Montag, 31. Mai 2010

Warum alle Kommentatoren falsch liegen und damit Teil des Problems sind – Gedanken zum Rücktritt von Horst Köhler

Horst Köhler ist weg. Das ist schade. Wirklich schade. Aber es ist letztlich – auch wenn der Bundespräsident formell das deutsche Staatsoberhaupt ist – eine Fußnote in der Geschichte. Denn eine wirkliche tragende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft hatte Köhler schon aufgrund der verfassungsrechtlichen Stellung seines Amtes nicht. Vielleicht ist es letztlich auch diese Erkenntnis gewesen, die ihn in Zeiten von gesellschaftlichen Verwerfungen wie wir sie derzeit erleben dazu bewogen (oder getrieben?) hat, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Warum sich von einigen mit wenig Intellekt gesegneten Politikern und Journalisten auch noch beschimpfen lassen, wenn man sowieso keine Chance zur Gestaltung hat? Was wirklich dahinter steckt, wird wohl nie komplett klar werden. Denn man schaut ja nicht in den Kopf eines Menschen hinein. Ich glaube allerdings aus der Beobachtung von Horst Köhler über viele Jahre heraus nicht, dass ihm die Unterstellung, er sei „zu zartbesaitet“ oder gar eine „beleidigte Leberwurst“ gerecht wird. Noch weniger glaube ich, dass man ihn mit Oskar Lafontaine vergleichen sollte, der 1999 nach gerade einem Jahr als Finanzminister abgetreten war. Denn im Gegensatz zu diesem ist Köhler nicht aus der Verantwortung geflohen, sondern aus einer Rolle, aus der heraus er eben nicht gestalten konnte. Er hat vielmehr Verantwortung übernommen, indem er gegangen ist. Aber dazu später mehr.

Wie auch immer, die Politik sollte nicht Köhler vorwerfen, dass er gegangen ist, sondern sich vielmehr Gedanken machen, welchen Anteil sie daran selbst hatte. Und zwar parteiübergreifend. Köhler war näher an den Bürgern als an der Politik. Das werfen ihm die Kommentatoren vor, als ob es sich dabei um eine Schwäche gehandelt hätte. Das ist falsch. Denn auch wenn der Bundespräsident in Deutschland nicht vom Volk gewählt wird, so ist er doch einzig und alleine diesem verpflichtet. Köhler hat mit seiner Weigerung, verfassungswidrige Gesetzestexte der Regierung zu unterzeichnen im Sinne aller Bürger gehandelt – und wurde von Politikern aus SPD und Union kritisiert. Er hat die Spaltung der Gesellschaft angeprangert – und wurde von Journalisten als Populist bezeichnet. Er hat sich während des Rückflugs von der anstrengenden Afghanistanreise vor einigen Tagen uneindeutig geäußert – und wurde von der Linken, den Grünen und der SPD als Verfassungsfeind und Kriegstreiber abgestempelt. Nur die Bürger, die den etablierten Parteien und ihren Politikern nicht mehr vertrauen, die hatte Köhler auf seiner Seite. NUR?

Der Rücktritt von Horst Köhler fällt auch und vor allem auf die deutsche Parteiendemokratie zurück. All diejenigen, die den Bundespräsidenten kritisiert haben oder es jetzt tun, erheben sich in den letzten Jahren mit einer Arroganz über die Bürger, dass einem vor dem Hintergrund der anstehenden großen Aufgaben Angst und Bange werden kann (oder muss?). Vor einigen Tagen habe ich in einer Mail an einen FDP-Bundestagsabgeordneten geschrieben:

[…]
Vielleicht könnte man das flankieren mit einer Initiative zur politischen Ethik. Um es mal ganz hart zu sagen: die Menschen kotzen ab wenn sie mitbekommen, was in Berlin gerade abgeht. Sie fühlen, dass Deutschland und Europa in einer riesigen Krise stecken. Und in den Talkshows wird mit unterirdischer Wortwahl über das Gestern debattiert. Der gegenseitige Extremismusvorwurf ist da nur ein Beispiel. Greif Dir doch mal die jungen Spitzenpolitiker (Nahles, Nouripour, Spahn etc.) und setzt Euch mal zusammen und überlegt Euch, ob es nicht in dieser Zeit eine Möglichkeit geben muss, jenseits aller inhaltlichen Unterschiede einen gewissen Rahmen zu definieren, den Anfeindungen und Vorwürfe nicht überschreiten sollten. Ganz ehrlich: das größte Problem sind doch nicht die schlechten Umfragewerte der FDP, sondern die Abwendung der Bürger von der Demokratie. Schau nach NRW... wenn da Neuwahlen kommen, läge die Wahlbeteiligung nach dem ganzen Theater inzwischen unter 50%.
[…]


