Von Gerald C. Kane, Robert G. Fichman, John Gallaugher und John Glaser
Mitmachmedien im Internet sind auf dem Vormarsch. Sie verändern die Regeln für einen geschickten Umgang mit der Öffentlichkeit. Lesen Sie im ersten Kapitel des Beitrags, was Sie wissen sollten, bevor Ihr Unternehmen mit Social Media experimentiert.
Im Jahr 2003 gab der Boston University Medical Campus (BUMC) Pläne für ein modernes Hochsicherheitslabor bekannt, in dem gefährliche biologische Substanzen untersucht werden sollten. Das Labor wollte mithilfe seiner Grundlagenforschung zu Fortschritten im Gesundheitswesen und speziell in der Terrorabwehr beitragen. Die Erkenntnisse sollten helfen, waffenfähige Versionen der Erreger von Ebola, Hasenpest, Milzbrand und anderer tödlicher Krankheiten besser zu bekämpfen. Tatsächlich wurde das Projekt zunächst weithin als Segen für die nationale Sicherheit, für den Status der Region als Biotech-Standort und für die Bostoner Wirtschaft begrüßt.
Dann aber wendete sich das Blatt. Das Labor mit dem offiziellen Namen "National Infectious Diseases Laboratories" sollte nahe dem BUMC zwischen den zwei Bostoner Wohngebieten South End und Roxbury entstehen. Doch je mehr die Einwohner darüber erfuhren, mit welchen Substanzen ihr neuer Nachbar umgehen wollte, desto weniger wollten sie ein solches Gebäude in unmittelbarer Nähe haben. Wie sicher würde es sein? Was wäre, wenn Stoffe entweichen würden? Wäre das Labor nicht ein höchst attraktives Ziel für Terroristen? Wenn es so sicher sei, wie behauptet wurde, warum könnte es dann nicht in einem wohlhabenden Vorort wie Brookline, Newton oder Wellesley gebaut werden?
Der energische Widerstand der Anwohner entwickelte sich zu großen Teilen im Internet. Um eine spezielle Website zum Thema, stopthebiolab.org, entstand schnell eine Gemeinschaft von Leuten, die das Projekt strikt ablehnten. Etablierte Organisationen, die sich für Umwelt, Gesundheitswesen und soziale Gerechtigkeit engagieren (unter anderen die Conservation Law Foundation, die Massachusetts Nurses Association und Boston Mobilization), unterstützten das Anliegen der Laborgegner auf ihren eigenen Web-Seiten. Klagen wurden erhoben, und im Nu wurde das Projekt vom Star zum Aussätzigen. Seine Eröffnung wird vom Beschluss eines Bundesgerichts verzögert, der weitere Umweltsicherheitsstudien verlangt, und möglicherweise wird die Forschung an den gefährlichsten der bislang vorgesehenen Substanzen dort niemals stattfinden dürfen.
Unternehmen und andere Organisationen praktizieren seit Langem das sogenannte "community outreach" - aktive Öffentlichkeitsarbeit, die für positive und kooperative Beziehungen zur Öffentlichkeit sorgen soll. Bevor es das Internet gab, hatten die Unternehmen wesentlich mehr Zeit, um die Aktivitäten interessierter Gruppen systematisch zu beobachten und auf sie zu reagieren. Mit dem Boom von Mitmachmedien (englisch: social media) wie Facebook verschwand der Luxus, genug Zeit zu haben - mit dem Ergebnis, dass ein großes Vakuum im Community-Management herrscht. Es gibt einen großen Bedarf an neuartigen Fähigkeiten, anpassungsfähigen Taktiken und einer schlüssigen Strategie. Dazu kommt, dass die Geografie in der hochvernetzten Welt kaum noch eine Rolle spielt - für Unternehmen relevante Gruppen bestehen nicht nur aus Leuten aus der Nachbarschaft, sondern aus Kunden und anderen Interessierten aller Art. Dieser Beitrag beschreibt die Änderungen, die durch Mitmachmedien ausgelöst werden, und zeigt, wie Ihr Unternehmen das Beste daraus machen kann; er basiert auf unserer Untersuchung von gut zwei Dutzend Firmen.
Internetaktivitäten wie soziale Netze, Wikis oder Blogs können Gemeinschaften viel schneller entstehen lassen und deren Wirkung und Reichweite deutlich erhöhen. Neue Gemeinschaften kommen und gehen schnell und werden oft zu unterschiedlichen Zeitpunkten von verschiedenen Personen angeführt. Zusätzlich halten mobile Anwendungen die Gruppen auf dem Laufenden, sie sind so immer bereit, neue Informationen zu verbreiten oder Aktionen zu planen.
