Freitag, 17. Dezember 2010

Am Niedergang der FDP ist die Basis schuld

Bernd Ulrich gibt in seinem Beitrag Ist das nicht irre? (ZEIT Nr. 34/10) den Parteivorsitzenden  von CSU und FDP die maßgebliche Schuld am schlechten Erscheinungsbild der Koalition. So richtig dies auf den ersten Blick erscheint, so unzureichend ist die Erklärung bei näherer Betrachtung.

Der politische Autismus, mit dem etwa Guido Westerwelle die FDP immer wieder in schweres Fahrwasser führt, ist seit vielen Jahren zu beobachten. Diskussionen wurden allzu oft mit Machtworten schon in der Entstehungsphase beendet, der nur einmal jährlich stattfindende Bundesparteitag liegt jedes Mal vor vermeintlich wichtigen Wahlen, womit jegliche Art von Kritik verhindert wird. Auch eine personelle Erneuerung hat in den letzten Jahren nicht stattgefunden, worüber einzelne Personalien nicht hinwegtäuschen dürfen. All dies ist aus Sicht eines Vorsitzenden, der in erster Linie am Erhalt seiner Machtstellung interessiert ist, verständlich und daher wenig überraschend. Wirklich verantwortlich für die schlechte Entwicklung der FDP und der CSU sind daher diejenigen, die Westerwelle und Seehofer handeln lassen, ohne ihnen Grenzen aufzuzeigen, nämlich die Mitglieder und Mandatsträger der Parteien. Sie lassen sich hinter einsame Entscheidungen des engsten Führungskreises zwingen, zähneknirschend und mit geballten Fäusten, obwohl sie nicht in die Entscheidungsfindung eingebunden, sondern geradezu düpiert werden. Sie vergessen, dass die Vorsitzenden nicht etwa ihre Chefs sind. Sie vergessen, dass nicht die Basis der Führungsspitze Rechenschaft
schuldig ist, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Vielmehr hat sich die Parteiführung vor den Mitgliedern zu verantworten, in deren Namen sie spricht. Es steht zu hoffen, dass Letztere sich darauf möglichst bald besinnen, denn nur dann wird sich auch das Verhalten ihrer Vorsitzenden, wie diese auch immer heißen mögen, verändern.

Erschienen in der ZEIT Nr. 35 vom 26.08.2010.

Montag, 20. September 2010

Warum ein Neuanfang ohne Westerwelle für die FDP unvermeidbar ist

Gestern wurde ein paar Stunden lang spekuliert, dass Guido Westerwelle als Parteivorsitzender der FDP zurücktreten könnte. Mich hätte dieser Schritt sehr überrascht, weil er nicht zur Persönlichkeit Westerwelles gepasst hätte. Und es kam ja auch anders… Nichtsdestotrotz will ich diese Gerüchte zum Anlass nehmen, meine Gedanken zur aktuellen Lage der FDP aufzuschreiben.
 
Um es gleich am Anfang deutlich zu sagen: das Austauschen einzelner Köpfe alleine löst die aktuellen politischen Probleme natürlich nicht im Ansatz. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass ohne diesen personellen Neuanfang die Probleme überhaupt nicht lösbar sind. Dass man inzwischen an diesem Punkt steht, hat auch und vor allem mit der Person des Parteivorsitzenden zu tun – und deshalb ist es an der Zeit, dass dieser Platz macht, für andere Köpfe. Ob er das tun wird, ist meiner Meinung nach gar nicht mehr die Frage. Unklar ist allerdings noch: Geht er freiwillig oder wird er gegangen (spätestens bei der nächsten Bundesvorstandswahl) und wann gibt es den Wechsel – jetzt oder erst nach den verlorenen Landtags- und Kommunalwahlen im Frühjahr? Auch für Westerwelle selbst müsste es bei näherer Betrachtung eigentlich keine Alternative zu einem sofortigen Rücktritt bzw. zumindest der Ankündigung, nicht mehr aufs Neue kandidieren zu wollen, mehr geben. Was die Gründe für meine Überzeugung sind? Ich nenne zehn, die mir direkt einfallen…
 
  1. Die getroffenen Fehlentscheidungen sind in Teilen schon in der Oppositionszeit bzw. während der Koalitionsverhandlungen angelegt. Das Problem ist demnach struktureller Natur und legt sich nicht mit zunehmender Regierungsdauer. De facto steht eine Regierungspartei unter schärferer Beobachtung der Öffentlichkeit – und Guido Westerwelles Führungsleistung hält dieser nicht im Ansatz stand.
  2. Guido Westerwelle fehlt der Kompass, die Vision, die dafür sorgen, dass er in schwierigen Zeiten aus dieser abgeleitet die richtige Entscheidung trifft. Dies gilt ebenso für das politische Gespür für Situationen. Brüderle und Leutheusser-Schnarrenberger, um nur diejenigen zu betrachten, die am längsten dabei sind, zeigen, dass man auch beweglich sein kann und trotzdem standhaft. Diese Eigenschaftenkombination ist unerlässlich in einer Koalitionsregierung. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht. Wenn man sie nicht hat, ist man an der Spitze einer Partei fehl am Platze. 
  3. Auch wenn Westerwelle immer wieder betont, dass man gemeinsam gewonnen habe und daher nun auch zusammenstehe, wenn der Wind stärker bläst, entspricht das nicht seiner Überzeugung und der in den vergangenen Jahren beobachteten Realität. Der von ihm gerne intonierte Satz „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt – und das bin ich!“ gilt nicht nur für Schönwetterperioden. Westerwelle hat mit einsamen Entscheidungen die Partei in eine Sackgasse gefahren und findet den Rückwärtsgang nicht. Um den Crash zu vermeiden, wird er nicht daran vorbeikommen, jemand anderen ans Steuer zu lassen. Freiwillig oder unfreiwillig.
  4. Wenn man selbst immer wieder für das Leistungsprinzip in anderen gesellschaftlichen Bereichen wirbt, kommt man nicht darum herum, sich an diesem auch selbst messen zu lassen. Gerade die FDP-Wähler und –Mitglieder sind bei diesem Thema höchst sensibel und verhalten sich bei einem Verrat dieses Prinzip wie scheues Wild: Sie verschwinden so schnell es geht im Wald und kehren – wenn überhaupt – erst sehr viel später wieder zurück. Der FDP droht aus diesem Grund mit Westerwelle an der Spitze ein GAU ähnlich der „Agenda 2010“ bei der SPD – das jahrzehntelang gepflegte Selbstverständnis wird in Frage gestellt und macht die gesamte Partei unglaubwürdig und damit für viele unwählbar.
  5. Guido Westerwelle hat seit 1997, als er die Wiesbadener Grundsätze federführend mit entwickelt hat, wie ein Marketingvorstand in einem Unternehmen agiert. Nur die Außenwirkung zählte, das Produkt FDP wurde nicht weiterentwickelt. Das ist OK, wenn man einer von mehreren gleichberechtigten Vorständen ist. Wenn sich aber das Produkt immer dem Marketing unterzuordnen hat (bspw. durch die vor Wahlen liegenden Parteitagen, auf denen inhaltliche Diskussionen nicht erwünscht sind), weil der Marketingvorstand alleine die Richtung bestimmt, ist das in der Politik spätestens mit dem Eintritt in eine Regierung tödlich. Davor haben nicht wenige Stimmen schon seit 2005 gewarnt. Passiert ist nichts – und es ist wenig realistisch, dass nach zehn Jahren im Parteivorsitz ein echtes Umdenken noch stattfindet.
  6. Die Fehler und die Abneigung vieler Wähler (auch der eigenen) gegenüber der Person Guido Westerwelle überlagern die zum Teil sehr ordentliche Arbeit der Minister (auch seine eigene), der Europa-, Bundes-, Landes- und kommunalen Mandatsträger. Dieses Problem ist UNUMKEHRBAR. Guido Westerwelle war seit seiner schwachen Rolle während der Möllemann-Affäre gewissermaßen auf Bewährung. Die Wahl im Herbst wurde nicht wegen Westerwelle, sondern trotz Westerwelle gewonnen. Er hat den Vertrauensvorschuss, mit dem er von vielen Menschen mit Bauchschmerzen ausgestattet wurde, verspielt – und damit auch seine zweite und letzte Chance. Eine dritte wird er nicht bekommen. Und auch die Partei tut gut daran, sich von ihrem Vorsitzenden zu emanzipieren, um nicht auf Dauer in der Versenkung zu verschwinden. Es droht ein liberaler Fall Stoiber. Mit all den bekannten Folgeschäden…
  7. Guido Westerwelle verhindert mit seiner Sturheit nicht nur die Weiterentwicklung der Partei, er beschädigt vielmehr auch noch diejenigen, auf deren Schultern die liberalen Hoffnungen für die Zukunft liegen. Die FDP hat in der zweiten Reihe exzellente Köpfe. Aber auch diese werden für die Fehler von Westerwelle haftbar gemacht und müssen sich von diesem Stigma mit viel Arbeit wieder frei machen. Dies hilft auch potenziellen zukünftigen Parteivorsitzenden wie etwa Christian Lindner auf Dauer nicht. Solange dieser für Guido Westerwelle die Drecksarbeit machen und ihn verteidigen muss, geht Kraft für die inhaltlicher Erneuerung der Partei verloren und es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er für die Fehler anderer haftbar gemacht und damit beschädigt wird.
  8. Selbst diejenigen, die bisher gegen einen Rücktritt sind, sind es nicht aus Überzeugung. Eine Partei kann sich nicht erlauben, einen Vorsitzenden nur mit der Begründung zu stützen, dass man nicht wisse, „wer es denn sonst machen soll“. Das ist bisher die einzige Begründung, die ich von denjenigen gehört habe, die auch im vertraulichen Gespräch pro Westerwelle argumentieren. Und diese Begründung wäre – falls sie ernstgemeint und zu Ende gedacht wäre – der endgültige Offenbarungseid der Partei. Ich halte die Feststellung allerdings schlichtweg für falsch. Sicherlich sehe ich auch ich weder Lindner noch Rösler nächstes Jahr als Parteivorsitzende. Ersteren nicht, weil ich mir wünsche, dass er als Generalsekretär die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm erfolgreich bis zum Ende koordiniert, letzteren nicht, weil er als Gesundheitsminister (unabhängig von seiner Arbeit) keine Chance auf ein wirklich positives Image hat. Beide können warten. Und bis dahin wird sich unter den 72.000 Mitgliedern der Partei und den mehreren hundert hauptamtlichen Mandatsträgern doch wohl jemand finden, der den Laden interimsmäßig führt und die Erneuerung in die Wege leitet! 
  9. Darüber hinaus kann man jemanden nicht auch noch dafür belohnen, dass er niemanden hat neben sich hochkommen lassen und lange Zeit lieber auf schwache Generalsekretäre (Pieper, Niebel) gesetzt hat, um die eigene Macht zu sichern. Die FDP hat genügend gute Leute – so lange Westerwelle am Ruder ist, wird man von diesen wenig zu sehen bekommen.
  10. Zuletzt hat auch Guido Westerwelle selbst nur noch mit einem Rücktritt bzw. einer Rücktrittsankündigung die Möglichkeit, als erfolgreicher Parteivorsitzender und Außenminister in die Geschichtsbücher einzugehen. Fällt er nächstes Jahr in einer Kampfkandidatur, dann wird er eine ähnlich tragische Figur wie Rudolf Scharping abgeben. Und vermutlich neben dem Partievorsitz auch das Ministeramt verlieren. Bei einem selbstgesteuerten Rückzug könnte er dieses bis zum Ende der Legislatur behalten und zeigen, dass er zumindest diese Rolle ausfüllen kann (ich sehe an einigen Stellen gute Ansätze). 
    Ich ahne schon, was an Repliken auf diesen Eintrag kommen wird. „Wer kritisiert, muss auch Alternativen vorschlagen.“ Davon abgesehen, dass ich das tatsächlich nicht muss, weil nicht ich für etwas gewählt werden will, sondern schlichtweg mit demjenigen unzufrieden bin, der von Gnaden der Parteimitglieder dieses Amt innehat (und nicht etwa unser Chef ist), mangelt es mir de facto auch nicht an Vorschlägen. Diese sind im Großen und Ganzen seit 2003/2004 unverändert und erschreckenderweise immer noch aktuell. Wer will, kann sie an verschiedenen Stellen nachlesen. Nichtsdestotrotz werde ich mir in den nächsten Tagen die Mühe machen, meine Gedanken zu personellen, strukturellen und inhaltlichen Reformen aufzuschreiben und an gleicher Stelle zur Diskussion zu stellen.
     