Seitdem haben sich neue Tiefpunkte in der Diskussion beobachten lassen (immer vorne mit dabei derzeit: die Grünen – was ich durchaus überraschend und enttäuschend finde). Keine politische Talkshow findet statt, ohne dass sich Vertreter von Opposition und Koalition gegenseitig des Extremismus‘, der Lüge oder des Verfassungsbruchs bezichtigen. Anstatt die Übereinstimmung und die Gemeinsamkeit zu suchen und den Menschen das Gefühl zu geben, dass auch die Politik den Ernst der Lage erkannt hat, werden die Unterschiede ausgewalzt. Die Regierung unterrichtet (vielleicht) die Oppositionsparteien nicht früh genug oder umfassend genug, weshalb Grüne und SPD dann ihre Zustimmung zu den Rettungsgesetzen trotz inhaltlicher Übereinstimmung verweigern. Das Theater, was sich jetzt zwischen beiden Lagern – und auch innerhalb dieser – um die Nachfolge von Köhler abspielen wird, ist schon absehbar. Und ich glaube, dass er dies in Kauf genommen hat. Denn so wie ich Horst Köhler wahrgenommen habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass er die Entscheidung überstürzt getroffen hat. Er hat die Krise der Politik schon länger kommentiert. Inzwischen empfindet er sie als demokratiebedrohend, was uns alle angeht. Und deshalb wollte er nicht mehr den lieben Onkel spielen, der dabei gute Miene zum bösen Spiel macht und gewissermaßen durch Unterlassung Teil des Ganzen wird. Köhler wollte den großen Knall. Und er hofft, dass dadurch die Volksvertreter endlich aufwachen. Selbst in seinem Abgang hat er noch an seinen Amtseid gedacht und nicht im Sinne derer, die ihn gewählt haben (die Politiker), sondern im Sinne derer, denen er zu dienen versprochen hatte (dem Volk) gehandelt. Er war immer einer von uns – und ist es jetzt wieder. Und wir hoffen mit ihm.

Dienstag, 25. Mai 2010

Elite im Hamsterrad - Geleitwort von Dr. Jorgo Chatzimarkakis

Nur noch wenige Tage, dann ist es so weit: "Elite im Hamsterrad - Manifest für einen Neuanfang der kreativen Klasse" wird im Buchhandel zu haben sein. Hier nun - nach der ofiziellen Buchbeschreibung - auch das zugehörige Geleitwort.

Die Weltgemeinschaft – und mit ihr Europa – steht vor einem Umbruch. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass ein Umdenken, wenn nicht sogar ein radikaler Neuanfang, in den westlichen Gesellschaften alternativlos ist. Überschuldete Staaten, entfesselte Spekulanten und abnehmende Chancengleichheit sorgen zunehmend für soziale Spannungen, die sich immer öfter auf der Straße entladen. Die Ursachen müssen bekämpft werden, um zu vermeiden, dass unser demokratisches System Schaden nimmt. Dafür braucht es Vordenker, die Verantwortung übernehmen und neue Wege aufzeigen. Doch diese fehlen derzeit.
Die Finanz- und Griechenlandkrise ist auch und im Besonderen eine Krise der politischen Entscheidungsträger. Finanzinvestoren haben ihre Freiheit genutzt, um mit Spekulationsgeschäften zu verdienen, die nicht zwangsläufig einen volkswirtschaftlichen Mehrwert erzeugt haben. Das gilt ebenso für die politischen Eliten in Griechenland und anderswo, die mit der Unterstützung von Beratern und Banken die Zahlen gefälscht und damit den Euro angreifbar gemacht haben. Den Spekulanten allein die Schuld an der gegenwärtigen Krise des Euro zu geben, wäre aber zu kurz gedacht. Diese suchen zwar gezielt nach Schwachstellen, ohne die massive Überschuldung einiger EU-Staaten wären sie allerdings machtlos. In Deutschland zeigt man mit dem Finger auf die anderen – und hat nicht verstanden, dass uns dasselbe Schicksal droht. Die Antwort kann nur ein Zusammenrücken derjenigen Kräfte sein, die diese Gemeinschaft erhalten wollen.
Wir brauchen mehr Europa, um die Zukunft gestalten zu können. Wer glaubt, dass ein Zurückziehen auf die nationale Ebene die Antwort auf die Probleme dieser Zeit sein kann, der irrt. Die Globalisierung zwingt zur Zusammenarbeit; wer sich zu entziehen versucht, wird langfristig eine leichte Beute für aggressive Spekulationsstrategien sein. Wer das Primat des Staates nicht aufgeben will, muss den Staat schlanker und handlungsfähiger machen. 
Die gesellschaftlichen Eliten werden mehr denn je gefragt sein, diesen Prozess mit Sinn und Verstand, Moral und Verantwortung zu begleiten. Dafür müssen sie allerdings den Ernst der Lage erkennen und sich frei machen von den Ketten, die sie sich haben anlegen lassen. Dieses Buch kommt daher genau zur richtigen Zeit, erklärt es doch nicht nur, wie wir dahin gekommen sind, wo wir heute stehen, sondern auch, was geschehen muss, um den verheerenden Kreislauf zu durchbrechen. Christoph Giesa hat Recht, wenn er die Eliten im Besonderen in die Pflicht nimmt, gleichzeitig aber auch alle anderen gesellschaftlichen Kräfte dazu aufruft, ihren Teil zur Gestaltung der Zukunft beizutragen. Denn eine Gesellschaft braucht eine Spitze, die verantwortungsvoll und moralisch handelt. Aber sie braucht auch eine große Masse von Menschen, die bereit ist, Veränderungen mitzutragen. Denn am Ende sitzen wir alle in ein und demselben Boot. Und der Zielhafen kann nur ein geeintes Europa sein.  

