufrieden aber wären sie mit der derzeitigen Situation ebenso wenig. Sie würden sich daran machen, Alternativen zu entwickeln - ohne dabei gleich das ganze System infrage zu stellen. Die Frage bleibt: Wer nimmt sich heute an ihrer Stelle dieser Aufgabe an?

Erhard und seine Mitstreiter würden feststellen, dass es zu viele Märkte gibt, in denen der Wettbewerb zu gering ist und einzelne Spieler zu groß sind. Kleine Startups werden von diesen in die Knie gezwungen - nicht etwa durch bessere Ideen, sondern beispielsweise durch ihre Abmahnwucht. Alte Großstrukturen werden subventioniert, während neue, kreative Ansätze ersticken, weil Bürokratie sie hemmt und es an Risikokapital mangelt. Ein neuer Gründergeist entsteht so nicht.

Ich bin mir sicher, die großen Ordnungspolitiker würden heute fordern, dass endlich schnelles Internet auch an entlegene Standorte gelangt; dorthin, wo zwar keine "großen Namen" mit entsprechendem Druck dafür sorgen, aber trotzdem Ideen entstehen. Sie würden ein Klima schaffen, in dem man Neuerungen nicht nur beklatscht, sondern auch wirklich unterstützt. Und sie würden zu Recht fragen, warum kaum ein Arbeitnehmer Anteile an einem Unternehmen hat. Denn damals, zu ihrer Zeit, galt dies als Königsweg marktwirtschaftlicher Kontrolle. 

Ein fairer Wettbewerb mit klaren Regeln, an dem jeder teilnehmen und teilhaben kann, schafft gute Rahmenbedingungen für alle. Die Idee der klugen Ordnungspolitik bleibt also aktuell. Womit wir im Prinzip immer noch bei Ludwig Erhard sind, nur eben in unsere Zeiten übersetzt. 

Niemand darf sich dabei aus der Verantwortung stehlen, nicht die Privatwirtschaft und auch nicht die Politik. Es braucht Menschen, die bereit sind, diese Ordnungspolitik zu gestalten. Kommt die politische Mitte auch weiterhin nicht hinter dem Ofen hervor, dann gibt sie die Verantwortung ab - und zwar an die, die mit dem Gedanken eines freien und fairen Wettbewerbs wirklich gar nichts am Hut haben. Damit macht man dann den Bock zum Gärtner - oder eben die Kommunistin zur Wirtschaftsweisen.

Zuerst erschienen im Deutschlandradio am 28. März 2012. Hier auch der Audiolink.

Dienstag, 20. März 2012

Die Gedanken sind frei

Aus aktuellem Anlass, hier der Text der überlieferten Version von "Die Gedanken sind frei":

Die Gedanken sind frei
wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei:
Die Gedanken sind frei!

Ich denke, was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still’
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!

Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!

Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
Die Gedanken sind frei!

Ich liebe den Wein,
mein Mädchen vor allen,
sie tut mir allein
am besten gefallen.
Ich bin nicht alleine
bei meinem Glas Weine,
mein Mädchen dabei:
Die Gedanken sind frei!

Sonntag, 18. März 2012

Aus der WamS: "Der Gauck-Macher"

Christoph Giesa gründete im Sommer 2010 die Facebook-Gruppe "Joachim Gauck als Bundespräsident" - eine Aktion, die Politik und Gesellschaft in Bewegung brachte.

Manchmal im Leben spürt man, dass etwas einfach sein muss. So beginnt Christoph Giesa sein Buch "Bürger Macht Politik". Damals, im Frühsommer 2010 hatte Giesa auch dieses Gefühl. Als der damalige Bundespräsident Horst Köhler seinen Rücktritt verkündete. Da spürte auch Giesa, dass es jetzt an der Zeit sei, wie er sagt. Für Joachim Gauck. Noch bevor dieser offiziell als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert wurde, gründete Giesa eine Gruppe auf Facebook. "Joachim Gauck als Bundespräsident". Innerhalb weniger Tage hatte die Gruppe 20.000 Anhänger. Und Giesa war plötzlich bundesweit bekannt. Als der "Gauck-Macher".