Es gibt große Unterschiede in den Zielen und Mitgliederstrukturen der vielen Online-Gemeinschaften - und auch im dort herrschenden Ton, der von freundlich und kooperativ bis zu offen feindselig reichen kann. Beim Umgang mit der Community kommt es darauf an, deren Wesen zu erkennen und dann zu entscheiden, ob und wie darauf eingegangen werden sollte. Das ist eine heikle und strategisch sehr bedeutsame Aufgabe.
Viele der Online-Gemeinschaften, auf die wir uns hier beziehen, stammen aus dem Gesundheitswesen, wo sich Bürger gern einbringen und viel Einfluss haben. Laut einer Studie von Manhattan Research nutzen gut 60 Millionen US-Bürger "Health 2.0"-Angebote: Sie lesen oder schreiben in Blogs, Wikis, sozialen Netzen und anderen von Nutzern geschaffenen Medien; dabei ist Google der häufigste Ausgangspunkt. Die Lehren, die wir hier ziehen, gelten aber auch für andere wissensintensive Gebiete wie Recht (divorce360), Finanzen (Wikinvest, Marketocracy), Verlage (Wikipedia, The Huffington Post) sowie Forschung und Entwicklung (InnoCentive, IdeaStorm).
Mit den Mitmachmedien haben wir die Zeit der für sich stehenden statischen Web-Seiten hinter uns gelassen - heute gibt es Gemeinschaften, die aktiv eigene Informationen verbreiten und fremde hinterfragen. Zunehmend werden Mitmachmedien zum ersten Anlaufpunkt bei der Suche nach Daten und bei der Meinungsbildung. In einer aktuellen Studie des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center gaben fast 40 Prozent der Befragten an, dass sie schon einmal die Meinung oder Diagnose eines Profi-Mediziners angezweifelt hätten, weil sie nicht zu Informationen aus dem Internet passte. Wenn die Nutzer dem Netz so viel Vertrauen schenken, was werden sie dann glauben, wenn Mitglieder eines Online-Forums plötzlich damit anfangen, über Ihre Organisation herzuziehen? Sind Sie darauf vorbereitet, wenn so etwas passiert?
Mitmachmedien verstärken den Einfluss von Online-Gemeinschaften in viererlei Hinsicht: Sie fördern tiefe Beziehungen zwischen den Mitgliedern, ermöglichen schnelle Organisation, verbessern die Entstehung und Verbindung von Wissen und erleichtern das Filtern von Informationen.
Tiefe Beziehungen
Mitglieder einer Gemeinschaft, die zum Mitmachen einlädt, bauen vielfältige Beziehungen zueinander auf - viel umfassendere als in älteren Online-Gemeinschaften wie Foren oder Mailinglisten. Diese Verbindungen lassen tiefes Vertrauen entstehen.
Das ist zum Beispiel an PatientsLikeMe zu sehen, einem Online-Angebot für Menschen, die von bestimmten chronischen Krankheiten wie ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) oder Parkinson betroffen sind: Freizügig tauschen Patienten hier Informationen aus und geben Auskunft über ihre Krankheiten und die von ihnen genutzten Therapien - auch solche, die nicht von einem Arzt verordnet wurden. Grafiken und Fortschrittskurven auf der Web-Seite helfen den Nutzern dabei, ihre eigenen Behandlungsgeschichten zu visualisieren sowie zwischen Gruppen von Betroffenen zu vergleichen. Und die Mitglieder bieten gegenseitig Rückmeldungen und Ratschläge für das weitere Vorgehen.
Die Auswirkungen für das Gesundheitswesen sind enorm. Online-Gemeinschaften verändern die Art und Weise, wie Ärzte ihre Arbeit machen. Als zum Beispiel ein Mitglied der Multiple-Sklerose-Gruppe auf PatientsLikeMe in einem Diagramm seine eigene Medikation mit der anderer Patienten verglich, schloss der Betroffene daraus, dass sein Arzt ihm zu wenig Arzneimittel verschrieben hatte. Laut einem Artikel im "New York Times Magazine" überzeugte der Patient seinen Arzt mithilfe der Diagramme, dass generell höhere Dosen verschrieben würden. Der Arzt willigte schließlich ein, der Argumentation seines Patienten zu folgen. Das verbesserte dessen Beweglichkeit so stark wie in den vorangegangenen 14 Jahren nicht mehr.