Dr. Jorgo Chatzimarkakis, Jahrgang 1966, war Schüler von Lord Ralf Dahrendorf und ist Autor und Herausgeber verschiedener Bücher zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen, darunter „Brücken zwischen Freiheit und Gemeinsinn“ und „Europäischer Patriotismus“. Er ist Generalsekretär der FDP im Saarland, Mitglied des Bundesvorstandes der Liberalen und seit 2004 Mitglied des Europaparlamentes. 2007 wurde Chatzimarkakis von seinen Kollegen zum „Europaabgeordneten des Jahres“ in der Kategorie "Forschung und Technologie" gewählt. Im Internet findet man ihn unter www.chatzi.de.

Social Media II - Öffentlichkeitsarbeit 2.0

Original auf den Seiten des Harvard Business Manager hier.

Von Gerald C. Kane, Robert G. Fichman, John Gallaugher und John Glaser

Mitmachmedien im Internet sind auf dem Vormarsch. Sie verändern die Regeln für einen geschickten Umgang mit der Öffentlichkeit. Lesen Sie im ersten Kapitel des Beitrags, was Sie wissen sollten, bevor Ihr Unternehmen mit Social Media experimentiert.

Im Jahr 2003 gab der Boston University Medical Campus (BUMC) Pläne für ein modernes Hochsicherheitslabor bekannt, in dem gefährliche biologische Substanzen untersucht werden sollten. Das Labor wollte mithilfe seiner Grundlagenforschung zu Fortschritten im Gesundheitswesen und speziell in der Terrorabwehr beitragen. Die Erkenntnisse sollten helfen, waffenfähige Versionen der Erreger von Ebola, Hasenpest, Milzbrand und anderer tödlicher Krankheiten besser zu bekämpfen. Tatsächlich wurde das Projekt zunächst weithin als Segen für die nationale Sicherheit, für den Status der Region als Biotech-Standort und für die Bostoner Wirtschaft begrüßt.

Dann aber wendete sich das Blatt. Das Labor mit dem offiziellen Namen "National Infectious Diseases Laboratories" sollte nahe dem BUMC zwischen den zwei Bostoner Wohngebieten South End und Roxbury entstehen. Doch je mehr die Einwohner darüber erfuhren, mit welchen Substanzen ihr neuer Nachbar umgehen wollte, desto weniger wollten sie ein solches Gebäude in unmittelbarer Nähe haben. Wie sicher würde es sein? Was wäre, wenn Stoffe entweichen würden? Wäre das Labor nicht ein höchst attraktives Ziel für Terroristen? Wenn es so sicher sei, wie behauptet wurde, warum könnte es dann nicht in einem wohlhabenden Vorort wie Brookline, Newton oder Wellesley gebaut werden?

Der energische Widerstand der Anwohner entwickelte sich zu großen Teilen im Internet. Um eine spezielle Website zum Thema, stopthebiolab.org, entstand schnell eine Gemeinschaft von Leuten, die das Projekt strikt ablehnten. Etablierte Organisationen, die sich für Umwelt, Gesundheitswesen und soziale Gerechtigkeit engagieren (unter anderen die Conservation Law Foundation, die Massachusetts Nurses Association und Boston Mobilization), unterstützten das Anliegen der Laborgegner auf ihren eigenen Web-Seiten. Klagen wurden erhoben, und im Nu wurde das Projekt vom Star zum Aussätzigen. Seine Eröffnung wird vom Beschluss eines Bundesgerichts verzögert, der weitere Umweltsicherheitsstudien verlangt, und möglicherweise wird die Forschung an den gefährlichsten der bislang vorgesehenen Substanzen dort niemals stattfinden dürfen.

Unternehmen und andere Organisationen praktizieren seit Langem das sogenannte "community outreach" - aktive Öffentlichkeitsarbeit, die für positive und kooperative Beziehungen zur Öffentlichkeit sorgen soll. Bevor es das Internet gab, hatten die Unternehmen wesentlich mehr Zeit, um die Aktivitäten interessierter Gruppen systematisch zu beobachten und auf sie zu reagieren. Mit dem Boom von Mitmachmedien (englisch: social media) wie Facebook verschwand der Luxus, genug Zeit zu haben - mit dem Ergebnis, dass ein großes Vakuum im Community-Management herrscht. Es gibt einen großen Bedarf an neuartigen Fähigkeiten, anpassungsfähigen Taktiken und einer schlüssigen Strategie. Dazu kommt, dass die Geografie in der hochvernetzten Welt kaum noch eine Rolle spielt - für Unternehmen relevante Gruppen bestehen nicht nur aus Leuten aus der Nachbarschaft, sondern aus Kunden und anderen Interessierten aller Art. Dieser Beitrag beschreibt die Änderungen, die durch Mitmachmedien ausgelöst werden, und zeigt, wie Ihr Unternehmen das Beste daraus machen kann; er basiert auf unserer Untersuchung von gut zwei Dutzend Firmen.

Internetaktivitäten wie soziale Netze, Wikis oder Blogs können Gemeinschaften viel schneller entstehen lassen und deren Wirkung und Reichweite deutlich erhöhen. Neue Gemeinschaften kommen und gehen schnell und werden oft zu unterschiedlichen Zeitpunkten von verschiedenen Personen angeführt. Zusätzlich halten mobile Anwendungen die Gruppen auf dem Laufenden, sie sind so immer bereit, neue Informationen zu verbreiten oder Aktionen zu planen.