Zwei Jahre später sitzt er im grauen Kapuzenpulli an einem Cafétisch in der Langen Reihe, in Hamburg St. Georg. Wieder sind es nur wenige Tage, bis Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt werden soll. Ein zweites Mal. Und dieses Mal deutet nichts mehr daraufhin, dass es am heutigen Sonntag nicht klappen sollte. Das war 2010 noch anders. "Damals hätten die meisten Gauck auch schon gewollt", sagt Giesa, der in Hamburg für einen Handelskonzern arbeitet. Auch wenn es schließlich Christian Wulff wurde. "Merkel wollte ein Zeichen für Schwarz-Gelb setzen. Aus machtpolitischem Kalkül. Es war kein Zeichen gegen Gauck", sagt Giesa.

Auf seinem Handy hat er Fotos abgespeichert. Sie zeigen ihn gemeinsam mit Joachim Gauck im Reichstag. "Es ist der Tag an dem zum vierzehnten Mal der Präsident der Bundesrepublik Deutschland gewählt wird. Einer der Kandidaten sitzt neben mir im Turmzimmer des Reichstags", wird Giesa später über diesen Tag schreiben. Er wartet mit Gauck gemeinsam auf den dritten Wahlgang. Im Hintergrund ist die Quadriga auf dem Brandenburger Tor zu sehen. Und Giesa sagt zu seinem Wunschkandidaten: "Vor nicht vielmehr als zwanzig Jahren haben Sie noch darum gekämpft, einmal die Quadriga von hinten sehen zu können, frei zwischen den Teilen zu wandeln, die durch eine Mauer so lange getrennt waren. Und heute sitzen Sie hier im Westen, im Reichstag, mit Blick auf das Brandenburger Tor und werden möglicherweise noch heute Abend zum Präsidenten des gesamten, geeinten Landes gewählt." Was Giesa da noch nicht wusste: Gauck hatten den gleichen Gedanken zuvor ebenfalls ähnlich aufgeschrieben.

Wenn Giesa die Fotos zeigt und von der Aktion für Gauck erzählt, dann klingt das klar und aufgeräumt. Jedenfalls nicht nach jemandem, der sich mit einer Kampagne in den Vordergrund spielen möchte. Das sagt er selbst: "Ich will keinen Personenkult um mich haben." Und es ist ihm eher unangenehm, wenn ihn Nutzer anschrieben, um ihm dafür zu danken, dass er Gauck gemacht habe. "Das habe ich aber nicht. Zumindest nicht allein", so Giesa. Und auch um Gauck habe er keinen Personenkult aufbauen wollen. "Ich bin eigentlich jemand, der für Themen, nicht für Personen steht", sagt Giesa. Gauck werde er künftig genauso kritisch gegenüberstehen wie anderen auch. Es sei ihm wichtig gewesen, dass es eine Pro Gauck, aber keine Aktion gegen Wulff war.

40 Jahre Altersunterschied trennen die beiden Männer Gauck und Giesa. Es gab nur eine einzige Begegnung der beiden, bevor Giesa die bundesweite Aktion startete. Aber eine einprägsame. Giesa hatte Gauck als Redner auf einem Bundeskongress der Jungen Liberalen erlebt. Eine Rede, an die sich noch heute jeder der Anwesenden erinnern würde, erzählt Giesa. "Sein Leitmotiv ist liberal, an manchen Stellen ist er konservativ, aber er hat auch grüne Einschläge."

Giesa selbst kommt aus der FDP. Jahre zuvor war er Chef der Jungen Liberalen in Rheinland-Pfalz, er wäre fast Europaabgeordneter geworden. Er weiß, wie Politik funktioniert. Trotzdem oder vielleicht genau deswegen hat er mit ihr aufgehört. Wenn er in seinem Buch über die notwendigen Veränderungen schreibt, von den fehlenden innovativen Ideen und seiner Illusion, als Parteimitglied etwas bewegen zu können, dann wird deutlich, warum er zu einem fast "unpolitischen Menschen" wurde: "Die Parteien verlieren massiv an Mitgliedern. Ich glaube aber nicht, dass sich Leute immer weniger politisch interessieren. Es liegt auch daran, dass die Lebensrealität von vielen nicht mehr mit den Strukturen einer Partei zusammenpasst. Es ist ein Protest gegen die großen Linien", sagt Giesa. "Wir erwarten von unseren Politikern Wunderdinge - obwohl wir ihnen eigentlich nichts zutrauen."

