Freitag, 18. November 2011

Gedanken zum Markenkern

Machtpolitisch klug war der Vorstoß der Kanzlerin in Richtung eines Mindestlohnes sicher nicht. Es ist noch nicht lange her, da tobte eine Diskussion darüber, wer denn nach dem Abgang von Koch, Wulff, Merz, Rüttgers und Co. in Zukunft noch das Zeug hat, christdemokratische und konservative Gedanken zu vertreten und weiter zu entwickeln. Um diese war es in den letzten Wochen und Monaten etwas stiller geworden, ähnlich wie um die Frage, was denn nach dem Ausstieg aus Wehrpflicht und Kernkraft und nach der Abkehr von einer maßgeblichen Vereinfachung des Steuersystems noch in dieser Legislatur (oder überhaupt?) noch Markenkern konservativer Politik sein könne. Mit dem Hochkochen der Mindestlohn-Debatte ist die erste Fragestellung inzwischen beantwortet, hat doch Ursula von der Leyen einmal mehr die Zügel in die Hand genommen und treibt die gesamte Partei, inklusive der Kanzlerin, vor sich her. “Ich kann Kanzlerin - und zwar auch gerne mit der SPD!” will sie uns damit vermutlich signalisieren. Die Debatte um den Markenkern allerdings ist um eine weitere Episode reicher - und lenkt die Aufmerksamkeit weit über die Union hinaus auf die Frage, wie man in Zeiten einer zunehmenden (zumindest oberflächlichen) Konvergenz der Meinungen im demokratischen Spektrum den Begriff “Markenkern” überhaupt noch sinnvoll definieren kann.

Für Kurt Lauk, Jahrgang 1946 und Präsident des Wirtschaftsrates der CDU, scheint dieser Gedanke fremd. Wie er in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt deutlich macht, sieht er nur in einer Rückbesinnung auf die Leipziger Parteitagsbeschlüsse von 2003 die Möglichkeit, eine klare Kontur zurück zu gewinnen. Das erscheint ungefähr so sinnvoll, wie wenn die SPD sich auf ihre Programmatik vor der Agenda 2010, die Grünen auf ihre Anfangstage in den 80ern oder die FDP auf die Wiesbadener Grundsätze von 1997 zurückziehen würde. Die Welt hat sich weitergedreht - und wird dies auch in Zukunft tun. Vor diesem Hintergrund ist es auch erstmal nicht schlimm, wenn Parteien gleich welcher Couleur Fundamentalpositionen räumen.

Genau wie SPD und Grünen lernen mussten, dass der Glaube an anstrengungslosen Wohlstand in eine Sackgasse führt - und diese Erkenntnis dann in Form der Hartz-Gesetze mehr oder weniger gelungen in Gesetzesform gießen mussten - ist es nun an der Zeit für Union und FDP anzuerkennen, dass Marktmechanismen und Tarifautonomie nicht in allen Fällen in der Lage sind, für leistungsgerechte und auskommenssichernde Löhne zu sorgen. Solche Erkenntnisse zu verweigern, um nur ja nicht den Markenkern zu beschädigen, sorgt für solch abstruse Debatten, wie sie derzeit zu beobachten sind. Dabei wäre auch in diesen Themenfeldern immer noch Luft für deutliche Abgrenzungen zwischen den unterschiedlichen politischen Strömungen. Während die Linke auf einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn setzt, der bei 10 Euro liegt und damit weniger auf die Sicherung eines adäquaten Grundeinkommens als vielmehr auf eine massive Umverteilung zielt, sind SPD und Grüne mit ihrer Forderung von 8,50 Euro schon deutlich moderater. Union und FDP dürfen sich der Debatte nicht verweigern, sondern sollten anstatt eines bloßen “Ja” oder “Nein” alternative Konzepte vorlegen, mit denen die problematische Entwicklung aufgehalten werden kann, ohne dass man gleich einem politischen Mindestlohn mit entsprechendem Gefährdungspotenzial für viele Arbeitskräfte in Deutschland das Wort redet. Eine Verweigerung des Diskurses über pragmatische Lösungen für ein gemeinsam erkannten Problem führt zu einer Verkürzung der Positionen auf schwarz und weiß, dafür und dagegen. Das wird den Anforderungen unserer Zeit nicht gerecht - egal ob es nun um die Frage geht, wie wir in Zukunft unsere Energie gewinnen oder mit dem demografischen Wandel umgehen, wie wir unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen oder wie wir jedem Bürger ein lebenswertes Leben garantieren können. Bei der Beantwortung dieser Fragen gibt es genügend Platz für unterschiedliche Konzepte, von sozialistisch bis konservativ und von grün bis liberal. Dafür müssten allerdings die Protagonisten auch bereit sein, die Schützengräben des Nachkriegsdeutschlands zu verlassen und sich echten Sachdiskussionen zu stellen, die sich an den Realitäten des 21. Jahrhunderts orientieren. Die Verweigerung der Erkenntnis, dass die Welt sich in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert hat, steht gerade alteingesessenen Politikern jeder Couleur derzeit noch im Weg. Insofern wäre die erste zu führende Debatte vielleicht, wie wir dieses “Bildungsproblem” überwinden können. Erneuerungsfähigkeit, das wäre doch ein Markenkern, der Deutschland gut zu Gesicht stünde. Vorschläge, wie man dorthin kommt, sind herzlich willkommen...

Donnerstag, 27. Oktober 2011

40 Jahre Freiburger Thesen – Zurück in die Zukunft

Im Oktober 1971 verabschiedete die FDP die Freiburger Thesen und wurde mit zur Reformpartei des damaligen Jahrzehnts. Der Dahrendorfkreis knüpft daran an, denn auch heute können die Thesen weiter als FDP-Kompass dienen, der aus der aktuellen Krise herausführt und die verlorengegangene Anschlussfähigkeit an weite Teile der Gesellschaft wieder herstellt.

von Gesine Meissner, Nadja Hirsch, Alexander Alvaro, Christoph Giesa, Jorgo Chatzimarkakis für den Dahrendorfkreis
 
Wer sich mit dem Umfeld beschäftigt, in dem die Freiburger Thesen, die am 27. Oktober ihren 40. Geburtstag feiern, entworfen, diskutiert und beschlossen wurden, stößt auf Parallelen zur heutigen Situation. Nicht nur deshalb eignet sich ein Blick auf den Geist und die Inhalte des Freiburger Programms um Handlungsempfehlungen für die FDP zu entwickeln.

Die Freiburger Thesen sind nur im Kontext der Bundestagswahl 1969 zu verstehen. Die Wahl war ein ähnlicher Schock wie beispielsweise die aktuelle Berlin-Wahl. Nur knapp kam die FDP damals ins Parlament. Die mageren 5,8% waren Anlass, die Partei programmatisch zu erneuern.

1968 machte sich in weiten Teilen der Gesellschaft Unmut über die politische Klasse und die Verkrustung des bestehenden politischen Systems breit. Mit der Verabschiedung der Freiburger Thesen schaffte es die FDP als erste Partei, die veränderten Bedürfnisse und neuen Forderungen der Bürger aufzunehmen und in ein politisches Programm umzusetzen. Das neue Programm ermöglichte der FDP nicht nur eine Anschlussfähigkeit an die protestierenden Studenten, sondern schaffte auch ein bis heute fortbestehendes Leitbild. Freiburg ist in diesem Land Sinnbild für ein progressives, am Menschen orientiertes und ganzheitlich gedachtes Liberalismusverständnis.

Wenn die Liberalen heute schnell und richtig handeln, haben sie ebenfalls große Chancen, sich bis zur nächsten Bundestagswahl zu reformieren und Vertrauen zurückzugewinnen. Die FDP kann diesen Sprung schaffen – gerade mit Blick auf die sich derzeit formierende „Occupy“-Bewegung und die dahinterstehende Unzufriedenheit mit der aktuellen Funktionsweise der Finanzmärkte. Die Kritik eines immer größer werdenden Teils der Gesellschaft sollte nicht als plumpe Sozialismusnostalgie abgetan werden.

Die Forderung der meisten Protestierer gehen allerdings in Richtung einer nachhaltigen Demokratisierung unserer Gesellschaft. Damit knüpfen die Demonstranten nahtlos an den früheren Vordenker der Liberalen und maßgeblichen Vater der Freiburger Thesen, Karl-Hermann Flach, an, der der FDP ins Stammbuch schrieb: „Die Frage nach der Zukunft der Freiheit, nach den Chancen des Liberalismus, bleibt gestellt. Es ist die Frage nach der Zukunft einer menschenwürdigen Gesellschaft.“

Hieran anzuknüpfen liegt in der Natur jedes Liberalen. Machtkonzentrationen, wie sie derzeit im weltweiten Finanzsystem zu beobachten sind, bedeutet langfristig das Todesurteil für den freien Markt. Und wer, wenn nicht die Liberalen kann in der Lage sein, Ideen für eine neue Marktlogik vorzudenken, die dazu taugen, den „Kapitalismus zu zähmen“, wie es vor 15 Jahren die große liberale Publizistin Marion Gräfin Dönhoff formulierte? Und zwar ohne dabei den Fehler zu machen, das Pendel zu weit in die andere, die staatsgläubige Richtung pendeln zu lassen und damit die Leistungsfähigkeit des freien Wirtschaftssystems zu gefährden? Es gibt keinen Grund, nicht daran zu glauben, dass das, was 1971 gelang, auch heute möglich ist.

Die Freiburger Thesen forderten auch eine nachhaltige Demokratisierung unseres Landes. Sie gingen dabei davon aus, dass Freiheitsrechte nicht nur in formalen Ansprüchen und faktischen Abwehrrechten gegen den Staat, sondern auch in realen Teilhaberechten am Staat und der ihn tragenden Gesellschaft bestehen. Die FDP stand damals nicht nur als erste Partei überhaupt für das Thema Umweltschutz, sondern auch für soziale Verantwortung und Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit und Mitbestimmung.

Werner Maihofer formulierte schon 1971, dass eine fortschrittliche liberale Gesellschaft es schaffen müsse, ein Staatsbürgertum hervorzubringen, das aus „Arbeitern, die nicht zu Proletariern deklassiert sind, und Bürgern, die nicht zu Bourgeois denaturiert sind“ gleichermaßen besteht. Diese Themen haben nichts von ihrer Relevanz verloren. Der neue Sozialbericht hat erneut darauf aufmerksam gemacht, dass Bildungsteilhabe noch immer zu stark vom Elternhaus geprägt ist. Der soziale Aufstieg fällt in unserem Land besonders schwer.

Die FDP legte mit den Freiburger Thesen ein konkretes Programm vor, wie möglichst alle Mitglieder der Gesellschaft besser teilhaben können. Als Mitglied der sozialliberalen Koalition ermöglichte die FDP vielen Arbeiterkindern den Bildungsaufstieg. Diesen Anspruch muss sie im Sinne eines ganzheitlich verstandenen Liberalismusansatzes wieder in den Mittelpunkt ihrer Anstrengungen stellen – nur eben bezogen auf diejenigen, die heute mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr Schritt halten können und abgehängt werden. Solange das Lebensglück in unserem Lande immer noch in weiten Teilen von einer positiven Sozialprognose des Einzelnen abhängt, dürfen Liberale nicht zufrieden sein.

Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der gerade zu beobachtenden, durch die Digitalisierung getriebenen gesellschaftlichen und politischen Umbrüche. Das Internet hat völlig neue Formen von Transparenz und Partizipation für die Menschen in einer Gesellschaft geschaffen, die es nun für alle gewinnbringend zu nutzen gilt. Gleichzeitig sind aber auch die freiheitlichen Bürgerrechte durch neue Formen der Überwachung (Stichwort "Bundestrojaner") bedroht – was ein absolutes Kernthema der FDP berührt.

Diese Netzthemen brennen vielen Menschen unter den Nägeln und werden von der liberalen Bundesjustizministerin und den netzpolitischen Experten der Fraktion nachdrücklich und kompetent behandelt. Die Erfolge auf diesem Gebiet reklamiert aber derzeit maßgeblich die Piratenpartei für sich und tritt schon selbstbewusst als die neue liberale Partei Deutschlands auf. So sieht deren Vorsitzender Sebastian Nerz in seiner Gruppierung eine „sozial-liberale Grundrechtspartei“, die für mehr politische Transparenz steht.

Diese Versuche anderer politischer Kräfte, sich dauerhaft im liberalen Spektrum festzusetzen, kennt die FDP inzwischen zur Genüge. Es gibt kaum eine der etablierten Parteien, die nicht schon einmal versucht hätte, in der Mitte zu wildern. Dabei haben die Liberalen es auch diesmal wieder selbst in der Hand, den Angriff abzuwehren. Dazu muss sich die Partei auf den Wettbewerbsgedanken besinnen, für den sie an vielen Stellen wie keine andere eintritt und sich so erneuern, dass sie die gesellschaftlichen Entwicklungen abzubilden und aufzufangen vermag.