Dienstag, 17. August 2010

Vielleicht sollte man das auch mal für die deutschen Soldaten machen...

...dann würde - trotz aller berechtigten politischen Diskoussionen - mal wieder deutlich, dass es sich letztlich um "ganz normale Menschen" handelt, die im Auftrag unseres Landes, und damit auch in UNSEREM Auftrag, ihren Dienst tun und jeden Tag in Afghanistan ihr Leben riskieren während ihre Familien zu Hause mit der Angst leben müssen. Wie auch immer man zu Auslandeinsätzen der Bundeswehr steht: Unsere Soldaten verdienen jede Anerkennung und Unterstützung...

Freitag, 6. August 2010

Bizarres aus der U-Bahn

Ich bin ja eigentlich ein Freund des ÖPNV. Ab und an kommt es aber zu seltsamen Begegnungen. So auch wieder gestern, auf dem Weg von Otto nach Hause. Ich nutze die 13 Minuten in der U-Bahn typischerweise zum lesen. Derzeit ist es "Das Ende der Geduld – Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter" von der inzwischen durch ihren Selbstmord traurig berühmt gewordenen Kirsten Heisig, ehemals Jugendrichterin in Berlin-Neukölln. Während ich dort über typische kriminelle Karrieren jugendlicher Intensivtäter lese, steigen ein junger Mann und eine junge Frau zu, beide vermutlich etwa 17 bis 18 Jahre alt. Er trägt Kapuzenpulli unter der Bomberjacke, scheint sehr austrainiert. Sie trägt den typischen Pimkie- und Orsay-Chic, viel zu große Kreolen, viel zu verbranntes Gesicht. Sein Handy klingelt und er unterhält sich ohne ein Anzeichen von Unsicherheit laut über einen Drogendeal (Gras) und droht dem Anrufer unverhohlen, seinem Bruder eins "auf die Fresse zu geben", wenn er "den Deal" ohne ihn durchzieht. Ich bin fassungslos. Aber was macht man in dem Moment? Die Polizei zu rufen macht keinen Sinn, weil ja im juristischen Sinne nichts vorgefallen ist. Ich beobachte weiter. Die beiden beginnen sich über eine Vorladung vor Gericht zu unterhalten.

Er: "Ey Scheiße, ich hab nen Brief von den Bullen bekommen."
Sie: "Ich nicht. Was soll die Scheiße, Alter. Hast Du den weggeschmissen?"
Er: "Was willst Du, Du Schlampe?"
Sie: "Wenn ich da nicht hingehe, dann ficken die mich total. Ich bin auf Bewährung, Alter!"
Er: "Dann ruf da an, Alter. Ich hab keine Ahnung wo Dein Scheißbrief ist!"

Stille. Sein Blick fällt auf mein Buch. Ich merke, dass er den Titel liest. Ich schaue an beiden vorbei und merke dabei, wie er sie auf das Buch aufmerksam macht. Nur mit halb gedämpfter Stimme murmelt er etwas von "so ein Dreck" und "die dumme Schlampe macht immer noch Probleme, obwohl sie tot ist". Langsam wir mir mulmig. Aber die beiden steigen an der nächsten Station aus und würdigen mich keines Blickes mehr.

Mittwoch, 4. August 2010

New Blog Order

Liebe Leute,

nun nochmal für alle, die den Prozess in den letzten Tagen nicht en Detail verfolgen konnten: Ich habe mein Blog aufgeteilt, und zwar wie folgt:


http://www.neue-teilhabe.de/

Unter dieser Adresse sollen die Anstöße aus der Gauck-Bewegung, aber auch darüber hinaus diskutiert werden. Ganz allgemein soll es darum gehen, wie man „Neue Teilhabe“ in unserer Demokratie ausgestalten könnte, d.h. wie man den Staat wieder näher zum Bürger bringt bzw. den Bürger wieder näher zum Staat. Dazu zählen Themen wie direkte Demokratie, die Nutzung von modernen Kommunikationsformen etc. – allerdings sind alle neuen und innovativen Ideen willkommen. Sämtliche Links, die während der Gauck-Berichterstattung auf meine Blog gesetzt wurde, landen in Zukunft auf neue-teilhabe.de. Blogger über meine Person hinaus sind herzlich willkommen; einige Mitstreiter aus der Gauck-Bewegung werde ich ab sofort freischalten – an anderer Stelle schon veröffentlichte Posts zu dem Thema sind ausdrücklich erwünscht!


blog.christophgiesa.de

Unter dieser Adresse wird in Zukunft das zu finden sein, was ursprünglich mal „Meine Sicht der Dinge…“ hieß. Gedanken zu gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen, Satire, Gedichte, Kurzgeschichten, Links… Dort bin und bleibe ich einziger Blogger ;-)


http://www.joachim-gauck-als-bundespraesident.de/

Dieses Blog soll der Dokumentation der Gauck-Bewegung sowie der Gedanken und Taten von Joachim Gauck auch in der Zukunft dienen. Vermutlich wird hier weniger die kritische Auseinandersetzung als vielmehr die reine Archivierung im Mittelpunkt stehen. Wer sich beteiligen möchte, melde sich gerne. Ansonsten schalte ich auch hierfür einige Leute direkt frei.

Auf allen drei Blogs freue ich mich über Anregungen, Kritik, gute Diskussionen und Beiträge.

Dienstag, 27. Juli 2010

Charta "Neue Teilhabe" - Entwurf

Teilhabe ist nicht alles, aber ohne Teilhabe ist in einer Demokratie alles nichts. Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen sich die Welt immer schneller zu drehen scheint und die Gesellschaft sich neu finden muss. Die Politik hat sich über Jahrzehnte immer weitergehender Entscheidungen bemächtigt, die die Bürger gleichzeitig nur allzu gerne abgetreten haben. Doch der Wind dreht sich. Die Bürger fordern wieder mehr Teilhabe ein – und die Parteiendemokratie scheint dem im Moment noch überfordert zuzuschauen.

Der Graben zwischen Regierenden und Regierten wird immer tiefer. Daran haben beide Seiten kein Interesse – und das muss auch nicht so sein! Daher gilt es nun die Instrumente der Entscheidungsfindung neu zu definieren und die Kompetenzen neu zu verteilen. Wenn dies richtig geschieht, gewinnen alle. Mehr direkte Demokratie – wie sie derzeit an vielen Stellen diskutiert wird – ist dafür wichtig. Aber sie ist nicht die Antwort auf alle Fragen. Das Thema „Neue Teilhabe“ muss nach unserer Überzeugung viel umfassender diskutiert werden.

Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung. Und diese muss wieder möglichst breit gestreut werden; sinnvoll und durchdacht. Dem müssen unserer Meinung nach folgende Erkenntnisse zugrundeliegen:


1. Miteinander statt gegeneinander

Menschen haben schwierige Zeiten immer dann am besten überwunden, wenn sie zusammengestanden und ihre Kraft und Intelligenz im Sinne des Gemeinwohls gebündelt haben. Derzeit scheinen allerdings die Unterschiede im Vordergrund zu stehen; viele Bevölkerungsgruppen fremdeln untereinander ebenso, wie sie dies gemeinsam gegenüber der politischen Klasse tun. Dieser Zustand ist für alle Beteiligten gleichermaßen unbefriedigend und es macht keinen Sinn, nach den alleinigen Schuldigen dafür zu suchen. Denn was man den einen vorwirft, haben die anderen erst durch Unterlassung möglich gemacht. Oder anderes gesagt: wenn sich die Politik mit der Übernahme von Verantwortung übernommen hat, dann heißt das gleichzeitig, dass die Bürger über Jahrzehnte Verantwortung freiwillig und ohne Murren abgegeben haben. Das lässt sich im Nachhinein nicht ungeschehen, wohl aber besser machen. Dafür muss eine Atmosphäre geschaffen werden, in denen nicht mehr das Gefühl herrscht, dass es „die da oben“ sowieso nicht interessiert, was „wir hier unten“ denken. Denn so ist es nicht. Die Sprachlosigkeit haben beide Seiten zu verantworten. Teilhabe darf man nicht nur dann einfordern, wenn einem etwas nicht passt. Nur dann können auch Politiker die Bürger wieder als Partner und bürgerschaftliches Engagement außerhalb von Parteien als Gewinn und nicht als Bedrohung ansehen. Wer nur miteinander spricht, wenn er sich streiten will oder auf der Suche nach Wählerstimmung ist, braucht sich nicht wundern, wenn das Klima vergiftet ist. Das zu ändern und das Gegeneinander durch ein Miteinander zu ersetzen ist Aufgabe von allen zu gleichen Teilen!


2. Staatsbürger statt Steuerbürger und Untertan

Voraussetzung für eine Verbreiterung der demokratischen Basis ist ein neues Verständnis vom Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Derzeit herrscht das Bild des Steuerbürgers vor – sowohl aus dem Blickwinkel der Regierenden, als auch im Selbstverständnis der Regierten selbst: Wer Steuern zahlt, hat sein Soll als Bürger erfüllt und ist aus der Verantwortung entlassen. Wer sich darüber hinaus einbringen will, dem stehen die Feuerwehr, der Sportverein und vielleicht noch die Kommunalpolitik offen. Doch bei diesem Denkansatz handelt es sich um ein phänomenales Missverständnis auf beiden Seiten. Wenn der Einzelne seine Zeit und Kompetenz nur für sich nutzt, gehen der Gesellschaft wertvolle und nicht in Geld aufzuwiegende Ressourcen verloren. Niemand darf sich aus der Verantwortung für die Gestaltung seiner Umwelt freikaufen – gleichzeitig müssen aber auch Möglichkeiten der Teilhabe geschaffen werden. Dafür braucht es eine Rückbesinnung auf den Begriff des mündigen Staatsbürgers, der durch verantwortliche Ausübung seiner Rechte und Pflichten diesen Staat trägt. Die Expertise und die Arbeitskraft, die Kreativität und die Zeit der Bürger trägt mindestens genauso viel zur Stabilisierung der Demokratie bei, wie die von ihnen geleisteten Abgaben. Bricht einer der beiden Pfeiler weg, kann auch eine leichte Hanglage oder ein etwas schärferer Windstoß bedrohlich werden. Dies zu verhindern geht alle gleichermaßen an!


3. Richtige Entscheidungen auf der richtigen Ebene

Um richtige Entscheidungen treffen zu können, müssen nicht nur die Entscheidungsträger entsprechend qualifiziert sein. Es geht vielmehr auch darum, die richtige Ebene für jede zu treffende Entscheidung zu definieren, um eine möglichst große Nähe der Entscheider zum Problem zu garantieren. Das Subsidiaritätsprinzip beschreibt genau diesen Ansatz – und geht doch nicht weit genug. Denn es grenzt systematisch die Bürger aus. Der Föderalismus treibt dabei seine ganz eigenen Blüten. Warum soll es nicht möglich sein, über eine Frage wie die des Nichtraucherschutzes bundesweit abzustimmen? Wenn Politiker es nicht schaffen, eine gemeinsame Antwort auf an allen Stellen gleichermaßen relevante Fragestellungen zu geben, wäre es Zeit, das Volk entscheiden zu lassen. Das sollte nicht als Niederlage der Politik verstanden werden; vielmehr sollte akzeptiert werden, dass nicht alle politischen Entscheidungen gleichzeitig auch parteipolitisch beantwortet werden können und müssen. Nicht auf alle Fragen kann es eine klare Antwort geben, welche Linie denn nun liberal, grün, sozial- oder christdemokratisch ist. Das ist auch keine Schande und so lange kein Problem, wie die Parteien sich nicht darauf versteifen, in solchen Themen Duftmarken setzen zu wollen. Freigegebene Abstimmungen in den Parlamenten als erste und Volksentscheide als zweite Stufe der Delegation solcher Entscheidungen in Richtung der Bürger würde nicht nur diesen das Gefühl geben, ernst genommen zu werden. Es würde auch massiv Druck von den Parteien nehmen und ihnen die Möglichkeit geben, sich auf die für sie relevanten (partei-)politischen Fragen zu konzentrieren.


4. Repräsentativ wenn nötig, direkt wenn sinnvoll und möglich

Die Frage zu beantworten, welche Themen im Rahmen von Volksentscheiden entschieden werden sollten, ist sicher eine der schwierigsten Aufgaben. Niemand sollte in direkter Demokratie den Heilsbringer für alles sehen; je komplexer die Materie, desto schwieriger wird eine fundierte Entscheidung durch die große Masse. Gleichzeitig dürfen die Hürden für Volksentscheide allerdings auch nicht unüberwindbar wirken. In manchen Bundesländern liegen die zu erfüllenden Quoren so hoch, dass Themen, die nicht für alle Bürger wichtig und kritisch erscheinen, kaum Chancen haben, die Hürde zur Verbindlichkeit zu überschreiten. Die Begründung für hohe Quoren läuft da ins Leere, wo Themen nur gewisse Teile der Bevölkerung betreffen, was eine andere Ausgangssituation ist, als bei einer allgemeinen Wahl, die alle direkt betrifft.

Auf Bundesebene gibt es die Möglichkeit von Volksentscheiden bisher – begründet mit den Erfahrungen aus der Weimarer Republik – überhaupt nicht. Ein Ansatz zur Lösung dieser Problematik könnte sein, die Quoren und/oder die Zahl der benötigten Unterschriften abzusenken bzw. Volksentscheide überhaupt zuzulassen, wenn es gleichzeitig ein Votum eines nennenswerten Anteils der Mitglieder des zuständigen Parlaments (vielleicht 25 Prozent) für einen solchen Entscheid gäbe. Gibt es dies nicht, bleiben die alten Regeln in Kraft; ein reines Initiativrecht aus dem Parlament heraus sollte es auch in Zukunft nicht geben. Dieser Ansatz würde einerseits die Minderheitenrechte stärken und andererseits verhindern, dass es zu jedem Thema eine von der Opposition initiierte Volksabstimmung gibt, die das Land unregierbar macht. Eine Erweiterung der Möglichkeiten (auch des Parlaments) hätte darüber hinaus den positiven Effekt, dass Volksentscheide nicht automatisch als „gegen die Politik“ verstanden werden, wie es in der derzeitigen Struktur fast automatisch der Fall ist.


5. Starke Parteien und starke Bürger durch neue Strukturen

Die derzeitige Vertrauenskrise zwischen Regierenden und Regierten ist auch und gerade eine Krise der Parteien. Ohne diese geht es allerdings nicht. Das bestehende System ist in seiner Struktur in erster Linie auf Stabilität ausgelegt, was am Ende dafür sorgt, dass der Rechtfertigungsdruck für diejenigen, die tatsächlich die Entscheidungen treffen, immer weiter abnimmt. Dies wird an verschiedenen Stellen sichtbar. So haben Wahlen (und damit der Bürgerwille) für Partei- und Fraktionsvorstände kaum einen direkten Effekt auf ihre Karriereplanung, da sie alle über sichere Listenplätze abgesichert sind. Um nicht abgewählt zu werden, ist es daher nur wichtig, sich innerhalb der eigenen Partei zu positionieren – die Meinung des Bürgers spielt in einem solchen System eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus ist die Reaktion der Wähler auf Auseinandersetzungen innerhalb einer Partei typischerweise ein Vertrauensentzug bei der nächsten Wahl, was typischerweise dazu führt, dass diejenigen, die Veränderungen einfordern, ihr Mandat verlieren, während die Bewahrer mit ihrem starken Netzwerk fest im Sattel sitzen. Diese Erfahrung führt dazu, dass Kontroversen vermieden werden und damit der notwendige Druck auf die Führung nicht zustande kommt. Vielmehr nutzt diese sogar diese Situation typischerweise für sich aus, indem sie wichtige Entscheidungen ohne Rücksprache mit der eigenen Basis trifft und diese dann erst im Nachhinein zwingt, sich der Position anzuschließen, um nicht den gemeinsamen Erfolg zu gefährden (so gesehen etwa in der SPD und bei den Grünen im Rahmen der Agenda 2010, bei der CDU in Bezug auf die Hamburger Bildungsreform und bei der FDP bei der Nominierung von Christian Wulff als Präsidentschaftskandidat).

Parteien müssen sich ändern. Das ist insofern alternativlos, als sie stellvertretend für „das System“ stehen und ihr Vertrauensverlust auch eine Gefahr für die demokratische Idee als Ganzes ist. Ansatzpunkte zur Lösung des Problems könnte die Einbindung des Bürgers (oder zumindest der Parteibasis) bei der Besetzung von Spitzenposten sein. So könnten Parteivorsitzende und Spitzenkandidaten zumindest von der Basis gewählt werden – in den Vereinigten Staaten übernehmen das die Bürger selbst im Rahmen der Vorwahlen -, was für die Kandidaten zu einer neuen Art von Zwang, sich mit deren Anliegen zu beschäftigen, führen würde. Ähnliches gilt auch für Grundsatzfragen, wie etwa ein neues Grundsatzprogramm. Mit welcher Begründung sollen darüber nur die Delegierten eines Bundesparteitages abstimmen dürfen, die zumeist auch Abgeordnete in Parlamenten sind?