Es gibt große Unterschiede in den Zielen und Mitgliederstrukturen der vielen Online-Gemeinschaften - und auch im dort herrschenden Ton, der von freundlich und kooperativ bis zu offen feindselig reichen kann. Beim Umgang mit der Community kommt es darauf an, deren Wesen zu erkennen und dann zu entscheiden, ob und wie darauf eingegangen werden sollte. Das ist eine heikle und strategisch sehr bedeutsame Aufgabe.

Viele der Online-Gemeinschaften, auf die wir uns hier beziehen, stammen aus dem Gesundheitswesen, wo sich Bürger gern einbringen und viel Einfluss haben. Laut einer Studie von Manhattan Research nutzen gut 60 Millionen US-Bürger "Health 2.0"-Angebote: Sie lesen oder schreiben in Blogs, Wikis, sozialen Netzen und anderen von Nutzern geschaffenen Medien; dabei ist Google der häufigste Ausgangspunkt. Die Lehren, die wir hier ziehen, gelten aber auch für andere wissensintensive Gebiete wie Recht (divorce360), Finanzen (Wikinvest, Marketocracy), Verlage (Wikipedia, The Huffington Post) sowie Forschung und Entwicklung (InnoCentive, IdeaStorm).

Mit den Mitmachmedien haben wir die Zeit der für sich stehenden statischen Web-Seiten hinter uns gelassen - heute gibt es Gemeinschaften, die aktiv eigene Informationen verbreiten und fremde hinterfragen. Zunehmend werden Mitmachmedien zum ersten Anlaufpunkt bei der Suche nach Daten und bei der Meinungsbildung. In einer aktuellen Studie des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center gaben fast 40 Prozent der Befragten an, dass sie schon einmal die Meinung oder Diagnose eines Profi-Mediziners angezweifelt hätten, weil sie nicht zu Informationen aus dem Internet passte. Wenn die Nutzer dem Netz so viel Vertrauen schenken, was werden sie dann glauben, wenn Mitglieder eines Online-Forums plötzlich damit anfangen, über Ihre Organisation herzuziehen? Sind Sie darauf vorbereitet, wenn so etwas passiert? 
 
Mitmachmedien verstärken den Einfluss von Online-Gemeinschaften in viererlei Hinsicht: Sie fördern tiefe Beziehungen zwischen den Mitgliedern, ermöglichen schnelle Organisation, verbessern die Entstehung und Verbindung von Wissen und erleichtern das Filtern von Informationen.

Tiefe Beziehungen
Mitglieder einer Gemeinschaft, die zum Mitmachen einlädt, bauen vielfältige Beziehungen zueinander auf - viel umfassendere als in älteren Online-Gemeinschaften wie Foren oder Mailinglisten. Diese Verbindungen lassen tiefes Vertrauen entstehen.

Das ist zum Beispiel an PatientsLikeMe zu sehen, einem Online-Angebot für Menschen, die von bestimmten chronischen Krankheiten wie ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) oder Parkinson betroffen sind: Freizügig tauschen Patienten hier Informationen aus und geben Auskunft über ihre Krankheiten und die von ihnen genutzten Therapien - auch solche, die nicht von einem Arzt verordnet wurden. Grafiken und Fortschrittskurven auf der Web-Seite helfen den Nutzern dabei, ihre eigenen Behandlungsgeschichten zu visualisieren sowie zwischen Gruppen von Betroffenen zu vergleichen. Und die Mitglieder bieten gegenseitig Rückmeldungen und Ratschläge für das weitere Vorgehen.

Die Auswirkungen für das Gesundheitswesen sind enorm. Online-Gemeinschaften verändern die Art und Weise, wie Ärzte ihre Arbeit machen. Als zum Beispiel ein Mitglied der Multiple-Sklerose-Gruppe auf PatientsLikeMe in einem Diagramm seine eigene Medikation mit der anderer Patienten verglich, schloss der Betroffene daraus, dass sein Arzt ihm zu wenig Arzneimittel verschrieben hatte. Laut einem Artikel im "New York Times Magazine" überzeugte der Patient seinen Arzt mithilfe der Diagramme, dass generell höhere Dosen verschrieben würden. Der Arzt willigte schließlich ein, der Argumentation seines Patienten zu folgen. Das verbesserte dessen Beweglichkeit so stark wie in den vorangegangenen 14 Jahren nicht mehr.

Schnelle Organisation
Die Werkzeuge von Mitmachmedien ermöglichen Aufrufe bei gemeinsamen Anliegen oder anstehenden Ereignissen und erleichtern den Aufbau elektronischer Gemeinschaften. Innerhalb weniger Stunden können so Hunderttausende von Menschen mobilisiert werden.

Die Lungenkrebs-Gruppe auf Inspire, einer Website für Patienten, ihre Familien und medizinische Interessenverbände, hat sich geschickt den "What Would You Shoot"-Wettbewerb der Zeitschrift "Golf Digest" zu eigen gemacht: Die Gruppe brachte Tausende von Leuten dazu, den Krebs-Überlebenden John Atkinson zu unterstützen. Aufgrund dieser wachsenden Öffentlichkeit bekam er die Gelegenheit, in der Woche vor den U. S. Open auf dem Wettkampfplatz mit drei Prominenten gemeinsam Golf zu spielen. Zu den Spielern gehörte auch der TV-Moderator Matt Lauer, der Atkinson später in seine Sendung einlud. Das schnelle Handeln der Gemeinschaft machte es möglich, Atkinsons Geschichte zu nutzen, um das Bewusstsein für Krebs und die Notwendigkeit von Frühuntersuchungen zu fördern.