Am Ende stimmen Wähler aber niemals für die Kopie, sondern immer für das Original. Zudem lassen die Piraten mit ihrer Fixierung auf die digitale Welt und in Teilen nicht zu Ende gedachten Programmpunkten den anderen Parteien und besonders der FDP Luft genug, ausgewogene und hinreichend ernsthafte Konzepte zu entwickeln! Politik muss beispielsweise die Frage mitbeantworten, wie in den Zeiten der Digitalisierung von Gesellschaft und Politik sichergestellt werden kann, dass auch die „analogen“ Bevölkerungsteile nicht von der Entwicklung abgekoppelt werden und damit deren Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt werden. Die derzeit stattfindende Grundsatzdiskussion, an deren Ende die Verabschiedung eines neuen FDP-Grundsatzprogramms stehen soll, ist das perfekte Forum, um solche Gedanken zu entwickeln.

Vielen Menschen fehlt derzeit eine politische Kraft, die gleichermaßen für wirtschaftliche, soziale und ökologische Freiheitsrechte eintritt. Die Freiburger Thesen haben schon 1971 skizziert wie man jetzt, 40 Jahre später und aus der größten Krise heraus, genau diese Frage überzeugend beantworten kann – und zwar zugunsten der FDP. Keine Frage, diesen Schritt erfolgreich und vor allem glaubwürdig zu gehen wird viel Überzeugungsarbeit brauchen – innerhalb der Partei, mehr aber noch gegenüber den Wählern.

„Noch eine Chance für die Liberalen“, möchte man vor diesem Hintergrund mit den Worten von Karl-Hermann Flach erbitten! In diesem Sinne sind die Freiburger Thesen an ihrem 40. Geburtstag als Mahnung zu verstehen. Und der Dahrendorfkreis wird sich dafür mit Nachdruck einsetzen, dass diese verstanden und die Chance genutzt wird. Die FDP wird noch gebraucht in Deutschland.

Montag, 15. August 2011

Detlef Gürtler - "Entschuldigung! Ich bin deutsch"

Wer momentan die Buchhandlung seines Vertrauens betritt, findet immer wieder kleine Heftchen, in denen die Autoren kurz und knapp eine starke These vertreten. Wieder salonfähig wurde dieser Form durch Stephane Hessels "Empört Euch!" - und dieser Tage kommt man in Deutschland auch ein anderes dieser kleinen Bücher kaum herum, liegt es doch fast überall gut platziert aus. Die Rede ist von Detlef Gürtlers "Entschuldigung! Ich bin deutsch" und ich muss gestehen: Das Buch hat mich für einen Moment ratlos zurückgelassen. Aber damit bin ich wohl - betrachtet man die anderen Rezensionen hier bei Amazon - nicht alleine.

Die Idee hinter dem Buch ist brilliant: Mit einer hinreichend provokativen, mit wenig Zeitaufwand zu lesenden Streitschrift, übersetzt in sieben Sprache eine Diskussion darüber loszubrechen, wie Europa sein sollte - und zwar indem man als Deutscher den deutschen Allmachtsanspruch auf die Schippe nimmt. Vor allem wenn man viel gereist ist, muss man an einigen Stellen schmunzeln, weil einem das, was man vielleicht erst als banales Vorurteil empfinden würde, eben in der Realität ohne bösen Willen immer wieder begegnet ist. Aus einer rein deutschen Perspektive betrachtet sind diese Stellen vermutlich nur halb so witzig, weil man die Wahrheit kennt. Insofern ist es eine echte Herausforderung an den Leser, das Buch auch als Deutscher im richtigen Kontext zu lesen. Und ich kann mir gut vorstellen, dass dies den einen oder anderen auch überfordert. Genau das ist die eigentliche Schwäche dieses Buches, vielleicht gepaart mit dem Versuch, zu viele Facetten der Thematik auf sehr wenige Seiten zwischen zwei kleine Buchdeckel zu packen. Es wird spannend sein zu sehen, wie sich das Buch außerhalb Deutschlands macht. Denn mit seinem Anliegen hat der Autor zu 100% recht: Wir brauchen eine über die Grenzen hinausgehende Diskussion darüber, wie Europa aussehen soll und welche Rolle wer darin spielen soll. Diese Frage sollten gerade auch wir Deutschen als größtes europäisches Volk immer wieder stellen... und Gürtlers Streitschrift "Entschuldigung! Ich bin deutsch" ist dafür ein wertvoller Impuls.

Sonntag, 14. August 2011

So alt und doch so aktuell...

"Die Institutionen, die in früheren Zeiten Werte setzten und Spielregeln festlegten: Elternhaus und Schule, sind dazu nicht mehr in der Lage, aber ohne eine solidaritätsschaffende und Orientierung bietende Ethik wird die Gesellschaft auf Dauer nicht bestehen können. Denn jede Gesellschaft braucht Bindungen, ohne Spielregeln, ohne Tradition, ohne einen ethischen Minimalkonsens wird unser Gemeinwesen eines Tages so zusammenbrechen wie vor kurzem das sozialistische System."

Marion Gräfin Dönhoff im Jahre 1997

Samstag, 13. August 2011

Ein Blick zurück in die Zukunft

"Eine Meldung über eine elektronische Zeitung, die blitzschnell Information in jedes Haus bringt. Gewiss, doch das Problem besteht darin, dass der Prozess der Beschleunigung der Information mit deren Verseichtung einhergeht. Immer mehr Information, gleichzeitig aber auch seichtere."

Eine spannende Beobachtung, gerade gefunden in Ryszard Kapuscinskis "Lapidarium" - aus dem Jahr 1992, wohlgemerkt. Und eine echte Aufgabe für uns als Konsumenten.

Samstag, 6. August 2011

Brüllendes Schweigen

Sarrazin, Henkel, Broder und Co sind fast schon omnipräsent. Doch wo sind die Verteidiger unseres liberalen Gesellschaftsmodells? Es ist an der Zeit, sich mit breiter Brust den Populisten in den Weg zu stellen.
Noch vorige Woche habe ich diejenigen wie Thilo Sarrazin, die sich von Menschen feiern lassen, deren Blick auf die offene Gesellschaft irgendwo zwischen ablehnend und feindlich einzuordnen ist, aufgefordert, sich zu bekennen und eine klare Trennlinie zwischen sich und dieser Gruppe zu ziehen. In dieser Woche wende ich mich eher an die, die auf der anderen Seite stehen und fordere sie auf: Bekennt euch! Überlasst den Gegnern unseres liberalen Gesellschaftsmodells nicht kampflos das Feld!

Dass diese Gefahr besteht, zeigt ein Blick ins Internet. Die Reaktionen auf meine eigenen Beiträge aus den letzten beiden Wochen sind beispielhaft für das, was im öffentlichen Diskurs, vor allem aber in der digitalen Welt derzeit gründlich schiefläuft. Wer sich nur mit den Kommentaren zu meiner Kolumne auf den verschiedensten Plattformen beschäftigt hat, muss zu dem Schluss kommen: Die große Mehrzahl derjenigen, die die Texte gelesen haben, halten mich für einen Hetzer und Verleumder und meinen Text für irgendwo zwischen schlecht recherchiert und dumm.

Nun ist es durchaus interessant, sich diese Posts einmal genauer anzuschauen. Immer wieder trifft man nämlich auf dieselben Vorwürfe, die die Kommentatoren dann auch gleich fleißig mit den immer gleichen Argumenten widerlegen. So heißt es immer wieder, es sei absurd, Sarrazin mit den Anschlägen in Norwegen in Verbindung zu bringen und dass es mir eben nur darum gehe, einen ehrenwerten Mann zu diskreditieren. Dass ich die Aussage selbst nie getroffen habe, interessiert dabei entweder niemanden, die Posts wurden aus reinem Reflex heraus geschrieben oder der Text wurde schlicht nicht verstanden. Alle drei Möglichkeiten helfen dabei nicht, die Debattenkultur zu befördern. Dasselbe gilt für die immer wiederkehrende Feststellung, ich hätte sicher Sarrazins Buch nicht gelesen und hätte daher eigentlich kein Recht mitzureden. Dass ich mich an keiner Stelle auf das Buch bezogen habe, wird dabei, gewollt oder nicht, ausgeblendet. Als besonders spannend – und kritisch – sehe ich aber die auch an vielen anderen Stellen zu findende Behauptung, dass diejenigen, die aufbegehren gegen den „Kulturmarxismus“, gegen die „Islamisierung Europas“, gegen die „EUdSSR“ genau diejenigen seien, die für die große, „schweigende Mehrheit“ sprächen, die sich nur nicht traue, das Wort zu erheben, weil man von den vermeintlich „linken Medien“ und den dahintersteckenden „Gutmenschen“ dann mit aller Gewalt im Rahmen einer „Hetzjagd“ möglichst „mundtot“ gemacht würde.

Davon abgesehen, dass mir nicht bewusst ist, dass irgendjemand von denen, die sich in Deutschland im Rahmen gewisser demokratischer Regeln gegen den „politischen Mainstream“ stellen, bisher mundtot gemacht worden wäre – im Gegenteil: Sarrazin, Henkel, Broder und Co sind fast schon omnipräsent in einer Medienlandschaft, die nach Provokation lechzt – glaube ich, dass noch ein anderer, viel wichtigerer Denkfehler bei den meist anonymen Schreiberlingen vorliegt. Denn alle Indikatoren zeigen: Sie sind alles, aber nicht schweigend und nicht die Mehrheit. Ersteren Teil widerlegen sie selbst, denn wer dermaßen herumbrüllt, kann es mit dem Schweigen nicht so ernst meinen, sondern sollte sich vielmehr einmal mit seinem Selbstbild beschäftigen. Zweiteren Teil für alle deutlich sichtbar zu widerlegen – und damit schließt sich der Kreis zur Einleitung dieses Textes – das ist die Aufgabe von uns allen, die wir derzeit aus einer Mischung aus Faulheit und Abscheu heraus nicht annehmen. Denn wer genau hinschaut, wird auch bei meinen Texten der vergangenen Wochen erkennen, dass die Zahl derer, die sich in den Kommentarspalten echauffieren, sich nur im Bruchteilbereich von der Zahl derer bewegt, die die Artikel bei Facebook empfehlen und damit ihre Zustimmung signalisieren. Es ist ein gutes Gefühl zu merken, dass die brüllende Minderheit eben doch nicht die schweigende Mehrheit ist, die sie gerne wäre. Aber es wird Zeit, dass aus Letzterer endlich eine sich bekennende, die Diskussion annehmende und sich den Populisten mit breiter Brust und Hand in Hand entgegenstellende Mehrheit wird. Es gilt, den im Internet verloren gegangenen Boden der öffentlichen Meinungsbildung zurückzugewinnen. Ich würde vorschlagen, wir fangen genau jetzt und an dieser Stelle damit an.
Zuerst erschienen bei "The European" am 4. August 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/7593-angriff-auf-die-liberale-gesellschaft

Mittwoch, 3. August 2011

Buchvorstellungen "Bürger. Macht. Politik." in Berlin und Hamburg

Am 8.8. erscheint mein neues Buch "Bürger. Macht. Politik." im Campus Verlag. Dazu wird es am selben Tag eine offizielle Buchpräsentation in Berlin geben. Diese ist natürlich öffentlich und kostet keinen Eintritt. Ich würde mich über großes Interesse und eine intensive, breite Diskussion freuen.

Stattfinden wird die Präsentation nicht etwa in einem klassichen Mitte-Café in gediegener Atmosphäre, sondern mitten im pulsierenden Kreuzberg, an einem Ort, wo Neues entsteht. Die Rede ist vom betahaus Berlin, gelegen direkt neben den Prinzessinnengärten in der Prinzessinnenstraße 19-20. Beginn der Veranstaltung ist um 19:30 Uhr, für Häppchen und Soft Drinks ist gesorgt und auch darüber hinaus ist das betahaus-Café bestens gerüstet, unter anderem mit leckerem Coffee Circle-Kaffee

Inhaltlich wird es neben der Vorstellung des Buches auch darum gehen, zu diskutieren, wie der Gedanke der losen Netzwerke, der in der Wirtschaft schon Raum greift, auch an anderen Stellen in der Gesellschaft einen Mehrwert bringen kann. Ich freue mich besonders, dass wir an diesem Abend auch den offiziellen Startschuss des Social Business-Startups "Doonited" feiern können. Es wird also doppelt spannend.

Hier die Event-Seite bei Facebook: Buchvorstellung Berlin.

