Horst Köhler ist weg. Das ist schade. Wirklich schade. Aber es ist letztlich – auch wenn der Bundespräsident formell das deutsche Staatsoberhaupt ist – eine Fußnote in der Geschichte. Denn eine wirkliche tragende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft hatte Köhler schon aufgrund der verfassungsrechtlichen Stellung seines Amtes nicht. Vielleicht ist es letztlich auch diese Erkenntnis gewesen, die ihn in Zeiten von gesellschaftlichen Verwerfungen wie wir sie derzeit erleben dazu bewogen (oder getrieben?) hat, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Warum sich von einigen mit wenig Intellekt gesegneten Politikern und Journalisten auch noch beschimpfen lassen, wenn man sowieso keine Chance zur Gestaltung hat? Was wirklich dahinter steckt, wird wohl nie komplett klar werden. Denn man schaut ja nicht in den Kopf eines Menschen hinein. Ich glaube allerdings aus der Beobachtung von Horst Köhler über viele Jahre heraus nicht, dass ihm die Unterstellung, er sei „zu zartbesaitet“ oder gar eine „beleidigte Leberwurst“ gerecht wird. Noch weniger glaube ich, dass man ihn mit Oskar Lafontaine vergleichen sollte, der 1999 nach gerade einem Jahr als Finanzminister abgetreten war. Denn im Gegensatz zu diesem ist Köhler nicht aus der Verantwortung geflohen, sondern aus einer Rolle, aus der heraus er eben nicht gestalten konnte. Er hat vielmehr Verantwortung übernommen, indem er gegangen ist. Aber dazu später mehr.
Wie auch immer, die Politik sollte nicht Köhler vorwerfen, dass er gegangen ist, sondern sich vielmehr Gedanken machen, welchen Anteil sie daran selbst hatte. Und zwar parteiübergreifend. Köhler war näher an den Bürgern als an der Politik. Das werfen ihm die Kommentatoren vor, als ob es sich dabei um eine Schwäche gehandelt hätte. Das ist falsch. Denn auch wenn der Bundespräsident in Deutschland nicht vom Volk gewählt wird, so ist er doch einzig und alleine diesem verpflichtet. Köhler hat mit seiner Weigerung, verfassungswidrige Gesetzestexte der Regierung zu unterzeichnen im Sinne aller Bürger gehandelt – und wurde von Politikern aus SPD und Union kritisiert. Er hat die Spaltung der Gesellschaft angeprangert – und wurde von Journalisten als Populist bezeichnet. Er hat sich während des Rückflugs von der anstrengenden Afghanistanreise vor einigen Tagen uneindeutig geäußert – und wurde von der Linken, den Grünen und der SPD als Verfassungsfeind und Kriegstreiber abgestempelt. Nur die Bürger, die den etablierten Parteien und ihren Politikern nicht mehr vertrauen, die hatte Köhler auf seiner Seite. NUR?
Der Rücktritt von Horst Köhler fällt auch und vor allem auf die deutsche Parteiendemokratie zurück. All diejenigen, die den Bundespräsidenten kritisiert haben oder es jetzt tun, erheben sich in den letzten Jahren mit einer Arroganz über die Bürger, dass einem vor dem Hintergrund der anstehenden großen Aufgaben Angst und Bange werden kann (oder muss?). Vor einigen Tagen habe ich in einer Mail an einen FDP-Bundestagsabgeordneten geschrieben:
[…]
Vielleicht könnte man das flankieren mit einer Initiative zur politischen Ethik. Um es mal ganz hart zu sagen: die Menschen kotzen ab wenn sie mitbekommen, was in Berlin gerade abgeht. Sie fühlen, dass Deutschland und Europa in einer riesigen Krise stecken. Und in den Talkshows wird mit unterirdischer Wortwahl über das Gestern debattiert. Der gegenseitige Extremismusvorwurf ist da nur ein Beispiel. Greif Dir doch mal die jungen Spitzenpolitiker (Nahles, Nouripour, Spahn etc.) und setzt Euch mal zusammen und überlegt Euch, ob es nicht in dieser Zeit eine Möglichkeit geben muss, jenseits aller inhaltlichen Unterschiede einen gewissen Rahmen zu definieren, den Anfeindungen und Vorwürfe nicht überschreiten sollten. Ganz ehrlich: das größte Problem sind doch nicht die schlechten Umfragewerte der FDP, sondern die Abwendung der Bürger von der Demokratie. Schau nach NRW... wenn da Neuwahlen kommen, läge die Wahlbeteiligung nach dem ganzen Theater inzwischen unter 50%.
[…]
Seitdem haben sich neue Tiefpunkte in der Diskussion beobachten lassen (immer vorne mit dabei derzeit: die Grünen – was ich durchaus überraschend und enttäuschend finde). Keine politische Talkshow findet statt, ohne dass sich Vertreter von Opposition und Koalition gegenseitig des Extremismus‘, der Lüge oder des Verfassungsbruchs bezichtigen. Anstatt die Übereinstimmung und die Gemeinsamkeit zu suchen und den Menschen das Gefühl zu geben, dass auch die Politik den Ernst der Lage erkannt hat, werden die Unterschiede ausgewalzt. Die Regierung unterrichtet (vielleicht) die Oppositionsparteien nicht früh genug oder umfassend genug, weshalb Grüne und SPD dann ihre Zustimmung zu den Rettungsgesetzen trotz inhaltlicher Übereinstimmung verweigern. Das Theater, was sich jetzt zwischen beiden Lagern – und auch innerhalb dieser – um die Nachfolge von Köhler abspielen wird, ist schon absehbar. Und ich glaube, dass er dies in Kauf genommen hat. Denn so wie ich Horst Köhler wahrgenommen habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass er die Entscheidung überstürzt getroffen hat. Er hat die Krise der Politik schon länger kommentiert. Inzwischen empfindet er sie als demokratiebedrohend, was uns alle angeht. Und deshalb wollte er nicht mehr den lieben Onkel spielen, der dabei gute Miene zum bösen Spiel macht und gewissermaßen durch Unterlassung Teil des Ganzen wird. Köhler wollte den großen Knall. Und er hofft, dass dadurch die Volksvertreter endlich aufwachen. Selbst in seinem Abgang hat er noch an seinen Amtseid gedacht und nicht im Sinne derer, die ihn gewählt haben (die Politiker), sondern im Sinne derer, denen er zu dienen versprochen hatte (dem Volk) gehandelt. Er war immer einer von uns – und ist es jetzt wieder. Und wir hoffen mit ihm.