Auch die Einführung von Kumulieren und Panaschieren auf überregionaler Ebene ist – bei allen bekannten Argumenten und Problemen – zumindest testweise einzuführen. Die Bürger mit der Begründung von einer echten Wahl fernzuhalten, sie wüssten nicht, was gut für sie ist, kann in einem demokratischen System nicht gelten.


6. Neue Kommunikationsmedien, neue Organisationsformen, neue Möglichkeiten

In einer Zeit, in der auch Politik mit den Angeboten von unzähligen Fernsehsendern, Social Media-Plattformen und Events aller Art um die Aufmerksamkeit der Bürger konkurriert, reicht es nicht mehr, Angebote zu formulieren und darauf zu warten, dass sie von den Bürgern gesucht, gefunden und genutzt werden. Demokratie lebt durch Teilhabe. Um diese für einen möglichst großen Teil der Bevölkerung zu gewährleisten, müssen die Transaktionskosten für jeden einzelnen interessierten Bürger minimiert werden. Im Klartext heißt das: Politik muss mit ihren Angeboten dahin, wo die Menschen sind. Neben den Marktplätzen dieser Republik ist das längst auch das Internet und hier besonders die Social Media-Plattformen wie Facebook, die VZ-Netzwerke oder wer-kennt-wen. Zwar sind die Parteien dort schon umfassend vertreten; allerdings werden die Möglichkeiten bisher bei weitem nicht ausgenutzt. Anstatt die Netzwerke nur als weiteren „Vertriebskanal“ für Pressemitteilungen und Parteipropaganda zu verstehen, sollten vielmehr die Möglichkeiten echter Diskussionen genutzt werden. Das gilt im Besonderen auch für die staatlichen Institutionen. Was spricht etwa dagegen, die Eingaben an den Petitionsausschuss nicht nur auf dessen Homepage, sondern auch auf Facebook & Co. einstellen und diskutieren zu lassen? Wir erwarten von denen, die uns in Parlamenten und Ausschüssen vertreten, dass sie sich mit diesen Themen intensiver als bisher auseinandersetzen und alle technischen Möglichkeiten nutzen, um es Bürgern einfacher zu machen, mit ihren Vertretern in Kontakt zu treten und sich dort einbringen zu können, wo über unsere gemeinsame Zukunft entschieden wird.

Auch innerhalb der Parteien muss die Art der Zusammenarbeit überdacht werden. Gerade für gut qualifizierte Experten gibt es kaum noch Anreize, sich in Parteien oder sonstigen demokratischen Institutionen zu engagieren. Damit gehen diesen – und damit der Demokratie – aber gute Ideen, potenzielle Führungspersönlichkeiten und ein Stück weit auch die breite Verankerung in der Bevölkerung verloren. Wer einen Lebensentwurf pflegt, der es ihm nicht erlaubt, langfristige Pläne in einer Region zu schmieden, muss trotzdem die Chance bekommen, sich bspw. über Projekte einzubringen – optimalerweise auch ohne Parteibuch. Parteistrukturen müssen durchlässiger werden, ohne aber die Filterfunktion gegen Sektierer aufzugeben. Das zu leisten ist nicht einfach – aber in einem ersten Schritt müsste zumindest einmal die Bereitschaft umzudenken geschaffen werden.

Freiheit geht nicht ohne Verantwortung. Verantwortung sichert Freiheit. Und eine Verantwortung vieler ist einer Verantwortung weniger in dieser Hinsicht deutlich überlegen.

Dienstag, 20. Juli 2010

Die Parteien im Sommer 2010 – verpasste Chancen oder Beginn von etwas Neuem?

Der Sommer dieses Jahres hat bis jetzt wahrlich kein namensgleiches Loch gebracht. Im Gegenteil: mit den Ausläufern der Landtagswahl in NRW (Ergebnis: rot-grüne Minderheitsregierung), dem Rücktritt von Köhler und der Wahl seines Nachfolgers (Ergebnis: das vorhergesehene), den Volksentscheiden zum Nichtraucherschutz in Bayern (Ergebnis: ja) und zur Schulreform in Hamburg (Ergebnis: nein) haben sich verschiedene Themen um den Platz an der Sonne auf den Titelblättern der Printmedien gestritten. Doch was bleibt? Wo stehen die so arg gescholtenen Parteien? Wurden Chancen verpasst? Oder sieht man Bewegung?

Ich nehme mein Fazit vorweg: Meiner Meinung nach ist die Zahl der verpassten Chancen aller Parteien – vielleicht sogar der Parteienidee in ihrer derzeitigen Form insgesamt – weit überwiegend.


Erstes Beispiel: Regierungsfindung in NRW

In NRW kommt es jetzt zu einer rot-grünen Minderheitsregierung, die sich immer wieder aufs Neue ihre Mehrheiten suchen will. Aus akademischer Sicht finde ich das ein sehr spannendes Projekt und werde es entsprechend interessiert verfolgen. Aus Bürgersicht bin ich mir noch nicht so sicher, was ich davon halten soll… Gerade bei Themen wie den Haushaltsberatungen kann ich mir nur sehr schwer vorstellen, dass es Abgeordnete aus der Opposition geben wird, die diesen unterstützen. Sich damit auseinander zu setzen wäre allerdings reine Spekulation, daher will ich mich auf die Regierungsfindung fokussieren.

Ich fand die taktischen Spielereien der verschiedenen Parteien einmal mehr unwürdig. Dinge (heißt: Koalitionen) vor der Wahl auszuschließen halte ich sowieso für einen immer wieder begangenen Kardinalfehler der Politik. Sich nach der Wahl nicht mehr daran erinnern zu wollen, ist der zweite, der ohne den ersten gar nicht passieren könnte. Diesen Fehler haben dieses Mal SPD, Grüne und FDP gleichermaßen begangen. Die Unentschiedenheit der Liberalen nach der Wahl und die allgemeine Inkompatibilität von Parteien des demokratischen Spektrums aufgrund persönlicher Abneigungen (Papke, Löhrmann) haben Ihr Übriges dazu beigetragen, dass der Versuch einer Regierungsfindung in NRW zu einem neuerlichen Super-GAU für die Parteiendemokratie wurde. Jürgen Rüttgers Entscheidung, sich nicht an sein Amt zu klammern, sondern seine Niederlage anzunehmen und einen klaren Schnitt möglich zu machen, kann da nur als kleiner Trost gesehen werden.

Bewertung: Schon vor dem Start einer wackeligen Minderheitsregierung haben die Parteitaktiker aller Parteien mit Sprachlosigkeit und Schuldvorwürfen weiteres Vertrauen der Bürger verspielt.


Zweites Beispiel: Bundespräsidentenwahl

Über die Gauck-Frage wurde an dieser Stelle schon viel philosophiert, daher will ich in dieses Thema nicht allzu tief einsteigen. Geglänzt hat aber dort ganz offensichtlich niemand. Schwarz-Gelb hat sich mit der Art und Weise der Nominierung, den Einlassungen während der Kandidatur und natürlich auch mit dem Ergebnis am Wahltag selbst keinen Gefallen getan und den Glauben in die Parteienpolitik beschädigt. Vor allem der FDP wird das auf lange Frist anhängen. Grüne und SPD sollten nicht allzu sehr frohlocken, denn natürlich haben sie Gauck aus rein taktischen Gründen aufgestellt – und das wird von den meisten Bürgern durchaus so wahrgenommen. Die Linke hat sich als unfähig erwiesen, in einem Moment, in dem sie das erste Mal in der Lage war, eine politische Gestaltungsrolle auf Bundesebene zu spielen mit der Entscheidung für eine Enthaltung versagt.

Bewertung: Alle Parteien haben gemeinsam zur wachsenden Frustration der Bürger beigetragen.

Drittes Beispiel: Volksentscheide in Bayern und Hamburg

Die Volksentscheide habe ich an anderer Stelle als Emanzipation der Bürger von der „Parteien-oligarchie“ (Zitat Hamm-Brücher) bezeichnet. Diese könnte sich aber theoretisch auch mit Unterstützung bzw. Duldung der Parteien vollzogen haben. Weit gefehlt, wirft man einen genaueren Blick auf die Rolle der einzelnen Parteien.

In Hamburg ist die Gemengelage relativ klar: Schwarz-Grün ist mit einem Projekt in der Bürgerschaft angeeckt und hat zu wenig Kompromissbereitschaft gezeigt, sich gegenüber dieser zu bewegen, nachdem eine Einigkeit mit den anderen in der Bürgerschaft vertretenen Parteien (SPD, Linke) erzielt wurde. Eine Auseinandersetzung mit den Wählern selbst schien bei dieser breiten Phalanx unnötig, waren diese doch den Parteien in der Geschichte am Ende immer noch gefolgt. Diese Arroganz aller vier Parteien (die FDP hatte sich auf die Seite der Bürgerinitiative geschlagen, spielte aber keine allzu wichtige Rolle) hatte am Ende zu Folge, dass es zu einer „Kampfabstimmung“ über das Thema kam und die Bürger sich emanzipierten. Will man es negativ formulieren, so muss man konstatieren: Sie trauen ihren Volksvertretern die richtigen Entscheidungen wohl nicht mehr zu.

In Bayern sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob die SPD der strahlende Sieger gewesen wäre, weil sie auf der Seite der erfolgreichen Nichtraucherschützer standen, während die CSU gar keine Meinung vertrat. Aber auch das ist zu kurz gesprungen. Das Thema bietet sich nicht für parteipolitische Grabenkämpfe an, die Bürger haben dazu auch ohne Seehofer oder Pronold eine Meinung – unabhängig von Milieu oder Parteibuch. Der Versuch, ein Gesetz zu einem solchen Thema an den Bürgern vorbei durch Parteienmacht durchzudrücken wird allen Parteien anhaften – nicht nur der CSU.