Ebenso lassen sich Online-Gemeinschaften für schnelle Lobbying-Aktionen nutzen. So hat Sermo, ein soziales Netz nur für Ärzte, seinen Mitgliedern geholfen, sich bei einer Reihe von Themen rasch zu organisieren. Über Sermo machten sie die Öffentlichkeit etwa auf Pläne der Versicherungen aufmerksam, weniger Behandlungskosten zu ersetzen, und organisierten erfolgreich Widerstand dagegen. Erst vor Kurzem haben Mitglieder andere Ärzte gegen die geplanten Reformen im US-Gesundheitswesen in Stellung gebracht, obwohl der Ärzteverband American Medical Association offiziell dahintersteht.

Sonntag, 23. Mai 2010

Einstieg in die Diskussion um Social Media I - Prof. Dr. Peter Kruse

Social Media verändert die Gesellschaft, keine Frage. Und damit auch den Markt. Wer sich bisher mit dem Thema nicht beschäftigt hat, sollte dies schleunigst tun. Denn am Ende wird all das, was wir in den letzten Jahrzehnten über den Markt und seine Mechanismen, Marketing und Kunden, Parteien und Wähler gelernt haben, nicht mehr richtig sein. Ich will in Zukunft ab und an Links zu dem Thema posten, von denen ich glaube, dass sie einen Einstieg in die Diskussion erleichtern. Und anfangen will ich mit dem deutschen Web 2.0-Papst überhaupt (zumindest wenn man den Medien glaubt): Prof. Dr. Peter Kruse.

Hier der Link zu seinem Vortrag auf der re:publica im April 2010:

Elite im Hamsterrad - offizielle Buchbeschreibung

In den kommenden Tagen erscheint mein erstes Sachbuch mit dem Titel "Elite im Hamsterrad - Manifest für einen Neuanfang der kreativen Klasse". Hier nun schon einmal die offizielle Buchbeschreibung für alle Interessierten:

Keine Gesellschaft kommt ohne Eliten aus. Das gilt zumindest dann, wenn der Begriff richtig verstanden und mit Leben gefüllt wird. Exzellenz, Verantwortung und werteorientiertes Handeln sind die Kennzeichen der wahren Elite. Doch scheint diese Kombination seltener zu werden.

Immer wieder dringen Fälle verantwortungslosen Verhaltens von Bankern, Beratern oder Politikern an die Öffentlichkeit. Die Wohlhabenden setzen sich vom Rest der Gesellschaft ab. Und die, die nach oben wollen, kämpfen einen weitgehend aussichtslosen Kampf im Hamsterrad. Die aktuelle Krise ist mehr denn je eine Krise der Eliten.

Doch welche Gründe gibt es für diese Entwicklung? Was passiert dabei mit dem Einzelnen? Und welche Auswirkungen hat eine abgekoppelte „Elite im Hamsterrad“ auf die Gesellschaft?

Diesen Fragen widmet sich Christoph Giesa im vorliegenden Buch. Die theoretischen Ausführungen werden dabei jeweils um Beispiele, persönliche Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzt. Eine umfassende Bestandsaufnahme schafft die Basis, auf der die abschließenden Verbesserungsansätze aufbauen. Denn Verbesserung tut not. Und sie ist möglich. Allerdings nur gemeinsam mit der wahren Elite dieses Landes.

Dienstag, 18. Mai 2010

Abgefahren - ohne Pass in Swasiland

Ich traute meinen Augen nicht. Gerade war mein Rucksack auf dem Dach eines für Afrika typischen Kleinbusses an mir vorbeigefahren. Ich schaute noch ein paar Momente erstarrt hinterher, dann verschwand der Wagen auch schon in einer mächtigen Staubwolke um die nächste Ecke. Ich war fassungslos und setzte mich. Wobei setzen vermutlich den Vorgang eher schlecht beschreibt; vielmehr ließ ich mich fallen, wo ich gerade gestanden hatte. Die Belastungen der letzten Wochen forderten Tribut.
 