Eine Woche später (am 15.8., 19:30 Uhr) geht es dann in Hamburg rund. Auch in einem pulsierenden Stadteil, auch in einem betahaus. Diesmal treffen wir uns, wenn Ihr wollt, im betahaus im Hamburger Schanzenviertel in der Lerchenstraße 28a / Eingang Schilleroper. Auch hier wird sicher hart diskutiert und neben "Doonited" wird auch "Protonet" seine Idee vorstellen. Spannend, das kann ich versprechen!

Auch hier die Event-Seite bei Facebook: Buchvorstellung Hamburg. Darüber hinaus hat auch die betahaus-Crew selbst in ihrem Blog etwas geschrieben.

Kommt zahlreich - ich freue mich!

Donnerstag, 28. Juli 2011

Gedanken zum Primitivbürger

In meinem gestrigen Blogpost habe ich den Begriff „Primitivbürger“ genutzt, ohne allerdings groß darüber nachzudenken, wie ich diesen definieren würde. In meinem Kopf habe ich natürlich ein sehr genaues Bild. Nachdem aber Detlef Gürtler diesen in seinem Wortistik-Blog bei der taz aufgegriffen hat und dem Begriff damit ein etwas größeres Forum geschaffen hat, habe ich mich entschlossen, noch einmal zu versuchen, den Begriff etwas konkreter zu fassen.

Wie Gürtler richtig feststellt, gibt es neben dem eigentlichen und ursprünglichen Bürgerbegriff eine ganze Reihe von „Bindestrichbürgern“: „Kleinbürger, Spiessbürger und Bildungsbürger gibt es schon lange, Mutbürger und Wutbürger sind in den vergangenen Monaten dazu gekommen.“ Nach meinem Empfinden macht es auch durchaus Sinn, den „Primitivbürger“ in Abgrenzung zu diesen Gruppen zu sehen.

Dies fällt im Fall des Mutbürgers besonders leicht, denn zwischen beiden Spezies steht ein komplett unterschiedliches Weltbild. Während der Mutbürger zwar nicht unkritisch, immer aber optimistisch und grundsätzlich kompromissbereit ist, verharrt der Primitivbürger in einem negativen Weltbild, dass nicht unbedingt auf eigener Anschauung, sondern eher auf dem Austausch am „Stammtisch“ oder in einschlägigen „politisch inkorrekten“ Foren basiert. Überschneidungen mit Klein- und Spießbürger sind bei dieser Charakterisierung wenig überraschend. Man sollte allerdings nicht den Fehler machen, die Mitglieder des „Primitivbürgertums“ nur in diesen Kreisen zu suchen. Denn die besondere Problematik in diesem Fall liegt darin, dass zunehmend auch Menschen, die man eigentlich schon alleine der Ausbildung oder des Titels wegen dem Bildungsbürgertum zurechnen würde, sich in ein derart holzschnittartiges, schwarz-weißes Weltbild flüchten.

Diese Beobachtung gilt, laut Dirk Kurbjuweit, der den Begriff in seinem Essay für den Spiegel einem breiteren Publikum gegenüber eingeführt hat, so auch für den Wutbürger. „Der Wutbürger wehrt sich gegen den Wandel, und er mag nicht Weltbürger sein. […] Der Wutbürger denkt an sich, nicht an die Zukunft seiner Stadt. […] Er vergisst zudem, dass er die Demokratie trägt. […] Der Wutbürger hat das Gefühl, Mehrheit zu sein und die Lage besser beurteilen zu können als die Politik. Er macht sich zur letzten Instanz und hebelt dabei das gesamte System aus.“
 
So weit, so gut. Er wirft allerdings die Gegner eines Projektes wie Stuttgart21 damit in einen Topf mit denen, die sich im Internet nicht zu schade sind, Hasspamphlete zu schreiben, immer nach dem Motto: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen.“ Nicht Engagement folgt bei diesen aus der Unzufriedenheit, sondern blanker, ungesteuerter Hass, der sie gerade dieser Tage wieder jeglichen Anstand, jegliche Form von „bügerlicher Tugend“ vergessen lässt.
 
Kurbjuweit schreibt: „Contenance im Angesicht von Schwierigkeiten, das zeichnet ein wohlverstandenes Bürgertum aus. Eifer gegen andere Menschen, Rassen, Volksgruppen, Religionen ist unziemliches Verhalten, ist unanständig. Das gebieten der Satz von der Gleichheit des Menschen und das Gefühl für Menschlichkeit.“ Er spricht von diesen als einer Gruppe der von ihm skizzierten Wutbürger. Damit beschreibt er aber vielmehr den Primitivbürger, wie ich ihn verstehe.

Dienstag, 26. Juli 2011

Supergau des Primitivbürgertums

Die Anschläge von Oslo halten die Welt weiterhin in Atem. Es wird spekuliert und diskutiert. Unabhängig davon, ob der Attentäter, der fast 80 Unschuldige auf dem Gewissen hat, nun nach psychologischen Kriterien wahnsinnig war oder nicht, scheint er doch ein geschlossenes Weltbild gehabt zu haben, das auch in Deutschland immer mehr Zuspruch findet und das maßgeblich auf den Säulen Staats- und Ausländerfeindlichkeit und Anti-Islamismus basiert.

Das deutsche Portal „Politically Incorrect“, das nach eigenen Angaben zwar „gegen die Islamisierung Europas“, gleichermaßen aber auch „für Grundgesetz und Menschenrechte“einzutreten vorgibt, de facto aber vor allem primitivstem rechten Gedankengut eine Plattform bietet, reagierte umgehend, als es kurz nach dem Anschlag erste Vermutungen in Richtung eines islamistischen Hintergrundes gab. Der Grund dafür, dass Norwegen Anschlagsziel geworden war, war vermeintlich schnell gefunden: die offene Gesellschaft. Wörtlich heißt es dort: „Wie in Skandinavien üblich, gab man sich in Oslo immer liberal, hat jeden Verbrecher aufgenommen und immer machen lassen und nie mehr ausgewiesen […].“ Ein gewisser Triumph a la „Wir haben es schon immer gewusst!“ schwingt dort deutlich mit.

Diese Schadenfreude ist zwar in hohem Maße unappetitlich – doch sie währte nicht lange. Mit der Überschrift „Eine konservative Katastrophe“ betitelte die Seite den Artikel, in dem sie sich ungewohnt kritisch gibt und damit den Weg für eine ehrliche, entemotionalisierte Auseinandersetzung mit der Problematik aufzeigt. Zwar steht nicht zu vermuten, dass sie dies selbst auch dann befördert hätte, wenn sich der Anschlag tatsächlich als islamistisch herausgestellt hätte, aber diese Frage soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. „Dieser Beitrag soll […] eine sachliche Analyse und keine Reinwaschung von Eigenverantwortung sein“, heißt es dort. Und weiter: „Was er [der Attentäter] schreibt, sind größtenteils Dinge, die auch in diesem Forum stehen könnten.“ Auch die Erkenntnis am Ende ist durchaus bemerkenswert, wird dort doch festgestellt, dass es wichtig sei, „zu bemerken, dass „die Bösen“ nicht immer nur andere sind. Wir dürfen uns vor lauter Auf-andere-mit-dem-Finger-zeigen nicht unserer Eigenverantwortung entziehen.Wir stehen in der Verantwortung für unser Denken und Handeln. Und in dieser schweren Stunde ist es unsere Pflicht, die Schuld nicht zuerst bei anderen zu suchen, sondern den Angehörigen unser Beileid auszusprechen.“ Soweit, so richtig. Und die Reaktion der eigenen Unterstützer? Vorsichtig gesagt: fatal. Mäßigung, das wird schnell deutlich, ist nicht besonders en vogue...

Es scheint, als gäbe es eine nicht zu unterschätzende Zahl von Menschen, die selbst angesichts solcher menschenverachtender Anschläge wie der von Norwegen in der Anonymität des Internets nicht davor zurückschrecken, ihre Sympathien für Gewalt gegen das verhasste System auch in Deutschland zu verschriftlichen. Eine „Braune Armee Fraktion“, so scheint es zumindest, dürfte durchaus nicht nur auf Abscheu und Ablehnung treffen. Interessant ist dabei, dass sich die Primitivbürger, die sich auf den entsprechenden Seiten tummeln, dieser Tage selbst entlarven. Bei einem Sportler würde man sagen: Unter Druck versagen ihm die Nerven.


Nach scheinheiliger Anteilnahme folgen regelmäßig Argumentationsmuster, die sie selbst einem Moslem (oder „Musel“, wie sie in der Szene regelmäßig abfällig genannt werden) oder einem „Gutmenschen“ (darunter ist jeder zu verstehen, der nicht ihr fundamentalistisches Weltbild teilt) niemals durchgehen lassen würden. „Der Postillion“ hat das Phänomen in einem kurzen, aber äußerst bemerkenswerten Beitrag auf den Punkt gebracht: „Rassisten, die Moslems wegen der Taten Einzelner hassen, wollen nicht für Taten Einzelner verurteilt werden.“ Umgekehrt, da sind sie sich einig, ist aber weiterhin jeder Moslem ein nur getarnter Islamist und Terrorist, denn, wie es in der Szene immer wieder heißt: „Islam verhält sich zu Islamismus, wie Terror zu Terrorismus“. Soweit so schlecht.

Während manche noch krampfhaft versuchen, ihre Anteilnahme zu heucheln, ist einer der bekanntesten Köpfe der deutschen Anti-Islam-Szene, der Blogger Michael Mannheimer, schon „weiter“. Er scheut sich nicht, stolz auf einen Post aus dem Jahre 2009 hinzuweisen, in dem er einen Bürgerkrieg in Norwegen aufgrund einer Überfremdung vorhergesagt hat (Lieber Verfassungsschutz, schaut doch mal bei dem Herren vorbei. Vielleicht kam seine Voraussage ja auch durch eine persönliche Beziehung zu Breivik zu Stande. Falls nicht, habt Ihr dem Herrn wenigstens den Tag versaut und ihn für einige Stunden davon abgehalten, sein Gift weiter zu verspritzen...). In so einem Weltbild (nach eigenen Angaben aufklärerisch... da hat wohl jemand in der Schule nicht aufgepasst!?), sind Frauen auch selbst daran Schuld, wenn sie vergewaltigt werden. Weit weg von den von ihm so verhassten Islamisten bewegt er sich dabei nicht, aber das zu bemerken, dazu reicht die Selbsterkenntnis vor zu viel blindem Hass leider nicht. Und er geht sogar noch weiter, hat er doch schon am Samstag (!) eine Grafik ins Netz gestellt, in der er mehrere Millionen Tote aus islamistischen Anschlägen den 90 Toten aus den Anschlägen von Norwegen gegenüber stellt. Dazu ist wohl kein weiterer Kommentar nötig.

Die Verzweiflung, das wird an diesen Vergleichen deutlich, greift in der Szene um sich. Doch Vorsicht: Verwundete Tiere sind häufig am gefährlichsten. Es liegt nun in der Hand von uns als aufgeklärten Bürgern der offenen Gesellschaft, die Taten von Norwegen aus einem Anschlag auf unser Weltbild in einen Supergau für das rechte Primitivbürgertum zu verwandeln, indem wir bei allen unbestrittenen Spannungen zusammenstehen und wieder mit Kraft an einer Gesellschaft bauen, in der Freiheit und Verantwortung für alle gleichermaßen gelten und jeder seine Rolle hat. Ich will weiter daran glauben, dass das möglich ist. Nun liegt die Verantwortung bei jedem, seinen Teil dazu beizutragen...

Freitag, 15. Juli 2011

Der Fall Chatzimarkakis

Unser Kolumnist ist mit dem FDP-Plagiator Jorgo Chatzimarkakis befreundet. Er wirbt für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern – dann ist auch eine zweite Chance gerechtfertigt.

Seit gestern ist es offiziell: Dr. Georgios Chatzimarkakis ist in Zukunft nur noch Jorgo Chatzimarkakis – ohne Doktortitel, dafür aber mit mehr als nur einem blauen Auge. Mir tut das leid. Persönlich wie politisch. Ich bin mit Jorgo seit einigen Jahren befreundet, wir teilen viele, wenn auch nicht alle Ideen, wir haben einige Schlachten gemeinsam geschlagen. Jorgo hat das Vorwort zu meinem ersten Buch geschrieben und wir haben gemeinsam mit einigen anderen den Dahrendorfkreis als Forum für ganzheitlichen Liberalismus in der FDP gegründet. Dass Jorgo öffentlichkeitswirksam seinen Titel abgeben musste, macht uns die inhaltliche Arbeit sicher nicht leichter.