Schnelle Organisation
Die Werkzeuge von Mitmachmedien ermöglichen Aufrufe bei gemeinsamen Anliegen oder anstehenden Ereignissen und erleichtern den Aufbau elektronischer Gemeinschaften. Innerhalb weniger Stunden können so Hunderttausende von Menschen mobilisiert werden.
Die Lungenkrebs-Gruppe auf Inspire, einer Website für Patienten, ihre Familien und medizinische Interessenverbände, hat sich geschickt den "What Would You Shoot"-Wettbewerb der Zeitschrift "Golf Digest" zu eigen gemacht: Die Gruppe brachte Tausende von Leuten dazu, den Krebs-Überlebenden John Atkinson zu unterstützen. Aufgrund dieser wachsenden Öffentlichkeit bekam er die Gelegenheit, in der Woche vor den U. S. Open auf dem Wettkampfplatz mit drei Prominenten gemeinsam Golf zu spielen. Zu den Spielern gehörte auch der TV-Moderator Matt Lauer, der Atkinson später in seine Sendung einlud. Das schnelle Handeln der Gemeinschaft machte es möglich, Atkinsons Geschichte zu nutzen, um das Bewusstsein für Krebs und die Notwendigkeit von Frühuntersuchungen zu fördern.
Ebenso lassen sich Online-Gemeinschaften für schnelle Lobbying-Aktionen nutzen. So hat Sermo, ein soziales Netz nur für Ärzte, seinen Mitgliedern geholfen, sich bei einer Reihe von Themen rasch zu organisieren. Über Sermo machten sie die Öffentlichkeit etwa auf Pläne der Versicherungen aufmerksam, weniger Behandlungskosten zu ersetzen, und organisierten erfolgreich Widerstand dagegen. Erst vor Kurzem haben Mitglieder andere Ärzte gegen die geplanten Reformen im US-Gesundheitswesen in Stellung gebracht, obwohl der Ärzteverband American Medical Association offiziell dahintersteht.
Tiefe Beziehungen
Mitglieder einer Gemeinschaft, die zum Mitmachen einlädt, bauen vielfältige Beziehungen zueinander auf - viel umfassendere als in älteren Online-Gemeinschaften wie Foren oder Mailinglisten. Diese Verbindungen lassen tiefes Vertrauen entstehen.
Das ist zum Beispiel an PatientsLikeMe zu sehen, einem Online-Angebot für Menschen, die von bestimmten chronischen Krankheiten wie ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) oder Parkinson betroffen sind: Freizügig tauschen Patienten hier Informationen aus und geben Auskunft über ihre Krankheiten und die von ihnen genutzten Therapien - auch solche, die nicht von einem Arzt verordnet wurden. Grafiken und Fortschrittskurven auf der Web-Seite helfen den Nutzern dabei, ihre eigenen Behandlungsgeschichten zu visualisieren sowie zwischen Gruppen von Betroffenen zu vergleichen. Und die Mitglieder bieten gegenseitig Rückmeldungen und Ratschläge für das weitere Vorgehen.
Die Auswirkungen für das Gesundheitswesen sind enorm. Online-Gemeinschaften verändern die Art und Weise, wie Ärzte ihre Arbeit machen. Als zum Beispiel ein Mitglied der Multiple-Sklerose-Gruppe auf PatientsLikeMe in einem Diagramm seine eigene Medikation mit der anderer Patienten verglich, schloss der Betroffene daraus, dass sein Arzt ihm zu wenig Arzneimittel verschrieben hatte. Laut einem Artikel im "New York Times Magazine" überzeugte der Patient seinen Arzt mithilfe der Diagramme, dass generell höhere Dosen verschrieben würden. Der Arzt willigte schließlich ein, der Argumentation seines Patienten zu folgen. Das verbesserte dessen Beweglichkeit so stark wie in den vorangegangenen 14 Jahren nicht mehr.
Schnelle Organisation
Die Werkzeuge von Mitmachmedien ermöglichen Aufrufe bei gemeinsamen Anliegen oder anstehenden Ereignissen und erleichtern den Aufbau elektronischer Gemeinschaften. Innerhalb weniger Stunden können so Hunderttausende von Menschen mobilisiert werden.