Bewertung: An beiden Stellen wurde die Vertrauensbasis der Bürger weiter beschädigt. Verschärft wird dies noch durch den Rücktritt von Ole von Beust und den ignoranten Umgang mit der Frage nach der eigenen (unglücklichen) Rolle der Parteien.

Donnerstag, 8. Juli 2010

Was die "Bürgergesellschaft" verhindert I - Politische Selektionsmechanismen

Nach Ende der Pro-Gauck-Kampagne möchte ich dieses Forum nutzen, um mich damit auseinander zu setzen, woran denn die Idee der "Bürgergesellschaft" derzeit noch nicht Realität geworden ist. Ich greife dabei für den Anfang auf Textpassagen aus meinem Buch "Elite im Hamsterrad - Manifest für einen Neuanfang der kreativen Klasse" zurück, in dem ich mich mit dieser Fragestellung über die letzten anderthalb Jahre beschäftigt habe.

"Elite im Hamsterrad - Manifest für einen Neuanfang der kreativen Klasse" (Auszug - Seite 59 bis 65):

Der kurzfristige Sprung auf aussichtsreiche Positionen bleibt den meisten verwehrt, denn Qualität (inhaltlich) zählt in der Politik typischerweise weniger als Quantität (im Sinne von Einsätzen im Straßenwahlkampf, geklebten Plakaten oder Ähnlichem). Demokratie ist nicht immer die Auslese der besten Kandidaten, sondern oftmals eine Auslese der bekanntesten und präsentesten.
[...]
Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Kandidat für letzteren Weg, nämlich den außerhalb der Politik, entscheidet, eng korreliert mit seinen Qualitäten und Möglichkeiten. Je qualifizierter ein junger Mann oder eine junge Frau ist, desto mehr Möglichkeiten gibt es, sich außerhalb der Politik – zumindest finanziell und was gesellschaftliches Ansehen angeht – zu verwirklichen. Im Umkehrschluss heißt das natürlich auch, dass selten die besten Köpfe in der Politik landen. Gehässig gesagt: Die Auswahl für politische Spitzenämter ist weitgehend so gestaltet, dass es für die Besten wenig interessant ist, sich dieser zu stellen, oder sie im Prozess selbst ausgesiebt werden.
[...]
Um unabhängig denken und handeln zu können, bedarf es in der Politik eines gewissen Selbstbewusstseins. Nicht zu verwechseln mit der viel zitierten „Arroganz der Macht“ natürlich. Wer dagegen weiß (oder glaubt), dass er oder sie mit einem Ausscheiden aus seinem politischen Amt finanziell und sozial mit harten Einschnitten zu rechnen hat, wird sich umso verbissener um seine Wiederwahl bemühen. Dabei gilt es weniger, wie es in der Demokratie ursprünglich angedacht war, die eigenen Wähler mit guter Arbeit zu überzeugen. Das wäre mehr als legitim. Vielmehr muss man vor dem Hintergrund unseres starren Wahlsystems in erster Linie innerhalb der Partei reüssieren, um bei den kommenden Wahlen einen sicheren Listenplatz oder zumindest eine Direktkandidatur in einem sicheren Wahlkreis (den es nur für die großen Parteien CDU, CSU und SPD gibt) zu ergattern. Dafür bedarf es vor allem Überzeugungsarbeit bei den Parteioberen, die typischerweise selbst auf dem Weg an die Spitze abgeschliffen wurden und von deren einst vielleicht vorhandenen progressiven Ideen die meisten auf dem „langen Marsch durch die Institutionen“ verloren gegangen sind. Neue Ideen und innovative Ansätze helfen bei diesem Unterfangen daher höchstens in homöopathischen Dosen; gefragt sind eher treue Gefolgsleute, die in Meinung und Verhalten die Alteingesessenen imitieren.
[...]
Wie können Menschen mit wahrem Elitepotenzial im aktuellen System am Ende doch den Weg in politische Spitzenämter schaffen, ohne dass sie dabei allzu viele Kompromisse eingehen müssen? Letztlich gibt es dafür nur zwei Möglichkeiten. Die eine hängt von glücklichen äußeren Umständen ab, die zweite vom langen Atem der betreffenden Person. Bei letzter Option heißt das: früh anfangen, immer dabei bleiben, ohne negativ aufzufallen, und im besten Politikeralter mit einem entsprechend angereicherten Lebenslauf aus einem anderen Umfeld, wie etwa der Wirtschaft oder der Wissenschaft, als halber Quereinsteiger einen Versuch starten. Vor dem Hintergrund, dass ein Erfolg nicht garantiert werden kann, und der Zeitraum, um den es geht, gerne 15 bis 20 Jahre betragen kann, kann man sich ausmalen, wie attraktiv dieser Ansatz für einen inzwischen erfolgreichen und typischerweise gut bezahlten Manager, Unternehmer oder Wissenschaftler ist. 
[...]
Aus gesellschaftlicher Sicht muss man aber konstatieren, dass unsere Parteiendemokratie für junge Spitzenkräfte, denen alle Türen auch außerhalb der Politik offen stehen, zu wenige Angebote bereithält. Jedes System bekommt am Ende auch die Vertreter, die es verdient. Danach beurteilt, ist unser System zumindest suboptimal ausgestaltet – um es vorsichtig auszudrücken. Im Sinne einer wirklichen Spitzenförderung auch in der Politik müsste den Wählern mehr Möglichkeiten bei der Wahl ihrer Abgeordneten gegeben werden. So hätten auch Kandidaten, die innerhalb ihrer Partei aufgrund von Alter, Geschlecht, Regionalproporz oder anderen inhalt­lichen Positionen eher eine Außenseiterrolle innehaben, eine faire Chance. Denn der Bürger erkennt gute Leute im Zweifel besser als Parteigranden, die sich nur in Rückzugsgefechten zur Rettung und Stabilisierung ihres Einflussbereiches befinden.

Sonntag, 4. Juli 2010

Die letzten Tage – die nächsten Tage

Was ist noch passiert?

Es ist Samstag und so langsam habe ich die Eindrücke der letzten Tage verarbeitet und komme dazu, mir etwas strukturierter Gedanken zu machen. Zunächst einmal ein kurzer Blick zurück.

Ich hatte das große Glück, am Mittwoch im Reichstag der Bundesversammlung beiwohnen zu dürfen. Über den Verlauf der Wahl an sich muss ich wohl keine weiteren Worte verlieren, denn diesen konnte man ja auf fast allen Sendern live verfolgen und spätestens am Tag nach der Wahl in allen Print- und Onlinemedien detailliert nachlesen, inklusive ausgiebiger Kommentierung. Aus meiner persönlichen Sicht war es ein Erfolg, dass unser Kandidat Joachim Gauck es unter den gegebenen Umständen in den dritten Wahlgang geschafft hat. Ich hatte schon vorher gesagt, dass unsere Chance darin besteht, vor der Wahl etwas zu erreichen. Dazu ist es leider nicht gekommen. Trotzdem kein Grund für Verdruss; Joachim Gauck war nicht niedergeschlagen, und deshalb sollten wir es auch nicht sein!

Wir haben der Meinung der Bürger eine neue Öffentlichkeit gegeben –und das wurde durchaus wahrgenommen. Während der Bundesversammlung hatte ich die Möglichkeit, mit Menschen verschiedenster Hintergründe über unsere „Bewegung“ zu sprechen. Das Interesse war enorm, egal ob bei den Parteispitzen, bei Journalisten, bei Wissenschaftlern oder sogar bei Botschaftern anderer Länder. Sie alle haben erkannt, dass sich hier in Deutschland in den letzten Wochen etwas bewegt hat, das man nicht wegdiskutieren kann und mit dem man sich – egal aus welcher Perspektive heraus – beschäftigen muss. Die einen sehen es noch eher als Risiko – die anderen (die meisten) sehen es als Chance. Dieses erreicht zu haben, kann uns niemand nehmen. Und damit wirken wir auch über den 30. Juni hinaus.

Wie geht es weiter?

Nun aber noch ein paar Worte zu der Frage, die seit einigen Tagen alle (auch mich) beschäftigt: Wie geht es weiter? Ich habe mir lange Gedanken gemacht und bin damit vermutlich nicht alleine. Es gibt bereits verschiedene Initiativen, die versuchen wollen, den entstandenen Schwung mitzunehmen und an anderer Stelle zu nutzen. So hat Gerald Wenk etwa die Gruppe „Werkstatt Demokratie“ gegründet, das Organisationsteam von "Demos für Gauck" wird einen Verein gründen, der sich u.a. für die Direktwahl des Bundespräsidenten einsetzen will und Christian Edom hat eine Gruppe gegründet, um für die Verleihung eines Ordens an Joachim Gauck zu werben. Ohne all das inhaltlich bewerten zu wollen (bei der Direktwahl des Präsidenten habe ich tatsächlich noch keine abschließende Meinung) muss ich sagen, dass ich das äußerst verdienstvoll finde. Jedes Engagement dieser Art ist ein Einsatz für die Demokratie, wie wir sie uns wünschen – nämlich eine, in der die Bürger die Realität aktiv mitgestalten! Was diese beiden Beispiele allerdings auch schon zeigen: die Interessen scheinen doch in unterschiedliche Richtungen zu gehen. Geeint hat uns alle, dass wir uns Joachim Gauck als Bundespräsident gewünscht hätten – egal ob alt oder jung, männlich oder weiblich, Linkspartei- oder CSU-Mitglied. Viele von uns wird vielleicht auch noch das Gefühl einen, dass der eine oder andere Prozess in unserer Parteiendemokratie an den Bürgern vorbeiläuft. Sobald wir aber versuchen würden, eine solch heterogene Gruppe hinter gemeinsamen politischen Themen zu versammeln, die über diese Erkenntnis hinausgehen, müssten wir scheitern – so meine Überzeugung. Ich halte das übrigens überhaupt nicht für schlimm, denn es liegt schlichtweg in der Natur der Sache und bietet damit erst genau die Chancen von Partizipation, von denen wir in den letzten vier Wochen so erfolgreich Gebrauch gemacht haben.