Es wäre nun vermeintlich ein Leichtes, sich offiziell von Jorgo zu distanzieren, ihn auszugrenzen. Oder, auch das findet man im politischen Betrieb häufig genug, ihm umso demonstrativer den Rücken zu stärken, so wie das etwa die Union im Fall zu Guttenberg getan hat. Auch das wäre nicht untypisch für die Politik, wie wir sie kennen. Ich will allerdings weder das eine noch das andere tun, sondern vielmehr dafür werben, den Fall Chatzimarkakis zum Anlass zu nehmen, sich Themen wieder ein wenig differenzierter zu nähern. Was ich damit meine?

Nun, vielleicht lohnt es sich, ein wenig weiter auszuholen. Ich bin kein Jurist, aber ich habe doch, wie vermutlich jeder, der sich lange genug in unserem gemeinsamen Rechtssystem bewegt, das Gefühl, dass sich der Umgang mit den vermeintlichen Verfehlungen eines Menschen nicht nur an dem Ob, sondern besonders stark auch an dem Was und an dem Wie orientiert. So herrscht ein gesellschaftlicher Konsens etwa darüber, dass ein Kinderschänder schärfer zu bestrafen ist als ein Falschparker und dass es einen Unterschied macht, ob jemand fahrlässig, grob fahrlässig oder gar vorsätzlich gehandelt hat.

Betrachtet man nun mit diesem Gedanken im Hinterkopf die Fälle zu Guttenberg und Chatzimarkakis einmal genau und ohne Polemik, so müsste man schnell zu dem Schluss kommen, dass ein jeweils differenziertes Urteil angebracht wäre. Während einer, nämlich zu Guttenberg als er schon Abgeordneter war vorsätzlich getäuscht hat, sich ganz offensichtlich in ungehöriger Weise helfen ließ und es sich nicht nehmen ließ, die Öffentlichkeit fast schon zu verhöhnen, wird der andere, nämlich Chatzimarkakis mit derselben Strafe vor allem dafür belegt, dass er es am Ende seiner mehrjährigen Doktorarbeitszeit mit der Zitierweise nicht mehr allzu genau nahm. Sicher haben auch nicht alle seine Äußerungen zur Objektivierung beigetragen. Die Situation an sich allerdings, zumal in einem politisch aufgeheizten Umfeld, lies eine Differenzierung von Anfang an kaum zu.

Die Uni Bonn steckte in einem Dilemma: Die Aberkennung des Titels ist eine vergleichsweise harte Strafe dafür, dass am Schluss der Dissertation vielleicht auch ein wenig Lust und Zeit fehlten, um wissenschaftlich sauber zu Ende zu arbeiten. Schuld ist Jorgo daran allerdings trotzdem selbst. Und deswegen hätte ein glatter “Freispruch” auch ein falsches Zeichen gesetzt und den Ruf der Uni und der Wissenschaft an sich noch weiter beschädigt. Zwischen diesen beiden Optionen, das ist aus meiner Sicht auch ein wenig die Tragik an diesem Fall, gab es keine realen Möglichkeiten zu handeln.

Jorgo hat inzwischen angekündigt, die Aberkennung des Titels nicht auf sich beruhen lassen. Damit meint er allerdings offensichtlich (und hoffentlich) nicht, dass er juristisch gegen diese Entscheidung vorgehen will, sondern dass er sich nun abermals um den Erwerb der Doktorwürde bemühen will. Ich empfinde diese Ankündigung als respektabel. Und ich möchte dafür werben, dass er eine zweite Chance bekommt – im Wissenschaftsbetrieb, wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Auch Politiker sind Menschen und machen Fehler. Mir persönlich ist es deutlich lieber, wenn man zu den eigenen Verfehlungen – von denen keiner von uns in Gänze frei ist – steht, die „Strafe“ anerkennt, selbst wenn man nicht mit der Bewertung übereinstimmt und dann umso härter daran arbeitet, zu beweisen, dass man es auch anders und besser kann. Das würde der Situtation gerecht und auch – diese persönliche Anmerkung sei mir erlaubt – dem Menschen Jorgo Chatzimarkakis, so wie ich ihn kenne. Die Gänsefüßchen allerdings, die müssen diesmal sitzen… da gibt es keine Ausreden mehr. Denn am Ende kommt man nicht durchs Leben, ohne in den entscheidenden Situationen dicke Bretter zu bohren. Auch das ist ein wertvolles Zeichen in dieser schnelllebigen Zeit…
 

Brief an den Bundespräsidenten

Unser Kolumnist antwortet auf die Parteikritik von Christian Wulff: Wie aufrichtig kann jemand ein System kritisieren, der mit ihm groß geworden und tief darin verwurzelt ist? Und warum hängt das Bürgerforum immer noch in der Warteschleife fest?

Vor einer Woche habe ich an gleicher Stelle noch geschrieben, dass ich mich nicht zu einem Resümee zu Christian Wulffs einjährigem Jubiläum hinreißen lassen will. Was hätte man auch sagen sollen, was nicht von den Leitartiklern dieser Republik schon geschrieben wurde? In der „Zeit“ von voriger Woche war dann allerdings ein großes Interview mit unserem Bundespräsidenten, das mich dazu provoziert hat, doch noch einmal meine Gedanken aufzuschreiben, und zwar in Form eines offenen Briefes. Ich bin gespannt, ob ich diesmal eine Antwort erhalte …

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

ich möchte Ihnen herzlich zu Ihrem ersten Amtsjubiläum gratulieren. Ich habe mit großem Interesse Ihr dazu erschienenes Interview in der „Zeit“ gelesen.

Zunächst einmal bleibt festzuhalten: Vieles von dem, was Sie in Ihren Antworten formulieren, ist gut beobachtet und richtig. „Etwas ist aus den Fugen geraten“, so der Titel, das trifft es ganz gut. Läse man den Text als interessierter Bürger, ohne zu wissen, wer der Gesprächspartner ist, man hätte das Gefühl, dass hier jemand der politischen Klasse kräftig die Leviten liest, der anders ist. Jemand, der uns Bürger versteht. Jemand, der sich nicht an den typischen Machtspielchen beteiligen will. So stellen Sie fest, „dass Parlamente stärker an Entscheidungen teilhaben müssen. Dass heute zu viel in kleinen ‚Entscheider‘-Runden vorgegeben wird, was dann von den Parlamenten abgesegnet wird. Darin sehe ich eine Aushöhlung des Parlamentarismus. Damit schwindet die Grundlage für Vertrauen, fehlt die Transparenz und Teilhabe für Bürger und Parlamentarier.“

Sie beschreiben damit ein gefährliches Phänomen, das seit einiger Zeit in vielen westlichen Demokratien unter dem Schlagwort „Postdemokratie“ diskutiert wird. Ihre Beobachtung bezieht sich maßgeblich auf die vermeintlich „alternativlosen“ Entscheidungen, die im Rahmen von intergovernmentalen Verhandlungen vorstrukturiert und in den nationalen Parlamenten nur noch abgenickt werden. Ihre Beobachtungen sind richtig, Ihre Worte wohl gewählt. Aber wie steht es um Ihre eigene Glaubwürdigkeit?

Seien wir doch einmal ehrlich: Die Beschreibung der Problematik eignet sich ebenso gut, um den Prozess zu beschreiben, mit dem Sie selbst ins Amt gekommen sind. Das ist dann ungefähr so, als ob sich Diego Maradona über ein vermeintliches Handspiel des Gegners aufregt: Vielleicht hat er ja recht, aber irgendwie wirkt es scheinheilig. Zumal Sie doch mit allzu großer Zurückhaltung formulieren. Wer ist der Adressat Ihrer Worte? Wollen Sie nur die Bürger beruhigen, Ihnen das Gefühl geben, dass doch irgendwie alles in Ordnung ist, weil Sie sich kümmern? Oder wollen Sie echte Denkprozesse anstoßen? Dann müssen Sie deutlicher formulieren und auch mit Nachdruck dafür sorgen, dass Ihre Impulse nicht zur Kenntnis genommen werden, sondern auch in Diskussionen münden.

Keiner verlangt von Ihnen Statements zu tagespolitischen Themen, das ist nicht die Rolle eines Bundespräsidenten. Zu übergreifenden Themen, wie etwa dem der Aushöhlung der Demokratie, dürfen Sie sich aber durchaus auch ein wenig lauter äußern und Veränderungen im Handeln nicht nur anregen, sondern auch einfordern. Diese Macht hätten Sie. Dafür werden Sie ab und an auch denen wehtun müssen, die Sie gewählt haben. Das bringt die Rolle mit sich. Ein Anfang wäre doch vielleicht, dass Sie dafür sorgen, dass das von Ihnen protegierte und in dem „Zeit“-Interview angesprochene Bürgerforum 2011, bei dem zum ersten Mal nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger eine politische Agenda formulieren können, nicht weiter unter der Abwesenheit der Politik-Prominenz zu leiden hat. Wenn Sie das nicht schaffen, werden Sie auch in Zukunft Teil des Ihnen selbst beschriebenen Problems, der „Postdemokratie“, sein. Das wäre doch schade.

Sollten Sie etwas ändern wollen, wissen aber noch nicht wie, dann sagen Sie gerne Bescheid. Mir würden da so ein paar Leute einfallen, mit oder ohne Parteibuch, männlich oder weiblich, mit verschiedensten Hintergründen, die sich sicher Zeit nehmen würden, um zu unterstützen. Ehrenamtlich, natürlich. Genug Platz für ein paar Zelte sollte im Garten von Bellevue wohl sein …

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Christoph Giesa
 
Zuerst erschienen am 7.7.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/7288-ein-jahr-christian-wulff

Sommerloch der positiven Überraschungen

Vor genau einem Jahr wurde Christian Wulff neuer Bundespräsident. Viel hat sich, trotz des groß angekündigten Herbsts der Entscheidungen, nicht getan. Doch noch ein Jahr im Stillstand können wir uns nicht leisten.

Der Juni neigt sich dem Ende entgegen und diese Woche ist es genau ein Jahr her, dass mit Christian Wulff ein neuer Bundespräsident gewählt wurde. Den Gedanken, ein paar Beobachtungen über seine Amtsführung niederzuschreiben, habe ich verworfen – egal was ich schreiben würde, niemand würde mir eine rationale Betrachtungsweise abnehmen. Auch die sich als Nächstes aufdrängende Idee hatte keine allzu lange Halbwertszeit: eine Betrachtung der allgemeinen politischen Entwicklung in den letzten zwölf Monaten. Warum? Nun, so richtig viel ist irgendwie nicht passiert.

Vor genau einem Jahr musste Griechenland von der EU vor dem Staatsbankrott gerettet werden, es gab eine hart geführte Debatte über Atomkraft, Schwarz-Gelb stritt sich über Sicherheitsgesetze und Steuersenkungen, es gab Probleme in Afghanistan. Alles so wie heute auch. Nur dass Guido Westerwelle jetzt Philipp Rösler heißt, Guttenberg einen längeren Urlaub nimmt und die Diskussion beim Thema Atomkraft nicht mehr darum geht, wie spät man aus dieser aussteigen kann, sondern wie früh. Ich habe daher für diese Woche entschieden, mich lieber einer ganz persönlichen Erinnerung an den Tag der Bundespräsidentenwahl, bei der ich im Bundestag live dabei sein durfte, zu widmen.

Bilder habe ich genügend im Kopf: Die Ausfälle von Diether Dehm von der Linken etwa, der die Wahl zwischen Wulff und Gauck als Wahl zwischen „Pest und Cholera“ oder „Hitler und Stalin“ verglich. Oder das von Wolfgang Bosbach von der Union, der nach dem aus seiner Sicht reichlich misslungenen ersten Wahlgang mit hochrotem Kopf und pulsierender Halsschlagader die „Abweichler“ aus den eigenen Reihen in einer Art beschimpfte, dass einem das freie Mandat endgültig wie des Kaisers neue Kleider vorkam: Alle reden davon, keiner hat es je gesehen. Aber auch das gemeinsame Eisessen mit der Schriftstellerin Monika Maron vor dem Brandenburger Tor, garniert von spannenden Erfahrungsberichten aus der DDR. Ganz besonders in Erinnerung geblieben sind mir aber jene Minuten zwischen dem zweiten und dritten Wahlgang, die ich alleine mit Joachim Gauck im Turmzimmer des Reichstages verbringen durfte.