Die Lungenkrebs-Gruppe auf Inspire, einer Website für Patienten, ihre Familien und medizinische Interessenverbände, hat sich geschickt den "What Would You Shoot"-Wettbewerb der Zeitschrift "Golf Digest" zu eigen gemacht: Die Gruppe brachte Tausende von Leuten dazu, den Krebs-Überlebenden John Atkinson zu unterstützen. Aufgrund dieser wachsenden Öffentlichkeit bekam er die Gelegenheit, in der Woche vor den U. S. Open auf dem Wettkampfplatz mit drei Prominenten gemeinsam Golf zu spielen. Zu den Spielern gehörte auch der TV-Moderator Matt Lauer, der Atkinson später in seine Sendung einlud. Das schnelle Handeln der Gemeinschaft machte es möglich, Atkinsons Geschichte zu nutzen, um das Bewusstsein für Krebs und die Notwendigkeit von Frühuntersuchungen zu fördern.
Ebenso lassen sich Online-Gemeinschaften für schnelle Lobbying-Aktionen nutzen. So hat Sermo, ein soziales Netz nur für Ärzte, seinen Mitgliedern geholfen, sich bei einer Reihe von Themen rasch zu organisieren. Über Sermo machten sie die Öffentlichkeit etwa auf Pläne der Versicherungen aufmerksam, weniger Behandlungskosten zu ersetzen, und organisierten erfolgreich Widerstand dagegen. Erst vor Kurzem haben Mitglieder andere Ärzte gegen die geplanten Reformen im US-Gesundheitswesen in Stellung gebracht, obwohl der Ärzteverband American Medical Association offiziell dahintersteht.
Bei Health 2.0 kommen zwei Dinge zusammen: »eine technische Entwicklung« und »eine (besondere) Denkweise, Einstellung und Verpflichtung zu vernetztem und globalem Denken, um die Gesundheitsversorgung durch den Gebrauch von Informations- und Kommunika- tionstechnologie zu verbessern«. Dieses Gemisch aus Technik und Kommunikation zum Zwecke der Verbesserung der Gesundheitsversorgung birgt – je nach Perspektive – Chancen und Risiken, weil Health 2.0 »vorangetrieben (wird) von Non-Professionals, namentlich den Patienten [...], die mit ihren Interessen neue Services im Gesund- heitswesen entstehen lassen – zumeist um ihre Emanzipa- tionsbestrebung durch den Zugang zu Informationen und Wissen zu stärken« [6]. Typische Non-Professionals sind z.B. Personen mit chronischen oder seltenen Krankheiten, die Social Media für die Suche nach Gesundheitsinforma- tion nutzen. Dies ist nur eine von vielen Chancen, doch Kritiker sehen in der Zunahme der Patientensouveränität durchaus auch Risiken.
AntwortenLöschenHinzu kommt, dass sich diese neue Entwicklung nicht automatisch positiv auf die Qualität medizinischer Versorgung auswirken muss. Health 2.0 an sich ist keine kleine Gesundheitsreform, denn zunächst handelt es sich einfach einmal um Web 2.0-Anwendungen vor dem Hintergrund des Gesundheitswesens. Dennoch beeinflussen Anwen- dungen wie patientenzentrierte Applikationen im Internet das Verhältnis vom Patienten zu allen anderen Stakeholdern wie Ärzten, Krankenversicherung oder der Pharmaindustrie zunehmend nachhaltiger, was sich auf Kommunikation, Therapie und Versorgung im Gesundheitssektor auswirken wird.
Wie sich Health 2.0 auf die Zukunft des europäischen Gesundheitswesens auswirken könnte, dieser spannenden Frage widmeten sich zwei Konferenzen im Frühjahr des Jahres 2010: »Social Media in Healthcare« (26. Januar 2010) in Zürich und die »Health 2.0 Europe« in Paris (6. und 7. April 2010). Insbesondere die Pariser Kon- ferenz kam dabei einer Leistungsschau gleich, da es den Veranstaltern gelang, einen Überblick über Europas wachsende Health 2.0-Industrie zu geben.
Ein ausführlicher Artikel mit dem Titel "Neues aus Digit@lien – Soziale
Netzwerke im Gesundheitssektor (1). Zur Ortsbestimmung von Health 2.0 in Europa", erschienen in der "mdi", kann hier kostenlos downgeloadet werden:
http://www.euroschulen-trier.de/fileadmin/user_upload/mda/mdi_2010_Wirth.pdf
Bestes,
Ulrich Wirth