Swasiland also. Dort saß ich nun, ohne alles. Nur ein wenig Geld war mir geblieben. Aber mein sämtlicher Besitz und vor allem mein Reisepass befanden sich genau in dem Rucksack, der gerade ohne mich auf dem Weg nachJohannesburg war. Ich hatte extra noch nachgefragt, wann denn der Bus abfahren würde. „When it’s full“, war die wenig aussagekräftige Antwort. Wann das denn der Fall sein würde? „Soon“, was in afrikanischer Zeitrechnung ungefähr so viel heißt wie „in den nächsten acht Stunden“. Bei „very soon“ sollte man vorsichtig sein, hatte man mir des Öfteren gesagt. Aber „soon“ – kein Problem. Ich hatte also meinen Rucksack dort gelassen um mich auf dem Weg zu machen und Reiseproviant zu besorgen. Und weniger als fünfzehn Minuten später war dann alles anders. Der Bus war abgefahren. Ohne mich, aber mit meinen Habseligkeiten. Und ich konnte sicher sein, dass ich meinen Rucksack nie mehr wieder sehen würde. Immerhin war ich in Afrika. Viele Verwandte und Bekannte hatten mich gewarnt: „Afrika ist gefährlich. Denk an all die Krankheiten. Und außerdem zählt dort ein Menschenleben nichts.“ Ich hatte die Bedenken weggewischt. Meine afrikanischen Freunde hatten mir immer wieder vor Augen geführt, wie sehr meine eigene Sicht auf die Welt durch die westliche Wohlstands- und Mediengesellschaft geprägt waren. Sie hatten mich immer wieder gefragt, wie ich mir anmaßen könnte, über die Probleme eines Kontinents zu sprechen und zu urteilen, den ich nie besucht hatte. Und sie hatten mich damit bei der Ehre gepackt, denn mir war dadurch erschreckend bewusst geworden, dass auch ich alles andere als frei von Vorurteilen durch die Welt lief. Und nun saß ich in Swasiland am Straßenrand und es wirkte, als ob alles ein großer Fehler gewesen sein sollte.

Ich begann über die letzten Wochen nachzudenken. Was war passiert, seit ich mitten in der Nacht in Maputo, der Hauptstadt von Mosambik, gelandet war? Sicher, es gab einige Scherereien, die man so in Europa sicher nicht erleben würde. Im Norden von Mosambik war einem mit mir reisenden Australier der Rucksack aus dem Auto entwendet worden, mitsamt seiner Pässe und sonstigen Reisedokumente. In Swasiland und Südafrika war unsere Gruppe, in der alle Hautfarben vertreten waren, immer wieder mit rassistischen Bemerkungen von Schwarzen und Weißen konfrontiert worden. In Namibia war mir von Straßenkindern eine Flasche Orangensaft geklaut worden und in Simbabwe gab es ein paar unerfreuliche Gespräche mit der Militärpolizei. Doch sollten diese Momente, in denen ich kurzzeitig das Gefühl hatte, dass das was ich tat vielleicht doch falsch gewesen sein könnte, ausschlaggebend für die Bewertung einer Reise, vielleicht sogar eines ganzen Kontinents mitsamt seiner Menschen sein?

Während ich weiterhin am Rande der staubigen Straße saß, ohne Blick für das bunte Markttreiben um mich herum, und über diese Frage nachdachte, gesellte sich ein älterer Herr zu mir. Er trug die bunte Tracht der Einheimischen mitsamt einem eingenähten Bild der Königsmutter auf der Brust. „What’s wrong with you, my friend? You are not supposed to sit here and be unhappy!“ Ich berichtete ihm von meinem Problem und dachte, das würde genügen, um ihn davon zu überzeugen, dass ich allen Grund hatte, unglücklich zu sein. Immerhin war mein Bus ohne mich abgefahren, mit meinem ganzen Reisegepäck! Doch der Alte lachte nur. „Wenn alle Menschen auf diesem Kontinent den ganzen Tag traurig wären, weil sie nichts besitzen, außer dem was sie am Leib tragen, würde das etwas ändern? Hier besitzt niemand einen Reisepass. Die meisten Menschen waren in ihrem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal in der Nähe der Landesgrenze. Viele sind krank oder haben kranke Familienmitglieder. Viele Kinder können sich nicht auf die Schule konzentrieren, weil sie zu Hause mithelfen müssen oder sogar Hunger haben. Das wird Dir nie passieren, denn Du kannst für die nächsten Tage mein Gast sein und es wird Dir an nichts mangeln. Und Deine Botschaft wird sich schnellstens darum bemühen, dass Du entsprechende Papiere bekommst. Es gibt also keinen Grund traurig zu sein!“ Ich fühlte mich ertappt, vielleicht sogar beschämt. Und gleichzeitig erleichtert. Wir begannen beide zu lachen. Es hatte nicht mehr als dieser kurzen Belehrung bedurft, um mir wieder deutlich vor Augen zu führen, warum es die beste Entscheidung meines Lebens gewesen ist, den Flug nach Afrika zu buchen. Die Pflanzen- und Tierwelt Afrikas ist unbestritten atemberaubend. Aber vor allem die unendliche Freundlichkeit der Menschen, ihre von uns Europäern gerne falsch interpretierte Offenheit, Hilfsbereitschaft und Lebensfreude, waren schon Grund genug, die unerfreulichen Anekdoten eher als Fußnote zu betrachten. Hätte mich in Deutschland ein Fremder in sein Haus eingeladen, wenn mir mein Rucksack abhanden gekommen wäre? Hätte in Deutschland ein Fremder einen Afrikaner in sein Haus eingeladen? Hätte ich einen Afrikaner in mein Haus eingeladen?

Noch während ich dort lachend saß, kam vor uns quietschend ein Bus zum Stehen. Innen saßen Gospels singend einige Einheimische dicht gedrängt. Und auf das Dach des Busses war ein Rucksack geschnallt, der meinem zum verwechseln ähnlich sah. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es sich tatsächlich um meinen handelte. „Mister, don’t you wanna come? We are leaving!“ wandte sich der Fahrer des Wagens an mich. Wo er denn gewesen sei, fragte ich verdutzt. „My wife wanted me to bring home some vegetables. And it’s not a good idea not to do what wifey says“, erklärte er mir mit einem Augenzwinkern. 
 