Wir saßen nebeneinander und blickten aus dem Fenster auf das Brandenburger Tor, das an diesem warmen Sommertag von der Abendsonne bestrahlt wurde. Wir warteten auf das Ergebnis des dritten und entscheidenden Wahlgangs und ich sprach aus, was mir gerade durch den Kopf geht. „Merken Sie, wie sich der Kreis gerade schließt, Herr Gauck? Vor nicht viel mehr als zwanzig Jahren haben Sie noch darum gekämpft, einmal die Quadriga von dieser Seite sehen zu können. Und heute ist das eine Selbstverständlichkeit für Sie.“ Joachim Gauck schaute mich an. „Haben Sie mein Buch etwa schon gelesen?“ Er meinte seine Biografie „Winter im Sommer – Frühling im Winter“. Nein, das hatte ich nicht. Er setzte sich mir gegenüber und begann, mir den Epilog vorzulesen. Ich war gefesselt, denn es stellte sich heraus, dass er ein Jahr zuvor an selber Stelle, anlässlich der Wiederwahl Horst Köhlers als Bundespräsident, einem ganz ähnlichen Gedanken nachgehangen hatte und sich daraufhin am Reichstag vor der deutschen Fahne fotografieren ließ. Wir gingen hinaus auf den Balkon und machten ein gemeinsames Foto, mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund. Unten riefen die Passanten nach ihm und winkten fröhlich. Irgendwie kitschig, ich weiß. Aber irgendwie war in dem Moment auch ausnahmsweise einmal alles gut.

Ich habe an dem Tag der Wahl eine gute Flasche Champagner gewonnen bei einer Wette. Kaum jemand hatte wohl mit einem Showdown im dritten Wahlgang gerechnet. Die Flasche steht immer noch in meiner Küche und ich glaube, dieser Freitag ist ein guter Zeitpunkt, um sie zu köpfen, einfach so. Um die Geschichte abzuschließen. Und in der Hoffnung, dass sich spätestens ab Montag dann endlich wieder etwas bewegt. Denn ganz im Ernst: Noch ein weiteres Jahr des Stillstands können wir uns wirklich nicht leisten. Der Herbst der Entscheidungen im vorigen Jahr war de facto keiner. Vielleicht geht das ja auch andersrum? Ich wünsche mir daher einfach einmal ein Sommerloch der positiven Überraschungen … Wir werden sehen.
 
Zuerst erschienen am 30.6.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/7170-ein-jahr-bundespraesident-wulff

Warum Kamele lachen

Die Schadenfreude ist wieder salonfähig: ob der Tod eines Top-Terroristen, verletzte Polizisten oder Atomunglück in Japan. Dabei sollte kein Kamel Schadenfreude über den Buckel eines anderen empfinden, denn wir sitzen alle im selben Boot.

In den 90ern war die Serie „Bitte lächeln“ auf dem dann zu Recht untergegangenen und inzwischen wieder auferstandenen Fernsehsender Tele5 ein Erfolgsformat. Der Anspruch war gering: Ein paar schlechte Anmoderationen für noch schlechtere Homevideos mit stürzenden Menschen oder verwirrten Tieren, fertig. Ziel der Sendung war nichts anderes, als mit der Schadenfreude der Menschen Quote zu machen.

Zugegebenermaßen habe auch ich die Sendung mehr als einmal gesehen – und auch ab und an herzhaft gelacht. Schadenfreude zu empfinden ist zwar nicht unbedingt moralisch, vermutlich aber menschlich. Was mir dieser Tage allerdings sauer aufstößt, ist, dass Missgunst, Zynismus und eben auch Schadenfreude immer unverhohlener auch in der Politik um sich greifen – ohne dass man sich Gedanken über die Tiefenwirkung machen würde.
Schadenfreude ist wieder salonfähig

Als besonders unangenehmes Beispiel habe ich die Einlassungen von Teilen der Stuttgart-21-Gegner in Richtung der bei den Ausschreitungen der vergangenen Tage verletzten Polizisten empfunden. Anstatt ein deutliches Zeichen zu setzen und sich von jeglicher Form von Gewalt zu distanzieren, werden die Verletzten – die im Auftrag des deutschen Steuerzahlers ihren Dienst getan haben – mit offensichtlicher Genugtuung verhöhnt. Unabhängig davon, wie man persönlich solchen Einlassungen gegenübersteht: Wer will sich noch darüber wundern? Nachdem die Kanzlerin in deutlichen Worten ihre Freude über den Tod Osama bin Ladens geäußert hat, scheint es salonfähig zu sein, sich über den Schaden des ungeliebten Gegenübers nicht mehr nur klammheimlich, sondern vielmehr auch öffentlich zu freuen. Wer sich immer noch nicht traut, sich öffentlich zu bekennen, der nutzt dann eben die Anonymität des Internets.

Die Beispiele lassen sich fortsetzen – und ziehen sich durch alle politischen Lager. Bei den Atomkraftgegnern konnte man hier und da eine seltsame Genugtuung hinsichtlich des Unglücks in Fukushima spüren, frei nach dem Motto: Jetzt wird zumindest endlich deutlich, dass wir all die Zeit recht hatten. Das Leid der Menschen trat anscheinend in den Hintergrund. Ähnlich geht es vielen Konservativen, die sich derzeit darüber freuen, dass die europäische Einigung infrage zu stehen scheint, oder den Gegnern der zunehmenden Ökologisierung der Gesellschaft, die nicht schnell und laut genug feststellen können, dass EHEC offensichtlich gerade von einem Biohof ausging und damit das gesamte Konzept gescheitert sei – während eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen in Krankenhäusern um ihr Leben kämpfte und noch immer kämpft.
Wie die Hyänen

Die Gegner von mehr direkter Demokratie führen immer wieder das in der Schweiz im Rahmen eines Volksentscheids beschlossene Bauverbot für Minarette als Begründung für ihre Position an – denn so etwas würde dann ja auch in Deutschland möglich. Dass sie allerdings tatsächlich unglücklich über die Entscheidung der Eidgenossen wären, lässt sich nicht erkennen. Eher im Gegenteil. Auch in der Diskussion um die Doktorarbeit von Silvana Koch-Mehrin lässt sich beobachten, wie etablierte Politiker aus dem Europaparlament jetzt wie die Hyänen über sie herfallen – selbst gute Argumente werden mit Blick auf die Person vom Tisch gewischt.

Es bestätigt sich – gerade hier – wieder das alte Sprichwort: Der Mensch ist nun einmal zur Freude geboren! Kann er sich nicht über seine eigene Schönheit freuen, so freut er sich gewiss über die Hässlichkeit der anderen. Für das Ansehen der Politik, für die Vorbildfunktion, die ihre Protagonisten ausfüllen sollen, ist dieses Verhalten mindestens genauso abträglich wie der Schwindel bei einer Doktorarbeit.

Vielleicht sollte sich der eine oder andere einmal an die eigene Nase fassen und versuchen, seine Ziele mit guten Argumenten und nicht durch Diskreditierung des jeweiligen Gegners zu erreichen. Denn wie schon ein afrikanisches Sprichwort richtig sagt: Ein Kamel sollte keine Schadenfreude über den Buckel eines anderen empfinden. Denn am Ende, das sollte uns allen klar sein, sitzen wir trotz aller Meinungsverschiedenheiten immer noch in einem Boot.
 
Zuerst erschienen am 23.6.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/7127-von-der-schadenfreude

Die Mär vom Wechselgeld

Die Idee der Gemeinschaftswährung wird wieder infrage gestellt und schnell werden die zu Kronzeugen, die damals schon vor dem Euro gewarnt haben. Doch wer jetzt auf die Scharlatane hereinfällt, darf sich keiner Illusion hingeben: ein Schritt zurück wäre das Ende.

Vorige Woche habe ich mich an dieser Stelle für eine Neudefinition der europäischen Idee ausgesprochen und deutlich gemacht, dass zu dieser aus meiner Sicht unfraglich auch eine ehrliche Bestandsaufnahme gehört. Es muss Schluss sein mit dem Versuch, unübersehbare Struktur- und Demokratiedefizite mit wolkigen Sonntagsreden zu überdecken. Keine Frage: Wem Europa wichtig ist, der darf, nein: muss dem derzeitigen Zustand gegenüber kritisch sein.

Was allerdings derzeit zu beobachten ist, ist die schleichende Übernahme dieser Position durch Kräfte, die damit eine ganz andere Agenda zu legitimieren versuchen. Wer sich mit den Phänomenen der europaskeptischen Bewegungen in Europa auseinandersetzt, findet eine ganze Reihe bemerkenswerter Parallelen, die jedem aufgeklärten Bürger als Warnung dienen sollten. So stößt man in den entsprechenden Pressemitteilungen und Diskussionsforen immer wieder auf Hinweise darauf, dass es ja schon in den Neunzigern prominente Stimmen gegeben habe, die sich gegen die Währungsunion ausgesprochen hätten, unter anderem auch der große linksliberale Sozialphilosoph Lord Ralf Dahrendorf, und die nun als Kronzeugen für die Forderung nach einer Rückkehr zu nationalen Währungen oder zumindest für einen Ausschluss von Griechenland, Portugal und Co. aus der Eurozone herhalten müssen. Was dabei gerne – und in vielen Fällen auch vorsätzlich – übersehen wird: Die Situation damals war eine andere, als sie es heute ist. Vielleicht wäre es intelligenter gewesen, anders vorzugehen. Vielleicht hätte auch die europäische Idee keinen Schaden genommen, hätte man den Euro niemals eingeführt. Heute wäre ein Schritt zurück das Ende.

Die Kunst von Politik besteht zu mindestens 50 Prozent aus Psychologie – und aus dieser Perspektive betrachtet wird die europäische Idee für die ganz große Mehrzahl der europäischen Menschen eben durch offene Grenzen und die gemeinsame Währung greifbar. Die vermeintlich rationale Begründung, dass Euro und Europäische Union ja zwei verschiedene Paar Schuhe seien, weil Länder wie Großbritannien oder Schweden in der EU Mitglied seien, und trotzdem noch ihre eigene Währung hätten und man deshalb in Zukunft auch wieder das eine ohne das andere haben könne, ist irgendwo zwischen naiv und böswillig einzuordnen. Die Erfolgswahrscheinlichkeit dieses „Experiments“ wäre ungefähr so groß, wie wenn man 1990 versucht hätte, mit rein zahlengetriebenen Argumenten die deutsche Einheit zu verzögern. Manchmal öffnet sich ein Window of Opportunity in der Geschichte nur ganz kurz – oder man glaubt das zumindest – und dann greift man eben zu. Nachher ist man immer klüger.

Diejenigen allerdings, die heute solcherlei Thesen in die Welt setzen, geben zwar mit Dackelblick vor, damit eigentlich Europa retten zu wollen; in weiten Teilen sind es aber diejenigen, die mit der großen Vision eines geeinten Europas, in dem das Nationale an Bedeutung verliert, nie etwas am Hut hatten, und nun die Chance für ihren ganz persönlichen Revisionismus kommen sehen. Dass es sich eben nicht maßgeblich um überzeugte, weltoffene Europäer, sondern um nationale und konservative Kräfte handelt, wird auch dadurch deutlich, dass die euroskeptischen Parteien in Europa oftmals gleichzeitig auch für eine Rückkehr von homophobem, chauvinistischem und antimuslimischem Gedankengut stehen. Die starke Dominanz gewisser Jahrgänge im mittleren Alter ist quer durch diese Bewegungen eklatant – und lässt vermuten, dass es sich in weiten Teilen um diejenigen handelt, die mit dem liberalen Mainstream der vergangenen Jahrzehnte sowieso nicht glücklich waren und ansonsten irgendwo zwischen der Kriegs- und der Erasmus-Generation, für die wiederum aus ganz unterschiedlichen Gründen das Nationale abstrakt und der europäische Gedanke charmant bis begeisternd sind, verloren gingen.

Der Wunsch nach einer Rückbesinnung auf die kleine Einheit, auf das Bekannte, ist vielleicht persönlich nachvollziehbar – in einer globalisierten Welt allerdings würde das ein Zurückfallen im internationalen Wettbewerb bedeuten. Ohne eine starke EU steht auch der langfristige Erfolg der einzelnen europäischen Länder und ihrer Bürger infrage. Vielen von denjenigen, die besonders laut gegen den Euro und Europa insgesamt hetzen, scheint dies durchaus bewusst zu sein. Das lässt sich auch daran ablesen, dass dieselben Stimmen (die gerne auch noch auf ihre Mitgliedschaft in populistischen Parteien wie der „Freiheit“ oder der „Partei der Vernunft“ hinweisen), die in politischen Diskussionsforen einen Zusammenbruch des Euro mit herbeireden, indem sie ihn dauernd voraussagen und die schlimmsten Szenarien für die Zeit danach skizzieren, an anderer Stelle in Anlageforen schon jubilieren, weil sie ihr gesamtes Vermögen in Gold angelegt haben und glauben, nach einem Währungskollaps die großen Gewinner zu sein.