Erst mit der Gauck-Aktion fand Giesa wieder zurück in das politische Leben. Begrüßt wurde sein Vorstoß nicht unbedingt von allen Seiten. Erwin Huber, der bayerischen CSU-Politiker, sagte damals über die Protestmails der Bürger und ihre Internet-Aktionen für Gauck: "Wenn ein Kandidat auf eine solche geistlose Unterstützung angewiesen ist, hat er wohl keine guten, überzeugenden Argumente." Als es ein halbes Jahr später Karl Theodor zu Guttenberg an den Kragen ging, hörte sich das anders an: "Die Aktionen seiner Anhänger in ganz Deutschland sind wichtig und sollten fortgesetzt werden", sagte Huber.

Giesa kommentiert das in seinem Buch nüchtern: "Es wird uns nun wirklich nicht einfach gemacht, für etwas zu sein, wenn das, was gestern falsch war, heute auf einmal richtig sein soll - und andersrum." Aufgegeben hat er deswegen nicht. Er ist aufgestanden, um etwas zu bewegen. Und hat gleichzeitig viele andere dafür begeistert. "Christoph Giesa steht für das, was ich als notwendige Ergänzung der Freiheit wieder und wieder benenne - er steht zu der Verantwortung, die ein mündiger Bürger für sein Gemeinwesen haben muss", schreibt Gauck über ihn. Er hat auch das Vorwort zum Buch verfasst, in dem er beschreibt, wie sehr ihn die Unterstützung der jungen Menschen berührte. "Trotz der äußerst geringen Chancen, zu gewinnen, war es für mich selbstverständlich, mit aller Energie und Ernsthaftigkeit zu kandidieren. Dies war ich nicht nur den beiden Parteien, die sich für mich ausgesprochen hatten, sondern auch den vielen Unterstützern aus der Gesellschaft schuldig - unter ihnen jene zahlreichen im Internet engagierten Politikinteressierten, die unter anderem von Christoph Giesa angesprochen worden waren." Die Unterstützung wird er wohl auch weiterhin haben.


"Bürger. Macht. Politik.", Christoph Giesa, Campus Verlag GmbH Frankfurt am Main, ISBN 978-3-593-39465-7 17,99 Euro

Zuerst erschienen in der "Welt am Sonntag" am 18. März 2012.

Samstag, 17. März 2012

Gauck sollte zuerst Griechenland besuchen


Am Sonntag wird Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt. Er selbst hat wenig gesagt, trotzdem versucht alle Welt seit Wochen, die Deutungshoheit über ihn zu gewinnen, positiv wie negativ. Dabei ging es allerdings in erster Linie um die Vergangenheit und was man aus ihr ableiten zu können glaubte für die anstehenden fünf Amtsjahre. Das greift zu kurz. Gauck hat das Potenzial, das Amt in einer neuen Form auszufüllen. Aber die Antwort, ob er in der Lage sein wird, dieses Potenzial auszuschöpfen, kann die Vergangenheit nicht beantworten.

Gauck wird, daran lassen die Umfragen keinen Zweifel, der Präsident sein, den die Bürger wollen. Um zu einem echten Bürgerpräsidenten zu werden, wird er das Amt allerdings in gewissem Maße neu interpretieren müssen. Es sind unruhige Zeiten, auch in Deutschland. Die Welt verändert sich rasend schnell und verlangt jedem einzelnen eine Wandlungsfähigkeit ab, die nicht jeder zu leisten vermag. Es zeigen sich Risse in der Zustimmung zu unserem freiheitlichen Gesellschaftsmodell, das doch auch für Joachim Gauck Gegenstand seiner Sehnsucht war. Daraus ergeben sich für den Bundespräsidenten neue Herausforderungen. Zwei bewegende Reden im Jahr werden nicht ausreichen, dem gerecht zu werden. Nein, richtig entfalten wird sich die Macht von Gaucks Worten erst, wenn sie nicht nur in repräsentativen Hallen mit Marmorböden und ergrauten Honoratioren gehört werden.