In Afrika habe ich begonnen zu begreifen, zwar genau hinzuschauen, aber nicht von Grund auf misstrauisch zu sein. Ich habe gelernt, was echte Gastfreundschaft bedeutet und ich versuche seitdem offener gegenüber Fremden zu sein. Ich versuche zu vermeiden, dass meine Meinung mit Vorurteilen belastet wird. Ich versuche, Menschen einen Vertrauensvorschuss zu geben. Und ich versuche, mehr zu lachen. Denn lachend erträgt sich vieles leichter. Auch eine Situation wie die, in der ich mich damals in Swasiland befand. Ohne Rucksack, ohne Reisepass im Niemandsland.

Afrika ist intensiv. Positiv wie negativ. Afrika ist anders, als Europa. Oder ist Europa anders als Afrika? Und Afrika ist abgefahren, keine Frage!

Donnerstag, 6. Mai 2010

Portugal - 2005 bis 2010

Ich habe mich gestern auf eine Reise in die Vergangenheit begeben und alte Emails durchforstet. Dabei bin ich auf eine Mail gestoßen, die ich Anfang 2005 aus Lissabon an meine Freunde und Familie verschickt habe. Und im Rückblick frage ich mich, ob irgend jemand in Brüssel guten Gewissens sagen kann, dass man die Entwicklung nicht vorhersehen konnte. Hier der Originaltext:
„Portugal ist ein schönes Land, das von den großen europäischen Kriegen weitgehend verschont geblieben ist und daher eine vergleichsweise alte Bausubstanz aufweist. Das Klima ist angenehm, die Landschaft vielfältiger als etwa in Südspanien. Ein typisches Urlaubsland eben, aber leider auch nicht mehr. Die Wirtschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten auf ganz wenige Säulen gesetzt, die nun nach und nach wegbrechen. Mit dem Schraubverschluss auf immer mehr Weinflaschen nimmt der Druck auf die Korkeichenbauern zu, die Textilbranche ist dem Wettbewerb aus Nah- und Fernost nicht gewachsen. Die Autos, die VW im Riesenwerk „Autoeuropa“ in der Nähe von Setubal baut, können inzwischen auch kostengünstiger an anderen Standorten gebaut werden. Hochtechnologien und Dienstleistungsindustrie haben sich kaum angesiedelt. Schuld daran ist einmal die Nähe zu Madrid (600 Kilometer), die es möglich macht, den portugiesischen Markt mit zu bedienen. Viel problematischer allerdings ist das viel zu niedrige Bildungsniveau weiter Teile der Bevölkerung. Ein Universitätsabgänger bewegt sich (zumindest gefühlt) in den meisten Fällen auf dem Niveau eines deutschen Abiturienten. Der Unterricht – wenn er denn stattfindet – ist alles, aber nicht anspruchsvoll. Polen und andere osteuropäische Länder machen sich auf, Portugal zu überholen. Wenig überraschend, haben sie doch ein weit besseres Bildungsniveau bei noch niedrigeren Lohnkosten. Portugal hat, im Gegensatz zu Spanien, viele Jahre nach der Revolution verstreichen lassen, bis man angefangen hat, zu begreifen, dass die EU nicht alle Probleme des Landes lösen wird. Eine kurzfristige Lösung sehe ich nicht, eine Bildungsreform, die wenigstens langfristig helfen könnte, ist nicht in Sicht. Die einzige Chance ist der Tourismus. Wenig rosige Aussichten für die junge Generation, die sich trotz Universitätsdiploms typischerweise von Stipendium zu Stipendium und Zeitvertrag zu Zeitvertrag schleppt.“

Was ist die Antwort? Ich weiß es nicht. Sparsamkeit wäre ein erster Schritt, um die Krise nicht weiter zu verschärfen. Das gilt übrigens genauso für Deutschland, wenngleich unter sehr viel besseren Vorzeichen.

Dienstag, 4. Mai 2010

Das Selbstverständnis von Staatsdienern


Der Polizist, der während der 1. Mai-Demo einen am Boden liegenden Demonstranten getreten hat, hat sich gestellt. Gut so. Menschen machen Fehler – wichtig ist, dass man dann auch die Verantwortung übernimmt. Wie schon vorher ausgeführt: Staatsdiener dürfen nicht glauben, dass sie sich in einem rechtsfreien Raum bewegen. Eher im Gegenteil: wenn der Staat seine eigenen Regeln mit Füßen tritt, fällt es schwer, andere davon zu überzeugen, sich an diese zu halten. Leider ist dieses Denken nicht bei allen angekommen, die sich zu einem gewissen Zeitpunkt bewusst dafür entschieden haben, der bundesdeutschen Demokratie zu dienen. So kommt es immer wieder zu Fällen, in denen Soldaten oder Polizisten ihre Kollegen aus falschem Corps-Geist heraus decken, was zu Übergriffen ermutigt. Hier zwei konkrete, weitgehend aktuelle Beispiele:

Tod eines flüchtenden Kleinkriminellen – acht Schüsse aus der Dienstwaffe


Übergriff einer Polizeieinheit auf die Fankneipe Jolly Roger in Hamburg



In diesen beiden Fällen wurde – im Gegensatz zu dem Fall in Berlin – von Seiten der Polizei nicht alles getan, um den Täter zu identifizieren. Im Gegenteil, es wurde sogar gemauert und versucht, die Fälle unter den Teppich zu kehren. Das ist nicht hinnehmbar und sollte auf Ebene der Polizeiführung zu Konsequenzen führen. Die Anreize für richtiges Handeln müssen richtig gesetzt werden. Und um eine Einsatzkennzeichnung führt aus meiner Sicht kein Weg herum, egal ob die Gewerkschaft der Polizei das für richtig erachtet, oder nicht.