Bei aller berechtigten Kritik an den politischen Eliten auf nationaler und europäischer Ebene sollte sich jeder vernünftige Mensch sehr gut überlegen, ob er diesen Scharlatanen mit ihren vermeintlich einfachen Lösungen und ihrer versteckten egoistischen bis nationalen Agenda hinterherlaufen will. Ich rate sehr deutlich davon ab.
 
Zuerst erschienen am 16.6.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/7053-die-idee-des-euro

Das Europa der Bürger

Ob Rechtspopulismus, Eurokrise oder Flüchtlingsdebatte: Die europäischen Probleme haben alle eine gemeinsame Ursache. Europa als politisches Projekt der Elite ist gescheitert. Die zunehmenden Bürgerproteste machen deutlich, dass die Zukunft der Union nur in einem Mehr an Transparenz und Demokratie liegen kann.

Europa kämpft derzeit mit verschiedenen Problemen. Dazu gehören unter anderem die Fragen über den Umgang mit Flüchtlingen aus Nordafrika oder mit einigen dem gemeinsamen Gedanken abträglichen Entscheidungen nationaler Regierungen wie etwa zur Pressefreiheit in Ungarn oder zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Dänemark. Das größte Problem allerdings, obwohl dieses offiziell nicht die gesamte europäische Union betrifft, sondern nur diejenigen, die sich vor einigen Jahren zu einer Währungsunion zusammengeschlossen haben, ist die Krise eben dieser gemeinsamen Währung, des Euro.

Auch wenn sich auf den ersten Blick wenige Verbindungen zwischen den einzelnen Themen ergeben, liegt allen gleichermaßen eine gemeinsame Problematik zugrunde. Diese besteht maßgeblich in dem Zustandekommen der EU wie auch Eurolands in ihrer heutigen Form, was in beiden Fällen weniger durch die Euphorie der Menschen in den Mitgliedsländern als vielmehr durch Visionen der politischen Eliten getrieben war. Das Ergebnis waren immer wieder Konstrukte, die zwar nach allen Regeln der Diplomatie, nicht aber nach den Regeln guter Regierungsführung ausgestaltet wurden. Platt gesagt: Der Zielerreichungsgrad wurde jahrzehntelang über den effizienten Mitteleinsatz gestellt, um Einigungen in einem stetig wachsenden Europa überhaupt erst möglich zu machen. Den Bürgern ist das – an den Stellen, an denen sie es wahrnehmen – schon seit Langem ein Dorn im Auge, egal ob es um den fast schon perversen Wanderzirkus des Europäischen Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg, die verfehlte Subventionspolitik oder manche europäische Richtlinie, etwa zur Gurkenkrümmung oder dem Seilbahnbetrieb, geht.

Obwohl viele Menschen in allen Ländern des Kontinents der Idee einer europäischen Einigung durchaus positiv gegenüberstanden, sind sie mit der Umsetzung zunehmend unzufrieden. Diese Unzufriedenheit war bisher weitgehend abstrakt, weil sich die spürbaren negativen Auswirkungen für den Einzelnen in engen Grenzen hielten. Lange Zeit konnte man die Entwicklungen des Verhältnisses der Bevölkerung zu Europa mit einer langjährigen Partnerschaft vergleichen: Die emotionale Liebesbeziehung, in der man dem Gegenüber gerne alle seine Versprechen glaubt, weicht nach und nach einem gewissen Pragmatismus, in dem man die Annehmlichkeiten als selbstverständlich wahrnimmt und sich zunehmend über die deutlich werdenden Macken des anderen ärgert. Der Unterschied ist allerdings: Bei einer Ehe kommt erst die Trennung, danach geht es ums Geld, während es in Europa derzeit zunehmend ums Geld geht und plötzlich einige nach Trennung rufen. Das schafft Platz für fragwürdige Gegenbewegungen, wie in Ungarn oder Dänemark, aber auch in vielen anderen Ländern zu beobachten.

Keine Frage: Nun ist die Zeit der Politik gekommen, ihr Projekt zu retten; Aufschub wird es nicht geben. Die einzige Chance ist, aus einem Elitenprojekt endlich ein Projekt für alle zu machen. Das ist leichter gesagt als getan, keine Frage. Was allerdings sicher ist: Die derzeitige Krankheit mit der Medizin aus der Vergangenheit zu behandeln, wird nicht mehr reichen, auch weil sich quer durch Europa eben jene europaskeptischen und populistischen Kräfte etabliert haben, die auf unangenehme Art und Weise den Finger in die offene Wunde zu legen und sogar kräftig zu bohren bereit sind. Der alleinige Bezug auf eine jahrzehntelange europäische Friedensperiode und auf abstrakte wirtschaftliche Vorteile durch den freien Fluss von Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften trägt nicht mehr, wenn viele Bürger angesichts überbordender Staatsverschuldung, dauernder Rettungspakete, steigender Inflationsraten und dauernd zunehmender Migrationsbewegungen Angst vor finanziellen Einbußen und Überfremdung oder sogar einem Kollaps der eigenen Währung haben.

Es braucht ein Konzept, das überzeugt. Es braucht vor allem ein Konzept, das langfristig trägt. Und es braucht ein Konzept, das transparent diskutiert und nach demokratischen Prinzipien verabschiedet wird. Die europäischen Regierungen müssen eine Lösung finden, wie sie das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene in den Griff bekommen. Und sie müssen bereit sein, einen Neuanfang auch durch das Abschneiden alter Zöpfe glaubhaft zu machen. Nur mit einer neuen Glaubwürdigkeit werden die pro-europäischen Kräfte wieder aus der Defensive kommen und den Ball zurück in das Feld derjenigen spielen, die die aktuelle Krise nutzen wollen, um die Axt an die große Idee zu legen. Wer dem auf Dauer aufgrund alter Denkmuster nichts entgegenzusetzen hat, nimmt in Kauf, dass wir Europäer in einer globalisierten Welt mit irgendwann 8 Milliarden Bewohnern keinerlei Rolle mehr spielen werden. Nur eine funktionierende Europäische Union mit einer funktionierenden Währungsgemeinschaft wird auf lange Frist in der Lage sein, dieses Szenario zu vermeiden.
 
Zuerst erschienen am 9.6.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/6974-die-neue-europaeische-idee

Der Gauck-Moment

Vor einem Jahr ist Bundespräsident Köhler zurückgetreten und für unseren Kolumnisten begann ein Monat der Freiheit. In atemberaubender Geschwindigkeit entstand im Netz eine Kampagne für den überparteilichen Kandidaten Joachim Gauck. Ein Moment, den man nur jedem Demokraten wünschen kann.

Am 1. Juni war es genau ein Jahr her, dass durch die Gründung einer Facebook-Gruppe mein Leben für eine Zeitlang auf den Kopf gestellt wurde. Am Tag zuvor war Horst Köhler von seinem Amt zurückgetreten und ich war – genau wie viele andere Menschen in diesem Land auch – irgendwo zwischen überrascht und schockiert. Selbst wenn Köhler in der Politik eher gelitten als geliebt war, bei uns Bürgern stand er (vielleicht auch gerade deswegen?) hoch im Kurs. Die Regierung erschien überfordert und verkämpfte sich immer wieder intern, anstatt sich den großen Fragen zuzuwenden. Und so war es nachvollziehbar, dass auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Eurokrise viele von uns nach Halt, nach einem Zeichen von neuer Stabilität suchten.

Die Kandidatenfindung für die Nachfolge schien mir dafür eine gute Chance. Ich wünschte mir einen Kandidaten, der in einer schwierigen Zeit mit seiner Überparteilichkeit und Glaubwürdigkeit mit dazu beitragen könnte, Gräben zuzuschütten, anstatt neue aufzureißen. Und ich wünschte mir einen Kandidaten, der, wenn er nach diesen Kriterien ausgesucht würde, auch ein Zeichen dafür wäre, dass die politischen Kräfte in schweren Zeiten in der Lage sind, zusammenzustehen und damit Handlungsfähigkeit zu beweisen. Nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, war mir klar, wer aus meiner Sicht der richtige Kandidat wäre: Joachim Gauck. Ich hatte ihn 2002 auf dem Bundeskongress der Jungen Liberalen über Freiheit sprechen hören – und hatte diesen Auftritt niemals wieder vergessen. Gauck wäre für Schwarz, Gelb, Grün und Rot wählbar gewesen und hätte darüber hinaus mit seiner Bürgerrechtsvergangenheit ein Zeichen dafür sein können, dass man diejenigen, die 1989 auf der Straße die Freiheit und die Wiedervereinigung erkämpft haben, nicht vergessen hat. Meine Interventionen innerhalb der FDP verhallten leider weitgehend ungehört. Ich gründete dennoch eine kleine Facebook-Gruppe, um für „meinen“ Kandidaten zu werben – und hatte bis zum Donnerstagnachmittag immerhin knapp über 70 Unterstützer. Und dann kam der große Knall, mit dem auch ich nicht gerechnet hatte: SPD und Grüne stellten Joachim Gauck als ihren Kandidaten vor, innerhalb weniger Stunden begann eine Bewegung im Netz, die bis zur Wahl nicht mehr abklingen sollte – und ich musste mich entscheiden, was ich tun sollte.

Letztlich fiel mir die Entscheidung nicht schwer. Ich bin zunächst einmal Bürger dieses Landes und nicht Mitglied irgendeiner Partei. In diesem Fall stand meine Überzeugung eben einmal gegen die Meinung der FDP-Spitze. Das passiert in einer Demokratie und sollte kein Problem sein. Ich will an dieser Stelle auch gar nicht mehr die Frage aufrollen, wer denn nun der bessere Präsident gewesen wäre. Vielmehr geht es mir darum, zu beschreiben, wie befreiend der Monat zwischen dem Rücktritt Horst Köhlers und dem Tag der Bundesversammlung für mich und für viele andere, die mit mir zusammen für ihre Überzeugung einstanden, war. Es war das Gefühl, gemeinsam etwas bewegen zu können, ohne vordefinierte Agenda, ohne offizielle Mitgliedschaft in einer Organisation, ohne definierte Strukturen. Diejenigen, die bei diesem einen Thema einer Meinung waren, versammelten sich auf Facebook und anderswo und begannen, oftmals ohne dass sie sich jemals persönlich in die Augen geschaut hätten, Projekte in einer Geschwindigkeit umzusetzen, wie man es in jeglicher Großorganisation – egal ob Partei, Gewerkschaft oder Großkonzern – für unmöglich halten würde. Einige kümmerten sich um Werbemittel, andere um Guerilla-Aktionen, wieder andere um Informationsseiten im Netz, Unterschriftenaktionen, Twitter-Mosaiks, Wahlaufrufe oder Demonstrationen.

Dass nicht alles immer funktioniert hat, dass es am Schluss nicht gereicht hat und auch das Ende der Fahnenstange beim Zuwachs an Unterstützern irgendwann erreicht war, ist unbestritten, ändert aber nichts daran, dass es sich zu jedem Zeitpunkt richtig angefühlt hat, Zeit, Nerven und Geld zu opfern, um sich zu engagieren. Die Faszination, die Joachim Gauck für Demokratie empfand, als er 1990 das erste Mal in seinem Leben an einer freien Wahl teilnehmen konnte, haben auch wir in diesen vier Wochen im Juni empfinden dürfen. Die positive Grundaussage, die Überparteilichkeit, das Interesse der Öffentlichkeit und die neu gewonnenen Freundschaften haben damals unglaubliche Energien freigesetzt – und tragen über den Tag hinaus. Und vielleicht hatten wir doch auch ein ganz klein wenig Einfluss auf die Gedanken der Wahlmänner und -frauen und auf die Amtsführung des neuen Bundespräsidenten … Auf jeden Fall wünsche ich jedem einzelnen Bürger eine Erfahrung, wie ich sie im Juni 2010 mit Joachim Gauck und den vielen anderen Menschen, die sich engagierten, machen durfte. Der Demokratie in diesem Lande würde das ganz sicher nicht schaden.
 
Zuerst erschienen am 2.6.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/6898-ein-jahr-koehler-ruecktritt

Die Geschlossene Gesellschaft

SPD und Union sträuben sich gegen mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. Die Argumente sind äußerst dumm: Ein Nazistaat droht uns ebenso wenig wie das Ende des Parlamentarismus. Die Herren und Damen im Bundestag sollten sich erinnern, dass sie selbst nur aufgrund einer vierjährlichen Volksbefragung ins Hohe Haus eingezogen sind.

Nachdem ich vorige Woche das Hauptaugenmerk auf das Verhalten der kleinen Parteien im Umgang mit dem Ziel von mehr direkter Demokratie auf Bundesebene gelegt habe, geht es in dieser Woche um die beiden großen Fraktionen, nämlich Union und SPD. Die CDU/CSU, die noch 2002 ihre grundsätzliche Abneigung gegen Möglichkeiten direkter Demokratie überwunden zu haben schien, lehnte 2006 die vorliegenden Gesetzesentwürfe von FDP, Grünen und Linkspartei unter anderem mit der Mahnung, „die negativen Erfahrungen aus der Weimarer Zeit nicht zu vergessen“ ab.