Der neue Präsident sollte daher nicht alleine auf die Symbolik des großen Auftritts, sondern auf die Wirkung der zwischenmenschlichen Begegnung setzen. Dass er das intuitiv kann, hat man bei der Gedenkfeier für die Opfer der Rechtsterroristen gesehen. Eine Hand zu nehmen, echte Erschütterung zu zeigen, schien lange unüblich in jenen Kreisen. Auch Gauck musste es wohl erst wieder lernen. Aber abseits aller Sonntagsreden ist dies der einzige Weg, wenn angemessene Worte fehlen.

Der neue Präsident muss dahin, wo Bewegung ist, die den einen als Chance begegnet und anderen als Risiko erscheint. Wenn etwa Sarrazin über Menschen schreibt, die er nur aus den Statistiken kennt – oder zu kennen glaubt – ohne je das Gespräch gesucht zu haben, muss Gauck der sein, der den Menschen hinter der Statistik begegnet. Joachim Gauck goes Kreuzberg: Was Christian Wulff mit seinen Worten zum Islam als Diskussion angestoßen hat, kann Gauck auf eine nächste Stufe tragen.

Genauso sollte der neue Präsident zu denen gehen, die viele Ideen und Strukturen, die Deutschland groß gemacht haben, inzwischen ablehnen, aber Neues erschaffen. Wenn man sie denn lässt. Die Menschen, die in ihren Startups die Möglichkeiten des Internets für sich nutzen oder neue Dienstleistungen erfinden, sind für die Zukunft Deutschlands genauso wichtig, wie die DAX-Konzerne. Eine Lobby haben sie aber noch nicht.

Besonders ans Herz legen würde ich Joachim Gauck, sich über seine erste Auslandsreise sehr genau Gedanken zu machen. Frankreich, die USA, Polen? Die Protokollverantwortlichen werden vermutlich zusammenzucken, aber wie wäre es mit Griechenland? Das Symbol wäre mächtig. Nicht nur für Deutschland und Griechenland, auch für Europa. Und es wäre in einer schwierigen Zeit eine unglaublich starke Aussage: Auch wenn wir gerade alle nur über Geld diskutieren, dürfen wir nicht vergessen, dass die Einigung Europas aus anderen Gründen angestoßen wurde. Wenn Gauck es schafft, das Menschliche in den Mittelpunkt zu stellen, wird er ein wahrer Bürgerpräsident.

Zuerst erschienen am 16. März 2012 im "Hamburger Abendblatt".

Sonntag, 11. März 2012

Auf zu neuen Ufern...

Nach dann knapp viereinhalb Jahren habe ich mich entschieden, zum 30.6.2012 die Otto Group zu verlassen und ab dem 1.7. zu neuen Ufern, oder besser gesagt: ins Abenteuer Selbständigkeit aufzubrechen. Obwohl schon erste Konturen erkennbar sind, bin ich noch weit davon weg, sagen zu können, wie genau das dann aussehen wird. An Ideen und Projekten mangelt es nicht, aber der Weg zur Umsetzung ist eben noch weit. Ich freue mich darauf, diesen auf mich zu nehmen - und dachte mir, dass es vielleicht den einen oder anderen interessieren könnte, mit welchen Gedanken und Herausforderungen man sich als Gründer im allgemeinen und  im besonderen auseinanderzusetzen hat. Daher habe ich mich entschieden, den Prozess in einem gewissen Rahmen hier in meinem Blog zu begleiten und zu kommentieren. Egal ob es darum geht, einen Business Plan zu kalkulieren und zu schreiben, Gründungszuschuss oder Gründerkredit zu beantragen, Finanzierung und Logistik sicherzustellen oder Marketing und Vertrieb aufzusetzen - all diese Fragen stehen in den kommenden Monaten an und sind nicht zu unterschätzende Herausforderungen. Ich freue mich auf die Zeit. Und habe gleichzeitig ordentlich Respekt. Aber vielleicht ist das ja sogar eine ganz fruchtbare Mischung, um mittelfristig erfolgreich zu sein...