In der klassischen Gesellschaftsordnung bündeln Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Kirchen etc. gewisse Einstellungen von Menschen in einer schwammigen Art und Weise. Wer dort Mitglied wird, lebt in einem dauernden Kompromisszustand, der eine Demokratie zwar ausmacht, aber den Einzelnen immer öfter unglücklich zurücklässt. Um die eigentlich immer weiter verschwimmenden Grenzen zwischen Parteien deutlicher ziehen zu können, wird stärker auf die Unterschiedlichkeiten als auf das Einende abgestellt. Denn nur durch Corpsgeist lassen sich Menschen für eine Partei organisieren, auch wenn sie in der Sache nicht immer übereinstimmen. Mit unserer Initiative haben wir auch für Deutschland bewiesen, dass die neuen Kommunikationsmedien eine Zusammenarbeit zwischen Bürgern auch entlang von einzelnen Themen und damit über Parteigrenzen hinweg möglich ist – wenn man es denn zulässt. Was dabei auf den ersten Blick wie eine Gefahr für die Parteien und andere Organisationen aussieht, ist in Wahrheit eine Chance für all die Institutionen, die mit ihrem klassischen Ansatz derzeit massiv an Mitgliedern verlieren. Gerade auch die Parteien müssen sich Bürgern öffnen, die sich jenseits klassischer Strukturen engagieren wollen. Das heißt aber im Umkehrschluss auch: unsere Initiative für Joachim Gauck wird sich nicht einfach auf andere Themen erweitern lassen, denn dann würden auch wir in die klassische Denke abgleiten. Vielmehr sollten sich diejenigen, die bestimmte Ziele verfolgen (wie etwa die Direktwahl des Bundespräsidenten) zusammenschließen und das Thema auch Menschen öffnen, die bspw. für Wulff waren, trotzdem aber für eine Direktwahl sind, gleichzeitig aber auch akzeptieren, dass es vielleicht Unterstützer der Kandidatur von Joachim Gauck gibt, die gegen die Direktwahl sind.

Um es also ganz hart zu formulieren: Die Gruppe „Joachim Gauck als Bundespräsident“ ist nicht einfach weiter zu entwickeln. Die Aktivität wird abnehmen, viele Leute werden die Gruppe verlassen, vielleicht „stirbt“ sie sogar eines Tages komplett. Aber: das ist nicht weiter schlimm, wenn sich jeder für sich und vielleicht auch einige zusammen neue Felder sucht, in denen er oder sie sich engagieren will. Vielleicht begegnen sich auch diejenigen, deren Wege sich jetzt trennen, in einem anderen Thema wieder. Vielleicht auch nicht. Sicher sind für politische Themen auch noch viele Menschen aktivierbar, die wir diesmal nicht erreicht haben. Die Bewegung pro Gauck war damit hoffentlich der Startschuss für mehr Teilhabe von Bürgern via Web 2.0 und Co. – wenn dies eintritt, haben wir Großes erreicht und können unseren Platz in den Geschichtsbüchern reservieren.

Zu meinen Plänen: Ich habe in den letzten Tagen viele Kontakte in Berlin und an anderer Stelle knüpfen können. Von verschiedensten Seiten wurde – wie oben schon beschrieben – Interesse an einem Austausch bekundet, denn es wird wohl verstanden, dass „da draußen“ gerade etwas passiert, wohl aber nicht unbedingt, was genau das ist und wie es die Art und Weise politischer Teilhabe verändern wird. Ich will versuchen, die Übersetzungsleistung zu erbringen und den verantwortlichen Politikern, Gewerkschaftern etc. deutlich machen, dass sie nicht darum herum kommen werden, die Wünsche des Volkes stärker in ihre Entscheidungsfindung und Kommunikationsstrategie einzubinden, um nicht mit entsprechenden Kampagnen konfrontiert zu werden. Darüber hinaus werde ich natürlich auch weiterhin die Anfragen von Presse und Wissenschaft beantworten und die eine oder andere Erkenntnis wird auch in meiner Doktorarbeit zum Thema „Neue Wege in der Tarifpartnerschaft“ einfließen und ansonsten auch wieder in meinen Beruf „zurückkehren“. Darüber hinaus werde ich mich nun tatsächlich einige Wochen nach Erscheinen meines Buches "Elite im Hamsterrad - Manifest für einen Neuanfang der kreativen Klasse" auch damit beschäftigen, dieses bekannt zu machen. Darauf musste ich mit Rücksicht auf die Kampagne komplett verzichten – um mich nicht dem Vorwurf der Vermischung von Interessen auszusetzen. Für alle diejenigen, die es interessiert: viel von dem, über das wir in den letzten Tagen diskutiert haben, ist dort auch schon Gegenstand der Betrachtung. Die Frage nach der Nutzung des Internets zur Einbindung breiterer Bevölkerungsschichten in den demokratischen Prozess etwa oder auch die Voraussetzungen für eine politische Beteiligung des Bürgertums.

Ich könnte noch so viel schreiben, aber das würden Rahmen sprengen. Viele Gedanken werde ich in den nächsten Tagen noch vertiefen. Wichtig ist mir noch, danke zu sagen an Euch alle! Wer Lust hat, an den oben skizzierten Themen auch in Zukunft mit mir zusammenarbeiten, ist herzlich willkommen! Die ersten Persönlichkeiten auch aus dem Dunstkreis von Joachim Gauck haben bereits ihre Bereitschaft bekundet und auch er scheint nicht abgeneigt. Bleiben wir also am Ball…

Samstag, 3. Juli 2010

Mein Highlight der letzten Wochen...

Für mich ganz persönlich gab es in den letzten Wochen neben den unglaublichen Dingen, die passiert sind, noch ein ganz besonderes Highlight, an dem ich Euch teilhaben lassen will. Zwischen dem zweiten und dritten Wahlgang saß ich mit Joachim Gauck zusammen im Turmzimmer des Reichstags mit Blick auf das Brandenburger Tor. Ich sagte zu ihm: „So schließt sich der Kreis. Vor 21 Jahren haben Sie noch darum gekämpft, einmal die Quadriga von hinten sehen zu dürfen, heute sitzen Sie hier mit Blick auf diese und wären fast Präsident des geeinten Deutschlands geworden.“ Daraufhin nahm er sein Buch zur Hand und bat mich, mich zu ihm zu setzen. Und dann las er mir die letzten beiden Seiten vor, auf denen aufgeschrieben hat, wie er vor einem Jahr, bei der Wiederwahl Horst Köhlers genau diesem Gedanken nachhing und sich dann am Reichstag vor der Deutschland-Fahne fotografieren ließ. Ein wahrer Patriot – das merkt man in einem solchen Augenblick in jeder Haarspitze. Und ich werde diesen Moment sicher mein Leben lang nicht vergessen. Wir haben für die richtige Persönlichkeit gekämpft!

Die Fotos sind einige Momente später auf dem Balkon des Turmzimmers entstanden.

Dienstag, 29. Juni 2010

Sommermärchen, Teil II – Ein unzulässiger Vergleich

Ich weiß, Analogien zwischen Politik und Fußball zu beschreiben ist alles andere als cool. Das hat und Christian Wulff dieser Tage wieder einmal bewiesen. Ich will es an dieser Stelle trotzdem wagen, weil die Aussage dieser Zeilen so tatsächlich am besten transportiert werden kann (glaube ich zumindest).

Wir schrieben das Jahr 2006 als in Deutschland das Sommermärchen, Teil I aufgeführt wurde. Als Außenseiter ins Turnier gestartet (wer erinnert sich nicht an das 1:4 im letzten großen Testspiel gegen Italien in Florenz) verzauberte die deutsche Nationalmannschaft die ganze Nation – und die ganze Nation begeisterte mit ihrer Freude die Welt. Man begann vom Weltmeistertitel zu träumen, spätestens nach dem Viertelfinale gegen Argentinien war die Euphorie grenzenlos. Dann kam das Italienspiel und alle Träume zerplatzten. Anstatt aber die Köpfe hängen zu lassen und in alte Verhaltensmuster zu verfallen, gingen die Bürger dieses Landes trotzdem auf die Straße und feierten die Mannschaft – und sich selbst. Diese vier Wochen im Sommer 2006 haben diese Nation verändert. Und das wirkt bis heute nach.

Nun ist es 2010. Es ist wieder Sommer, es ist wieder WM-Zeit, Deutschland spielt wieder tollen Fußball. Die Nation träumt vom Sommermärchen, Teil II. Diesmal aber bitte mit der Krönung, das heißt einem Sieg im Finale. Bevor klar sein wird, ob es denn zum Happy End reichen wird, tritt aber am morgigen 30. Juni in Berlin die Bundesversammlung zusammen, um einen neuen Bundespräsidenten zu wählen. Die Kandidatur von Joachim Gauck kommt damit auf jeden Fall zu einem Ende, Ausgang noch ungewiss. Aber auch diese hat in Deutschland in den letzten Wochen Energien freigesetzt, mit denen keiner gerechnet hätte und die viele den Bürgern wohl nicht zugetraut hätten. Menschen haben sich im Internet und auf der Straße zusammengefunden, Guerilla-Aktionen durchgeführt, Songs gedichtet und Videos gebaut, Bilder entworfen und auf Buttons, T-Shirts und Teddybären gedruckt. Sie haben sich engagiert – und zwar überparteilich, ohne Organisationsstrukturen und für, nicht gegen etwas.

Für den Fall, dass Joachim Gauck morgen gewählt wird, wird die Euphorie grenzenlos sein. Deswegen möchte ich mich mit diesem Fall auch gar nicht beschäftigen. Vielmehr ist doch die Frage, wie es weitergeht, wenn es nicht reichen sollte (was immer noch der wahrscheinlichere Fall ist). Ich meine: wir sollten es dann genauso halten, wie wir es 2006 nach dem Spiel gegen Italien gehalten haben. Trauern wir nicht, ärgern wir uns nicht, haben wir keine Angst. Denn „Angst macht kleine Augen“, wie es Joachim Gauck immer so schön ausdrückt. Nutzen wir vielmehr die Energie, die sich in den letzten Wochen durch die Interaktion, die Arbeit am gemeinsamen Ziel ergeben hat, um weiterzumachen. Wo auch immer, wie auch immer.