Ich persönlich empfinde das als Affront gegenüber der ganzen Gesellschaft, die in nunmehr über sechzig Jahren bewiesen hat, dass sie fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. Eine Stilblüte aus der abschließenden parlamentarischen Debatte muss ich an dieser Stelle noch beschreiben, sagt sie doch unendlich viel über die Weltsicht mancher Abgeordneter aus, die sich seit Jahren gegen jegliche Art von Fortschritt wenden. Der CDU-Abgeordnete Ingo Wellenreuther bezeichnete – nachzulesen im Plenarprotokoll 16/217 – Volksentscheide als „primitive Verfahren“, die außerdem im „Nazireich“ missbraucht wurden, um „diktatorische Entscheidungen im Nachhinein zu legitimieren“. Ob sich der Herr jemals bewusst gemacht hat, dass er letztlich im Rahmen eines ähnlich „primitiven Verfahrens“ sein Abgeordnetenmandat erworben hat?

Außerdem wurde das Ermächtigungsgesetz, das 1933 Adolf Hitlers Macht zementierte, von einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit beschlossen (wenngleich in Teilen nicht ganz freiwillig). Die vollständige Machtergreifung Hitlers kam also nicht durch einen Volksentscheid, sondern auch und besonders durch verfehlte Parteipolitik zustande. Aus den damaligen Fehlern der Parteien heute darauf zu schließen, dass man diese komplett entmachten müsse, wäre abstrus und dumm. Genauso verhält es sich aber auch und im Besonderen mit dem Versuch, das mangelnde Vertrauen in die Bürger mit den Fehlern der Deutschen aus den Endtagen der Weimarer Republik zu begründen. Die Union war also auf ihre alte Verteidigungslinie zurückgefallen, scheinbar unfähig zur Bewegung. Doch wie verhielt sich die SPD?

Anders als man aufgrund der Vorgeschichte (die SPD hatte noch 2002 den identischen Antrag gemeinsam mit den Grünen selbst eingebracht) hätte erwarten können, lehnten die Sozialdemokraten – in trauter Einigkeit mit ihren Koalitionspartnern CDU und CSU – die Anträge der Oppositionsparteien humorlos ab. Die dazugehörige Stellungnahme verwundert umso mehr, denn aus dieser geht diese Entscheidung gar nicht hervor. Ganz im Gegenteil: Dort stehen so kluge Dinge wie etwa, dass das Volk „schließlich nicht dümmer als die Parlamentarier“ sei. Und weiter: Es gebe „Elemente der direkten Demokratie in 16 Landesverfassungen und auch im neuen Vertrag von Lissabon – warum dann nicht auch auf Bundesebene?“

Letztlich führten die SPD-Abgeordneten einzig die Koalitionsräson als Grund dafür an, den von ihrer eigenen Fraktion einige Jahre vorher fast wortgleich eingebrachten Gesetzentwurf abzulehnen. So funktioniert Politik heute. Am Ende stimmt man gerne einmal gegen die eigene Überzeugung. Genau das ist letztlich das beste Argument für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide auch auf Bundesebene: Wir brauchen sie nicht, um die parlamentarische Demokratie zu ersetzen, sondern um sie zu ergänzen – und vor allem, um sie wieder handlungsfähig zu machen.
 
Zuerst erschienen am 26.5.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/6822-direkte-demokratie-ii

Sie war’s, sie war’s

Mitmach-Demokratie? Schön wär’s! Was direkte Demokratie betrifft, stehen wir leider noch ganz am Anfang. Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen Jahre, so ist man vielmehr versucht, an Monty Pythons Das Leben des Brian zu denken.

Nachdem ich mich vorige Woche mit einigen Stilblüten mangelnder innerparteilicher Demokratie beschäftigt habe, möchte ich mich in nächster Zeit schwerpunktmäßig dem Thema „Direkte Demokratie“ widmen. Bisher muss man dazu leider konstatieren: Wir stehen immer noch ganz am Anfang. Obwohl doch eigentlich alle dauernd darüber reden … was ist also schiefgelaufen auf Bundesebene?

Beginnen wir mit einer kurzen Rückblende ins Jahr 2002: Damals brachten SPD und Grüne einen Antrag mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz“ in den Bundestag ein (Bundestagsdrucksache 14/8503). Die Problembeschreibung begann mit den Worten „Die im Grundgesetz festgelegte parlamentarisch-repräsentative Demokratie hat sich in der Bundesrepublik Deutschland bewährt. Doch auch der Wunsch nach stärkerer Beteiligung wächst in der Bevölkerung.“ Sehr richtig. Das schienen damals auch die Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP grundsätzlich erkannt zu haben. Sogar die Union stellte fest, „dass sie keine grundsätzlichen Vorbehalte gegen mehr unmittelbare Mitbestimmungsmöglichkeiten habe“ (Bundestagsdrucksache 14/9260).



Trotz dieser an sich positiven Grundstimmung passierte dann allerdings einige Jahre wenig. Aber sei’s drum, im Jahr 2006 kam wieder Bewegung in den Prozess. Die FDP, die 2002 bei diesem Thema noch gespalten war, ergriff die Initiative und brachte einen Antrag mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz“ im Bundestag ein (Bundestagsdrucksache 16/474). Schon mal irgendwo gehört? Es wird noch besser, denn auch die Problembeschreibung begann mit den bekannten Worten. Ein Plagiat? Nun, in politischen Prozessen gelten andere Regeln als in der Wissenschaft, und so unterschieden sich auch die Beschreibungen und die Forderungen nur im Detail, nicht allerdings in ihrer Stoßrichtung. Nur einen Monat später brachten die Grünen wiederum einen eigenen Antrag ein. Titel und Problembeschreibung sind inzwischen hinlänglich bekannt.

Nach langer Debatte kam der Innenausschuss des Deutschen Bundestages im Februar 2009 zu einer Beschlussempfehlung (Bundestagsdrucksache 16/12019) über die beiden letztgenannten Anträge sowie über einen Antrag der Fraktion Die Linke. Das Ergebnis der Entscheidung im Bundestag ist bis heute ernüchternd. Die FDP enthielt sich bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Grünen, die Grünen bei der Abstimmung über den der FDP. Begründung: Man könne sich nicht darauf einigen, ob denn nun fünf Prozent (Grüne) oder zehn Prozent (FDP) der Wahlberechtigten ein Volksbegehren unterstützen müssten. Jede Seite machte dabei die jeweils andere für das Scheitern verantwortlich. Und mir kommt bei dieser Geschichte spontan die Steinigungsszene im Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“ in den Sinn, bei der immer wieder mit den Worten „Sie war’s! Sie war’s!“ auf die anderen gezeigt wird und am Schluss vor lauter internen Streitereien das eigentliche gemeinsame Ziel aus den Augen verloren wird. Das macht mich traurig. Dass ich damit überraschenderweise einmal genau auf der Linie der Linkspartei liege, die damals neben dem eigenen auch die beiden Gesetzesentwürfe der Konkurrenten unterstützte, um „deutlich zu machen, dass es einen dringenden Handlungsbedarf in der Sache gebe“, bleibt an dieser Stelle eine Anekdote.

Oftmals mögen es gerade die Kompromisse sein, die für viele Menschen das politische Geschäft schwer verständlich machen. Mindestens genauso oft ist aber auch das Gegenteil der Grund, nämlich die Erstarrung, die Unfähigkeit, aufeinander zuzugehen und eine Lösung zu finden. An dieser Stelle, so viel ist sicher, wäre eine Kompromisslösung dringend gefragt gewesen. Letztlich war übrigens das Verhalten der kleinen Parteien für den Ausgang der Abstimmung gar nicht mehr entscheidend, setzten doch die beiden stärksten Kräfte der Farce noch die Krone auf. Aber dazu mehr in einer Woche an dieser Stelle…
 
Zuerst erschienen am 19.5.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/6737-direkte-demokratie

Wie einst im Sozialismus

Regelmäßig werden die Spitzenämter in den Parteien mit Wahlquoten bestimmt, die man sonst nur aus dem Sozialismus kennt. Ob nun bei der FDP in Rostock oder zuvor Merkel: Die Posten werden in Hinterzimmerkungelrunden quasi vergeben. Da scheint es die größte Form der Opposition zu sein, während der Abstimmung aus dem Saal zu flüchten.

Die Krönungsmesse ist terminiert, sie findet am kommenden Wochenende in Rostock statt. Über 600 Delegierte des FDP-Bundesparteitags, und damit des höchsten Beschlussgremiums der Partei, werden in Deutschlands Norden reisen, um das Alternativlose mit einer Zustimmungsquote von über 90 Prozent zu beschließen. Philipp Rösler wird Bundesvorsitzender, Christian Lindner wird auch unter ihm weiterhin Generalsekretär werden. Und auch wenn das angedachte Personaltableau für das Parteipräsidium derzeit noch heiß diskutiert wird, kann man ohne Weiteres davon ausgehen, dass es keine Kampfkandidaturen geben wird, sondern wie in einer ordentlichen sozialistischen Staatspartei auch gilt: Für jeden Posten nur ein Kandidat. Wer drängelt, fliegt raus. Nur Birgit Homburger wird noch bis Freitag zittern müssen, bei allen anderen ist die Wahl sicher.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich freue mich durchaus darüber, dass die Wahl auf Philipp Rösler gefallen ist. Lange genug habe auch ich für einen Neuanfang in der FDP gekämpft. Was mir als überzeugtem Demokraten allerdings überhaupt nicht gefällt, ist die Prozedur der Kandidatenfindung und der mangelnde Respekt vor den Mitgliedern, denen auf dem Parteitag nur noch die Entscheidung überlassen wird, ob sie den einen Kandidaten denn nun mit einem schlechten, mittelmäßigen oder sehr guten Ergebnis ins Amt heben wollen. Zwischenzeitlich sah es einmal fast so aus, als sollte es mehr Kandidaten als Plätze geben. Anstatt aber eine Vakanz im Rahmen eines demokratischen Wettbewerbs neu zu besetzen, wurden auch diesmal wieder die Posten in Hinterzimmerkungelrunden quasi vergeben, das fertige Tableau wird dann zur Wahrung des demokratischen Scheins dem Parteitag zur Abstimmung vorgelegt.

Das Problem ist in unserer Parteiendemokratie allerdings strukturell, die neue Rösler-FDP ist dabei nur das aktuellste Beispiel. Angela Merkel wurde nach acht Jahren als Parteivorsitzende noch einmal wiedergewählt. Natürlich wie bei den vier Wahlen zuvor auch ohne Gegenkandidaten und mit einem deutlichen Ergebnis von 90,4 Prozent. Der inzwischen geschasste Guido Westerwelle (FDP) wurde 2009 mit 95,8 Prozent wiedergewählt, Horst Seehofer (CSU) kam zuletzt auf 88,1 Prozent. Sigmar Gabriel (SPD) brachte es bei seiner Wahl 2009 auf 94,2 Prozent, Gesine Lötzsch (Die Linke) 2010 auf 92,8 Prozent. Ihr Co-Vorsitzender Klaus Ernst blieb mit 74,9 Prozent deutlich zurück, hatte aber auch einen Gegenkandidaten – als einziger der derzeit amtierenden Vorsitzenden aller Parteien! Ansonsten hinken nur die Grünen ein wenig hinterher: Cem Özdemir erhielt bei seiner Wiederwahl 2010 „nur“ 88,5 Prozent der Stimmen, während Claudia Roth sich mit 79,3 Prozent begnügen musste.

Dass es sich bei all diesen Ergebnissen tatsächlich nicht um eine 1:1-Widerspiegelung der Überzeugung der Delegierten handelt, ist doch klar. Nur sehen viele von ihnen eben keinen Sinn darin, mit Nein zu stimmen, wenn es sowieso keine Alternative gibt und man doch nicht das eigene politische Führungspersonal beschädigen will, unabhängig davon, ob man selbst von diesem überzeugt ist. Anstatt dessen bleibt man dann gerne der Abstimmung einfach fern – so war es etwa, als Angela Merkel 2002 zum ersten Mal gewählt wurde: 93,72 Prozent klingen eigentlich nach einem überzeugenden Ergebnis. Allerdings stimmten 160 von etwa 1000 Delegierten gar nicht mit, die bei den nachfolgenden Wahlen um die Stellvertreter plötzlich wieder da waren. Das Gedränge auf den Toiletten muss unbeschreiblich gewesen sein.