Die erste Etappe auf dem Weg zur Gründung ist in meinem Fall die über das Arbeitsamt. Um das Konzept, auf dem ich derzeit gemeinsam mit einigen anderen Menschen herumdenke, in die Realität umsetzen zu können und ein wenig Planungssicherheit zu gewinnen, möchte ich den staatlichen Gründungszuschuss beantragen. Die Rechtsgrundlage für diesen ist erst vor kurzem verändert worden, was wohl sowohl bei den entsprechenden staatlichen Stellen als auch bei vielen Gründern zu einer gewissen Unsicherheit geführt hat, die derzeit noch anzuhalten scheint. Der Prozess wird also spannend. Aber das ist derzeit noch gar nicht mein Thema. Viel mehr merke ich schon, dass der Schritt zuvor durchaus auch einen nicht zu unterschätzenden Grad an Aufmerksamkeit benötigt. Konkret gemeint ist der Umgang mit der Arbeitsagentur bezüglich Arbeitssuchenden- und Arbeitslosmeldung. Das ist notwendig, weil die Beantragung des Gründungszuschusses leider an eine vorige Arbeitslosigkeit geknüpft ist und man diesen somit erst am ersten Tag als Arbeitsloser beantragen kann. Ich verstehe die Idee dahinter, frage mich aber doch, ob es da nicht auch andere Möglichkeiten gäbe. Nunja...

Dasselbe gilt auch für den Prozess bis dahin. Alleine schon die Unterschiede bei den Fristigkeiten zur Arbeitssuchend- und der Arbeitslosmeldung ergeben sich nicht intuitiv. Ich gehe davon aus, dass ich mit Juristendeutsch einigermaßen gut umgehen kann, aber auch dann muss man schon ganz schön Zeit investieren, um sicherzugehen, dass man alle Vorgaben entsprechend einhält. Wer nicht perfekt deutsch spricht oder zumindest nicht im Umgang mit entsprechend umfangreichen Schriftstücken geschult ist, kann da schon einmal verloren gehen. Im Denken, dass es nicht schaden kann, sich möglichst früh um die Themen zu kümmern, habe ich mich dann schon weit vor Ende der entsprechenden Frist (spätestens drei Monate vor Eintritt einer Arbeitslosigkeit) telefonisch arbeitssuchend gemeldet (hier findet man die bundeseinheitliche Servicenummer) und wurde dort auch absolut zuvorkommend behandelt. Meinem Wunsch auf einen kurzfristigen Termin bei meinem Sachbearbeiter in der zuständigen Arbeitsagentur wurde unbürokratisch entsprochen, als Reaktion auf eine Frage, die die Dame mir nicht beantworten konnte, wurde mir sofort ein Rückruf der zuständigen Abteilung zugesagt, der dann auch drei Tage später erfolgte. Das entsprechende Infomaterial ist inzwischen auch eingetroffen und ich habe jetzt zum ersten Mal in meinem Leben eine offizielle Kundennummer bei der Arbeitsagentur.

Bis dahin alles bestens. Was sich schon erahnen lässt: Flexibilität ist nicht unbedingt das, womit man im Umgang mit der Behörde rechnen sollte, schon alleine, weil es dann mit der Rechtssicherheit schwierig wird. Den telefonisch abgesprochenen Termin kann ich aufgrund eines geschäftlichen Termins (ja, ich arbeite noch... total verrückt) nun leider nicht einhalten und dachte, ich melde mich auf dem selben Weg unter derselben Nummer und verschiebe den. Nichts da. Absagen kann man ihn zwar, einen neuen Termin bekommt man aber erst, wenn man schriftlich eine Begründung für die Absage eingereicht hat. Denn, das geht aus dem Infomaterial hervor, es handelt sich bei dem Termin um eine "Einladung nach § 309 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in Verbindung mit § 38 Abs. 3 SGB III". Was auch immer das heißen mag. Sollte man diese Begründung nicht zeitnah liefern, werde man "die Dienstleistungen der Agentur für Arbeit nicht weiter in Anspruchen nehmen" können. Was das in der Konsequenz heißt, bleibt leider auch unklar.

Ich hab meinen Grund natürlich zeitnah schriftlich mitgeteilt und warte jetzt auf einen neuen Termin. Fortsetzung folgt... bei Gelegenheit an dieser Stelle.