Selbst wenn Joachim Gauck nicht gewählt werden sollte, war das, was wir getan haben, nicht umsonst. Für uns sowieso nicht, haben wir uns doch auch selbst bewiesen, wozu wir in der Lage sind, uns gewissermaßen „ermächtigt“. Einige starten eine Gesangskarriere, andere haben inzwischen beste Kontakte zur Hauptstadtpresse, dem örtlichen Autoverleih und dem Baumarkt. Wo es die billigsten Flyer gibt, wissen wir inzwischen genauso gut, wie auch wie man ein einen Verein gründet, Spenden einwirbt, eine Demo anmeldet oder Pressemitteilungen schreibt…. Aber auch darüber hinaus haben wir Wirkung entfaltet. Wir haben Debatten um eine Direktwahl des Bundespräsidenten oder über unsere Demokratie an sich, besonders aber über die Frage der Teilhabe der Bürger an den Entscheidungsprozessen angestoßen, die es ansonsten in diesem Umfang zumindest derzeit nicht gegeben hätte. Ich behaupte auch, dass Merkel, Westerwelle und Co. die Entscheidung für Christian Wulff so nicht noch einmal treffen würden – zumindest vom Ablauf her – weil auch sie erkennen mussten, dass die Bürger sich nicht mehr alles gefallen lassen. Das ganze Thema Internet bzw. Social Media wird im politischen Umfeld in Zukunft anders gesehen werden (müssen). Denn es ist mehr als nur eine weitere Spielwiese für das Marketing der Parteien – es ist eine neue Möglichkeit der Teilhabe. Und diese wird von uns Bürgern auch wieder eingefordert!

Wir sollten also auch im Falle eines für uns negativen Wahlausgangs unserem Motto treu bleiben: pro und nicht contra! Auch wenn uns allen der Prozess nicht gefällt, müssen wir als Demokraten auch einen Christian Wulff als unseren Bundespräsidenten akzeptieren. Das sollte uns aber überhaupt nicht daran hindern, als Bürger dieses Landes auch und gerade Herrn Wulff unsere Gedanken und Wünsche mitzugeben. Vor dem Hintergrund, dass Herr Wulff das Internet als Medium der „jungen Leute“ sieht und unser Engagement zwischenzeitlich als „gefährlich“ bewertet hat, ist Aufklärung gewissermaßen gesellschaftliche Pflicht! Daher finde ich, dass wir ganz klar das Angebot an Herrn Wulff und all die anderen Führungspersonen dieses Landes formulieren sollten: bindet uns ein, nutzt die Schwarmintelligenz Eurer Bürger, seht uns nicht als Gefahr! Herr Gauck hat das nach einem ersten Moment der Überraschung verstanden. Herr Wulff, das können Sie auch! Wir kommen gerne mal in Bellevue zu einem Gespräch vorbei…

Aber nun warten wir einmal ab, wie es morgen ausgeht. Vielleicht fällt ja ein frühes Tor für den Außenseiter – und dann ist alles möglich…

Montag, 28. Juni 2010

Offener Brief an Christian Wulff

Dieser Brief geht in dieser Form im Laufe des Tages an Herrn Wulff, die Presse und alle Wahlmänner und -frauen. Er gibt meine persönliche Meinung wieder.

Sehr geehrter Herr Wulff, 

ich schreibe Ihnen als Initiator der Facebook-Gruppe „Joachim Gauck als Bundespräsident“. Inzwischen haben sich über 36.000 Mitstreiter gefunden, die ein gemeinsames Ziel vereint. Wir verstehen uns als so genannte „Graswurzelbewegung“ ohne Hierarchien, die sich zwei grundsätzliche Regeln gegeben hat:
  1. Wir treten nicht gegen etwas oder gegen jemanden an, sondern ausschließlich für etwas ein. Unser gemeinsames Anliegen ist, dass Joachim Gauck Bundespräsident wird.
  2. Wir sind überparteilich.
Wenn Sie sich mit unserer Bewegung etwas eingehender beschäftigen, können Sie erkennen, dass sich die große Mehrheit der Mitglieder niemals abfällig über Sie oder die Parteien an sich geäußert hat. Im Gegenteil: wir haben immer betont, dass wir uns als Ergänzung im bestehenden demokratischen System sehen, auch wenn eine gewisse Unzufriedenheit natürlich da ist. Aber: wir planen keine Revolution! Mit umso größerem Erstaunen mussten wir Ihre Einlassungen gegenüber der „Rheinischen Post“ zur Kenntnis nehmen. Besonders der Satz „Die Anti-Parteien-Stimmung mancher Anhänger Joachim Gaucks ist gefährlich, denn wir brauchen Hunderttausende, die sich ehrenamtlich und freiwillig vor allem auf kommunaler Ebene für ihre Gemeinde engagieren und sich Zeit dafür nehmen“ ist vielen von uns übel aufgestoßen.

Halten Sie tatsächlich ein Engagement wie das unsere – und damit auch uns – für gefährlich? Ist Ihnen bekannt, dass eine dreistellige Zahl der Mitglieder unseres Forums auch aus Ihrer eigenen Partei stammt? Auch von der FDP sind mehrere hundert Parteimitglieder bei uns organisiert. Wollen Sie diesen Menschen, die eigentlich Ihrem Lager zugerechnet werden müssten, aber auch den vielen parteilosen oder in anderen Parteien organisierten Menschen ernsthaft unterstellen, sie zögen gegen die Parteiendemokratie ins Felde?

Sie und viele andere sollten nicht den Fehler machen, das Engagement von tausenden Bürgern dieses Landes als Angriff auf die demokratischen Fundamente unserer Gesellschaft zu werten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bürger dieses Landes können mehr als nur Plakate kleben und Werbebroschüren verteilen. Und sie fordern diese Teilhabe auch wieder ein!

Wenn sich selbst Parteimitglieder außerhalb klassischer Parteistrukturen engagieren, dann ist das ein Zeichen für eine lebhafte Demokratie. Die Durchlässigkeit über Parteigrenzen hinweg könnte ein Vorbild auch für die große Politik sein. Der Frust, der natürlich auch eine – wenn auch kleinere – Rolle spielt, wendet sich dabei nicht gegen „die Parteien“. Er wendet sich vielmehr gegen eine kleine Gruppe von Politikern in allen Parteien, die seit Jahren diesen Staat immer mehr als Verfügungsmasse für ihre eigene Karriereplanung sehen und dann die eigenen Fraktionen und Parteien mit machtpolitischen Daumenschrauben hinter sich zwingen.

In diesem Jahr ist am Beispiel des höchsten Staatsamtes einmal mehr deutlich geworden, dass dieses Denken selbst in einer so schwierigen Zeit, wie wir sie momentan erleben, die deutsche Politik dominiert. Gleichzeitig ist mit Joachim Gauck ein Kandidat auf den Plan getreten, mit dessen Wahl die Wahlmänner und –frauen deutlich machen könnten, dass sie sich eben nicht einzig und alleine von den Vorgaben aus Parteizentralen, sondern von ihrem Gewissen und ihrer Überzeugung leiten lassen. Die Umfrageergebnisse sprechen für sich.

Das alles geht nicht gegen Ihre Person. Für uns ist Joachim Gauck schlichtweg der bestmögliche Kandidat. Davon abgesehen werden wir als Demokraten natürlich jedes Wahlergebnis akzeptieren. Wir wünschen uns allerdings, dass dieses frei zustande kommt und nicht unzulässigerweise mit dem Fortbestand der Koalition oder sonstigen machtpolitischen Zielen verknüpft wird.

Ich würde mir wünschen, dass Sie sich mit unserem Anliegen zumindest einmal eingehender beschäftigen. Denn Sie können davon ausgehen, dass diese Art von Willensbekundung in den nächsten Jahren zunehmen wird. Vielleicht nutzen Sie dafür ja die Zeit, die sie bisher in die Fragen investiert haben, wo Ihre erste Reise hingehen soll, wann Sie Ihre erste Grundsatzrede halten wollen oder wer zu Ihrem Beraterstab gehören soll. Die Bürger dieses Landes würden sich darüber sicher freuen.

Mit freundlichen und zutiefst demokratischen Grüßen 
Ihr Christoph Giesa

Sonntag, 27. Juni 2010

Die Freiheit der Wahl

Wenn Parteispitzen in Deutschland einsame Entscheidungen treffen, nehmen sie in schöner Regelmäßigkeit danach ihre Fraktion, ihre Partei und indirekt sogar den Bürger in Geiselhaft. Wer nicht bereit ist, ihre vermeintlich „alternativlosen“ Entschlüsse mitzutragen, dem wird vorgeworfen, dass er oder sie damit die Handlungsfähigkeit der Regierung oder den Erfolg der Partei aufs Spiel setzen wolle und im Zweifel für die Konsequenzen gerade zu stehen habe. Genau so wird auch derzeit wieder gegenüber den liberalen und konservativen Wahlmännern und –frauen argumentiert, die mit dem Gedanken spielen, ihre Stimme in der Bundesversammlung nicht Christian Wulff sondern Joachim Gauck zu geben.

Dieses Vorgehen pervertiert allerdings eine ganz fundamentale Grundlage in einer Demokratie: die Freiheit der Wahl. Fraglos macht es in der Tagespolitik durchaus Sinn, dass Koalitionen stabile Gestaltungsmehrheiten haben und manche Entscheidungen auch von den Fraktionsmitgliedern mitgetragen werden, die vielleicht nicht immer vollständig übereinstimmen. Ohne ein gewisses Maß an Kompromissfähigkeit von allen Beteiligten wäre eine Demokratie handlungsunfähig. In der Frage der Bundespräsidentenwahl allerdings dürfen diese Überlegungen am Ende keine Rolle spielen.