Montag, 3. Mai 2010

Nachlese zum 1. Mai


Auf dem verlinkten Video sieht man, wie ein Polizist einen am Boden liegenden Demonstranten ins Gesicht tritt. Das Video löst zweierlei Reaktionen aus, wie man bei Lektüre der Kommentare feststellt. Die eine Seite vertritt ein „geschieht im doch Recht – wer Steine wirft, muss damit rechnen, selbst auch verletzt zu werden“, die andere Seite fühlt sich in ihrer Ablehnung der Staatsgewalt (in diesem Fall im doppelten Sinne) bestätigt und legitimiert damit im Nachhinein auch die Übergriffe autonomer Krawallmacher in den letzten Tagen. Beide Sichtweisen sind falsch, weil sie verkürzt sind.
Erst einmal ganz grundsätzlich: natürlich ist es nicht zu akzeptieren, dass ein Beamter sein Machtmonopol gegenüber einem Bürger missbraucht. Und nichts anderes ist im vorliegenden Video der Fall, ist doch der Einsatz von Gewalt Polizisten nur gestattet ist, wenn es „unbedingt notwendig“ ist, d.h. Gefahr für das eigene Leib und Leben oder das einer anderen Person besteht bzw. es der Durchsetzung staatlicher Gesetze und Regelungen gilt. Keiner dieser Gründe liegt hier vor, dafür bedarf es keiner juristischen Einschätzung. Nichtsdestotrotz darf nicht aus dem Tun Einzelner auf den Staat als Ganzes geschlossen werden. Wenn in einer Straßenschlacht, denn nichts anderes sind die Auseinandersetzungen am 1. Mai inzwischen, einem Beamten die Nerven durchgehen, dann ist das unverzeihlich, aber gleichzeitig menschlich. Der Staat als Dienstherr muss solche Fälle aufklären und den entsprechenden Beamten zur Rechenschaft ziehen. Tut er dies, hat er seinen Dienst getan und seine weiße Weste gewahrt. Es gibt dann keinen Grund, einen solchen Vorfall als Anlass zu nehmen, gewalttätig gegen „das System“ zu opponieren. Tut er es allerdings nicht, macht er sich der Mittäterschaft schuldig und stellt seine eigenen Regeln in Frage. Dann fällt es schwer, den Bürgern dieses Landes das Gefühl zu geben, dass es sich lohnt, den demokratischen Institutionen zu vertrauen und sich an die gemeinsamen Regeln zu halten, sei es im Bezug auf Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung oder eben die Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols.

Auf der anderen Seite müssen sich die Bürger, die sich nicht nur am 1. Mai als Steigbügelhalter militanter Chaoten gebieren, auch fragen lassen, welche Rolle ihnen bei der ganzen Geschichte zukommt. Durch Applaus und Gejohle bekommen die Anarchisten erst die Bühne, die sie brauchen. Ohne Unterstützung wäre das Thema so spannend, wie mit Barbies zu spielen. Anstatt als lebende Schutzschilde für Gewalttäter zu agieren, sollte man die Türen verschließen und ggf. mit der Polizei kooperieren. Wer Autos anzündet und Schaufenster zerstört ist kein politischer Demonstrant, sondern ein Verbrecher. Wer Polizisten, die auch Familienväter sind und Angst um ihre Gesundheit haben, sucht, um sie anzugreifen, darf nicht von einer schweigenden (oder johlenden) Masse gedeckt werden. Vielmehr müssten sich Gruppen bilden, die sich friedlich zwischen die Polizei und die Randalierer stellen, um letzteren zu zeigen „bis hierher und nicht weiter“. Damit würde die Lage deeskalieren, denn keine Anarchist, sei er auch noch so dumm, wird die Waffe gegen die Leute richten, von denen er sich Applaus verspricht. 

Der Staat ist keine abstrakte Größe. Der Staat sind wir alle. Und wir alle müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, unseren Teil dazu beizutragen, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu bewahren. Dazu gehört, dass man Verantwortung übernimmt und nicht einfach nur wegschaut. Auch am 1. Mai. Es liegt in unser aller Interesse, solche Polizeieinsätze in Zukunft vermeiden zu können, alleine schon der Kosten wegen. Von den Millionen, die am letzten Wochenende wieder ausgegeben wurde, könnte man in Hamburg die Erhöhung der Kita-Gebühren abfedern, die Neuverschuldung bremsen oder auch Schlaglöcher stopfen. Dinge, von denen wir alle profitieren würden. Und deshalb darf es auch niemandem von uns egal sein. Wenn das schon an diesem 1. Mai geschehen wäre, hätte es das angesprochene Video, verletzte Polizisten und Demonstranten überhaupt nicht gegeben und wir müssten uns mit dem Thema nicht auseinandersetzen. Wie schön wäre das für 2011?