Abstinenz scheint im derzeitigen Politikbetrieb oftmals die einzige Form der Opposition, die sich viele noch trauen. Wer mag da den Bürgern verdenken, dass sie es ähnlich halten und den Parteien und Wahlen die kalte Schulter zeigen? Es wird Zeit, dass sich die Parteien für sich die Systemfrage stellen, um zu vermeiden, dass es die Bürger eines Tages tun. Viel Zeit bleibt ihnen dafür nicht mehr.
 
Zuerst erschienen am 12.5.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/6648-fdp-parteitag-in-rostock

Fado für Europa

Es steht schlecht um Portugal. Altlasten aus der Zeit des Diktators Salazar und eine verpasste Weichenstellung nach dem EU-Beitritt sorgen dafür, dass heute die Zahngold-Läden Hochkonjunktur haben. Ein Menetekel für das, was auch bald anderen EU-Ländern drohen könnte.
Portugal steht am Abgrund. Wer das Land kennt, sieht das – überall im Land. Im Gegensatz zu vielen vorherigen Krisen handelt es sich diesmal endgültig nicht mehr alleine um eine Staatskrise, sondern vielmehr um eine, die bei jedem einzelnen Menschen massiv durchschlägt. Die Zahl der Shops, in denen man Familienschmuck und Zahngold versetzen kann, um wenigstens etwas Bares in den Händen zu halten, steigt täglich und prägt gemeinsam mit den Schildern von zum Verkauf stehenden Häusern und Wohnungen inzwischen das Straßenbild fast ebenso deutlich, wie die für Portugal typischen kleinen Snack-Restaurants. Dass der Weg nicht unbedingt wieder nach oben führen würde, war dabei schon länger absehbar – wenn man denn genauer hinsehen wollte. Ich selbst habe schon 2005 ein trübes Bild gezeichnet, das sich jetzt bestätigt.

Die portugiesische Krise ist dabei ein gutes Beispiel dafür, wie langfristiges Politikversagen einen Staat zugrunde richten kann. Bis heute leidet das Land unter der aberwitzigen Politik des faschistischen Diktators Salazar, der zwischen den 30er- und 60er-Jahren Portugal in eine politische und wirtschaftliche Isolation führte und statt auf Bildung auf Kolonialkriege setzte. Die Auswirkungen aus der damaligen Zeit sind bis heute in Form von unendlich vielen unbewohnbaren Häusern in den Städten zu finden. Während Spanien sich nach der Überwindung der Franco-Diktatur mit Nachdruck auf den Weg in die Zukunft machte, konnten sich die portugiesischen Nelkenrevolutionäre mehr als zehn Jahre nicht über den einzuschlagenden Kurs einigen. Erst mit dem Beitritt zur EU 1986 kam es zu einem echten Entwicklungsschub. Und auch dieser wurde von der politischen Klasse nicht in die richtigen Bahnen gelenkt. Bis heute lähmen nur halbherzig (wenn überhaupt) reformierte Gesetze aus der Salazar-Zeit private Investments, das Bildungssystem ist selbst im Vergleich mit den osteuropäischen Ländern weit unterlegen. Auch nun – in der schwersten Krise der portugiesischen Republik – lähmen sich die maßgeblichen Parteien gegenseitig, was zu Neuwahlen Anfang Juni führte, nach denen genau diese beiden Parteien nach jetzigem Stand dann doch wieder zusammenarbeiten werden.

Ganz besonders bitter an der portugiesischen Flucht unter den Euro-Rettungsschirm ist allerdings, dass die damit einhergehenden Einschnitte vor allem von dem Teil der Bevölkerung getragen werden müssen, der vermutlich am wenigsten für die Misere kann. Die junge Generation kann schon nur noch wenig verlieren; Festanstellungen gibt es schon seit Jahren kaum, wenn überhaupt findet man auf drei oder sechs Monate befristete Anstellungen zum Salário Mínimo, also dem bei derzeit € 475 liegenden Mindestlohn. Wer kann, der verlässt schon seit Jahren das Land. Diejenigen, die bisher Steuern zahlen und jeden Tag ehrlich arbeiten gehen, werden nicht nur durch die Streichung von Zulagen, Weihnachts- und Urlaubsgeld, massive Steuer- und Abgabenerhöhungen bei gleichzeitigen Einschränkungen der Staatsleistungen bestraft. Sie beginnen sich vermutlich auch langsam aber sicher zu fragen, ob ein Leben nach Recht und Gesetz so noch Sinn hat. Denn während die faktische Arbeitslosigkeit inzwischen enorm ist, gibt es gleichzeitig Vakanzen, deren Besetzung daran scheitert, dass niemand bereit ist, einen ordentlichen Arbeitsvertrag zu unterschreiben – und damit auf seine Sozialhilfe zu verzichten.

Investitionen aus dem Ausland werden das Land sicher auch nicht retten, der Ruf ist gründlich ruiniert. Spricht man mit Mitarbeitern der deutschen Außenhandelskammer in Lissabon, zucken diese in Bezug auf Portugal nur mit den Schultern. Deutsche Firmen zu einem Investment vor Ort bewegen zu wollen, ist derzeit aussichtslos. Man verlegt sich daher zunehmend darauf, die portugiesischen Schnittstellen in die ehemaligen Kolonien, vor allem nach Brasilien und Angola, zu nutzen. Wer hätte noch vor Jahren gedacht, dass es einmal so weit kommen könnte? Letztlich sollte Europa diesen Warnschuss allerdings auch als Schuss vor den eigenen Bug verstehen. Viele Probleme, die in Portugal jetzt durchschlagen, sind ähnlich auch in anderen Ländern angelegt. Die Länder der zweiten und dritten Welt sind nicht bereit, sich auf Dauer hinten anzustellen und sich darauf zu beschränken, unseren Lebensstandard durch Billigproduktion zu sichern. Der Fado, die traurige portugiesische Volksmusik, in der es maßgeblich auch um die vergangene Größe des Landes geht, könnte auch im Rest von Europa bald wieder Konjunktur haben, wenn man es nicht schafft, Antworten auf diese Herausforderungen zu finden.

Dienstag, 12. April 2011

Debattenbeitrag auf dem Bundeskongress der Jungen Liberalen im November 2010

Liebe Julis,

wenn man in meinem Alter auf einem Buko spricht, dann hat das ja automatisch schon etwas von Geschichtsstunde. Heute will ich diesem Eindruck ganz bewusst nicht entgegenarbeiten, deshalb habe ich Euch auch etwas mitgebracht, nämlich ein Juli-Werbemittel aus dem Jahr 1999, als ich bei den Julis Mitglied geworden bin. „Wir können die Welt verändern“ steht da drauf – und das war auch das, woran man damals ganz fest glauben musste, wenn man sich beim Straßenwahlkampf anspucken und schlagen lassen musste. Die FDP lag am Boden, weil sie die liberalen Ideale verraten hatte und sich als reiner Steigbügelhalter für die Union und als Klientelpartei der Besserverdienenden ins Abseits katapultiert hatte. Wir haben uns damals geschworen, es besser zu machen und waren genau deswegen auch die treibende Kraft hinter der Ablösung von Wolfgang Gerhardt, weil wir mit ihm keine Chance für einen Neuanfang gesehen haben. Mit Guido sollte ein Neuanfang her. Und auf den warten wir bis heute.

Ich hab mal ein bisschen im Archiv gekramt. „Die Teamleistung in der FDP-Führung ist indiskutabel. Es ist für eine liberale Partei selbstverständlich, dass Führungspositionen ausschließlich durch persönliche Leistung legitimiert werden.“ Das stammt aus einem Leitantrag auf dem 27. Bundeskongress der Jungen Liberalen, 2003, als Daniel Bahr Bundesvorsitzender war. Gilt dieser Satz heute nicht mehr, oder warum wird diese Regel gerade bei Guido Westerwelle außer Kraft gesetzt?

2003 habe ich als Landesvorsitzender der rheinland-pfälzischen Julis gemeinsam mit anderen Landesvorsitzenden wie Florian Rentsch, Florian Toncar, Oliver Lucsic und Martin Hagen einen Brandbrief an Westerwelle geschrieben, mit der Aufforderung „schnellstmöglich die falschen Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit zu korrigieren“. „Ordnungspolitisch falsche Zugeständnisse an einen Teil der Gesellschaft gehen immer zu Lasten des anderen Teils der Gesellschaft“ und sorgen dafür, „dass das Gesamtpaket FDP […] nicht mehr wahrgenommen wird, weil es unglaubwürdig erscheint“. Heute fordert der Bundesvorstand wieder dasselbe – sieben Jahre später!

2005 schrieb Martin Lindner in seinem viel diskutierten Papier „Die FDP kann mehr“: „Statt aber klare und unverfälschte Positionen einzunehmen, bringen wir uns in den Geruch des Klientelismus.“ Und weiter: „Inkonsequenz beraubt gute Vorschläge ihrer Wirkung, weil sie nicht mehr ernst genommen werden. Inkonsequenz macht angreifbar. Sie liefert dem politischen Gegner unnötig Argumente, mit denen er von den eigenen Fehlern und Schwächen ablenken kann. Inkonsequenz führt vor allem zu Glaubwürdigkeitsverlust – eine gefährliche Krankheit, weil sie chronisch werden kann. Seit Jahren ist die FDP in der Opposition. Diese Zeit muss genutzt werden, um bei den Bürgern neue Glaubwürdigkeit zu erringen und sie in einer künftigen Regierung auch zu bewahren.“

Ich frage Euch: gilt das, was damals gesagt wurde, heute auf einmal nicht mehr? Haben wir alles über Bord geworfen, wofür wir elf Jahre in der Opposition gekämpft haben, nämlich es besser und anders machen zu wollen?

Noch ein Zitat, Leitantrag vom 31. Buko der Julis, 2005, unter dem Vorsitzenden Johannes Vogel: „Zentrales Kriterium ist neben Kompetenz und Integrität der Akteure auch die Glaubwürdigkeit und Authentizität als Vertreter eines konsequenten Liberalismus. Jeglicher Klientelismus und öffentliches Postengeschacher unterminieren massiv die Glaubwürdigkeit der FDP. Jeder, der sich in Zukunft so verhält, hat sich als Führungsverantwortlicher disqualifiziert und wird von den Julis nicht in irgendeiner Form geschont oder unterstützt werden.“ Klientelismus? Postengeschacher? Wie soll man die Hotelierssteuer und die egoistischen Entscheidungen von Westerwelle und Niebel für Außenamt und Entwicklungshilfeministerium und gegen das wichtigere Finanzministerium denn bitte sonst nennen? Wir haben Guido Westerwelle schon 2005 sehr deutlich eine allerletzte Chance eingeräumt. Zitat: „Guido Westerwelle besitzt das Vertrauen der Jungen Liberalen. Wir werden ihn jedoch zukünftig daran messen, der beschriebenen, mit seiner Rolle verbundenen Verantwortung gerecht werden. Er muss die Partei auf dem Kurs der Glaubwürdigkeit halten und einen ganzheitlichen und konsequenten Liberalismus vertreten, um die enormen Chancen der Liberalen zu verwirklichen.“ Hat er das seitdem? Muss mir entgangen sein.

Und weiter geht’s… Philipp Rösler schrieb 2008 in seinem Strategiepapier „Was uns fehlt“: Spätestens jetzt müssen wir erkennen, dass bei aller Richtigkeit unserer liberalen Programmatik etwas fehlt: Eine Vision. Ein gesellschaftliches Bild, das glaubwürdig ist, den Menschen wieder Mut macht und ihnen den Optimismus zurückgibt, der in den letzten zehn Jahren verloren gegangen ist.“ Wo finde ich denn diese Vision im hingerotzten Koalitionsvertrag oder im Regierungshandeln? 

Die Fehler, die die FDP in Person von Guido Westerwelle in letzter Zeit gemacht hat, haben nichts mit Unerfahrenheit in der neuen Position zu tun. Die Gründe liegen tiefer, nämlich im Selbstverständnis und Führungsstil des Parteivorsitzenden und seines Umfelds begründet. Er kann es nicht. Und er wird sein Handeln nicht ändern, solange er nicht muss. Alles was wir heute erleben, haben wir schon einmal erlebt. Alles was wir heute sagen, haben wir schon einmal gesagt. Nur fehlen heute diejenigen, die den nächsten Schritt gehen. Aber wovor haben wir eigentlich Angst? Und vor was eigentlich?

Jetzt wäre die Zeit der Julis. Nur wir können den Startschuss geben, um die Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Ich hoffe, dass ich von diesem Kongress nach Hause fahren kann und das Gefühl habe, dass ich nicht der einzige bin, der noch an das glaubt, wofür die Julis auch in schweren Zeiten standen: Wir können die Welt verändern.