Der Bundespräsident ist eine überparteiliche Institution. Natürlich wurde das Amt immer wieder an verdiente Parteipolitiker vergeben – unabhängig davon, welche Farben gerade die Mehrheit in der Bundesversammlung hatten. Allerdings waren die Mehrheitsverhältnisse dadurch klar, dass die Entscheidung zwischen den verschiedenen Kandidaten leicht fiel, da sie einem eindeutigen Lager zurechenbar waren und von diesem ohne größeres Murren unterstützt werden konnten. Das ist diesmal anders. Mit Joachim Gauck wurde von SPD und Grünen ein Kandidat nominiert, der dem schwarz-gelben Lager bei eingehender Betrachtung sogar näher steht, als dem rot-grünen. Er war schon 1999 und 2004 für das Amt im Gespräch – und zwar in den Reihen von Union und Liberalen. Die meisten Wahlmänner der FDP und viele von CDU und CSU würden sich normalerweise für Joachim Gauck entscheiden, wenn nicht die Parteispitzen die Wahl von Christian Wulff mit der Zukunft der Koalition verbinden würden.

Dieses Vorgehen zeugt von einem kruden Verfassungsverständnis führender Volksvertreter. Es wird daher Zeit, dass die Fraktionen und Parteien anfangen, diese Demokratie wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Nicht sie dürfen sich in die Verantwortung für offensichtliche Fehlentscheidungen ihrer Führungsspitzen nehmen lassen, die im vorliegenden Fall einmal mehr weder ein Empfinden für die Stimmung innerhalb der eigenen Parteien noch für die Stimmung bei den Bürgern hatten. Wenn Angela Merkel, Guido Westerwelle, Horst Seehofer und ihre engsten Führungszirkel mit ihren einsamen Entscheidungen ihre Parteien in eine Sackgasse geführt haben, müssen sie es auch sein, die sie mit verantwortlichem Handeln wieder herausführen. Und dieses Handeln muss die Entscheidung beinhalten, die Wahl freizugeben und sie nicht mehr unzulässigerweise mit der Zukunft der Koalition zu verknüpfen. Wer bestellt, bezahlt. Und wer glaubt, Entscheidungen über den Kopf der eigenen Mitglieder und Gremien hinweg treffen zu können, kann am Ende diese nicht in Sippenhaft nehmen.

Eine Wahl von Christian Wulff wäre ein mögliches Ergebnis. Wahrscheinlich ist dieses aber nicht. Würde Wulff allerdings in der derzeitigen Konstellation gewählt, hätte dies ganz unabhängig von seiner Person eine nachhaltige Beschädigung des Amtes und sogar der Demokratie zur Folge. Vor allem die FDP würde dafür zu Recht haftbar gemacht werden. Dabei spielt keine Rolle, dass natürlich auch die Nominierung Gaucks durch SPD und Grüne rein machtpolitischen und damit ähnlich zweifelhaften Motiven geschuldet ist. Jedem aufgeklärten Bürger wird mit Blick auf die FDP klar sein, wie die Wahlmänner sich bei einem zur Wahl stehenden Konservativen und einem Liberalen eigentlich entscheiden müssten – womit Gauck eine klare Mehrheit hätte. Die schon arg gebeutelte Partei droht so nach elf Jahren in der Opposition, in der das vor 1998 verspielte Vertrauen langsam wieder aufgebaut werden musste, auf unbefristete Zeit für weite Teile des Bürgertums in der Mitte der Gesellschaft unwählbar zu werden.

Dieses Szenario zu vermeiden ist die FDP-Parteispitze nun in der dringenden Pflicht. Es bleibt wenig Zeit. Sollte diese nicht genutzt werden, müssen es eben die liberalen Wahlmänner und –frauen richten, in dem sie sich freimachen von parteipolitischem Einfluss auf eine Wahl, bei der derartige Überlegungen keine Rolle spielen dürfen. Sie sollten dies nicht in der Art von Heckenschützen tun, sondern vielmehr mit offenem Visier kämpfen. Eine klare Ansage, dass sie sich rein nach ihrem Gewissen zu entscheiden gedenken und damit keine Aussage bezüglich des Fortbestands der Koalition verbunden sei, wäre die sauberste Lösung. Zumindest müssten aber Union und FDP dem Kandidaten Gauck die Türen öffnen und eine Vorstellung möglich machen. Wer dies aus Angst vor Abweichlern einem solchen Kandidaten verwehrt, tritt demokratische Prinzipien mit den Füßen.

Die Bürger würden im Falle einer Freigabe der Wahl, wie sie Kurt Biedenkopf gefordert hat, aufatmen. Sie würden sich vielleicht sogar ein klein wenig freuen, dass es doch noch aufrechte Politiker in diesem Land gibt. Und sie hätten das Gefühl, dass auch heute noch das als hohes Gut geschätzt wird, wofür Joachim Gauck und viele andere 1989 auf die Straße gegangen sind: die Freiheit der Wahl.

Samstag, 26. Juni 2010

Sonderzug nach Bellevue - Marc Bürger feat. Florian Scheffler

Bitte weiterverteilen über Twitter, Facebook etc!

Warum richtig ist, was wir tun…

In den letzten Tagen gab es an verschiedenen Stellen auch den einen oder anderen kritischen Kommentar, etwa zur Mailingaktion über die Plattform avaaz.org, die in unserer Facebook-Community heftig beworben und genutzt wurde. An dieser Stelle einmal ein paar Gedanken, weshalb ich trotzdem glaube, dass es richtig ist, was wir tun und wie wir es tun.

Ich habe an anderer Stelle über das seltsame Demokratieverständnis mancher Volksvertreter geschrieben. Das wird auch hier wieder deutlich. Der eine oder andere Abgeordnete hat sich bereits negativ zur großen Zahl gleichlautender Emails geäußert, die er bzw. sie in den letzten Tagen bekommen hat. In einem Fall fiel sogar das Wort „Gesinnungsterror“. Sind wir also zu weit gegangen? Mitnichten! Abgeordnete (und andere Wahlmänner) müssen damit rechnen, dass Ihnen der Bürger auch jenseits der Wahlkämpfe mitteilt, wie er von ihnen vertreten werden will. Das gefällt vielen nicht, ist aber Bestandteil unserer Demokratie. Ob nun tausend handgeschriebene Briefe oder tausend gleichlautende Mails über ein Online-Formular verschickt werden, ändert am Inhalt nichts: In beiden Fällen liegt eine eindeutige Aussage des Absenders vor. Nur weil man mit einer mechanischen Lösung die Transaktionskosten (sprich: den Aufwand), die jeder investieren muss, um mit seinem Wahlmann in Kontakt zu treten senkt, macht es die Willensbekundung jedes einzelnen Bürgers nicht weniger wert.

Davon abgesehen sind es offenbar einzig Wahlmänner und Wahlfrauen von CDU/CSU und FDP, die sich bisher beschwert haben. Und das obwohl die Mails an alle Wahlmänner, also auch die von SPD, Grünen, Linke und Freien Wählern geht. Könnte es also sein, dass die Kritik weniger mit der Aktion an sich als vielmehr mit der derzeitigen Gemengelage zu tun hat? Was würden die Wahlmänner sagen, wenn die Situation genau umgekehrt wäre? Ich behaupte, sie würden sich freuen und ggf. sogar unterstützen.

Insgesamt ist es übrigens schade, dass die Wahlmänner die Aktion als Angriff werten. Eigentlich sollten sie es als Bestärkung sehen, am 30. Juni nicht nach Parteibuch sondern nach dem Herzen zu wählen. Die Aktion soll auch sagen: Fürchtet Euch nicht vor Euren Parteioberen, wir stehen hinter Euch. Und wir sind viele!

Ich hatte übrigens gestern die Möglichkeit, mich mit dem von der SPD nominierten Wahlmann Sebastian Krumbiegel („Die Prinzen“) über die Aktion zu unterhalten. Er war fasziniert von den über hundert Mails, die er in den Stunden zuvor bekommen hat – und vor allem von der dahinter stehenden Aktion. Er ist kein Politiker. Und vielleicht scheint er genau deshalb in dieser Geschichte eher die Potenziale für neue Teilhabe als eine Bedrohung zu sehen…

Monika Maron im Deutschen Theater am 22. Juni 2010

Die Schriftstellerin Monika Maron erklärt, warum sie Joachim Gauck unterstützt.

Mittwoch, 23. Juni 2010

Rede am 22.6. im Deutschen Theater in Berlin

Finde Deinen Wahlmann...


Du willst aktiv werden? Du willst, dass der Bundespräsident unabhängig von parteipolitischen Motiven gewählt wird? Du möchtest deiner Wahlfrau oder deinem Wahlmann daran erinnern, dass es in der Bundesversammlung keinen Fraktionszwang gibt?

Dann schalte doch im Lokalteil deiner Zeitung eine Anzeige und fordere deine Wahlfrau oder deinen Wahlmann auf am 30.6. in der Bundesversammlung in freier, gleicher und geheimer Wahl den besseren Kandidaten zu wählen.

Und so geht’s:
  1. Schau auf unserer Karte nach, wo in deiner Nähe eine Wahlfrau oder ein Wahlmann wohnt und wie er heißt. 

  2. Übernimm unseren vorgeschlagenen Anzeigentexte oder verfasse einen eigenen. 

  3. Ergänze den Text um den Namen deiner Wahlfrau bzw. deines Wahlmanns und unterzeichne ihn mit deinem (oder noch besser euren) Namen. 

  4. Ruf in deiner Lokalredaktion an und buche die Anzeige. 

  5. Schreib eine kurze Email an gauck.unterstuetzen@gmail.com, wann und wo du die Anzeige geschaltet hast, damit wir wissen, wo unsere UnterstützerInnen schon aktiv geworden sind.  

Dienstag, 22. Juni 2010

Rede von Joachim Gauck im Deutschen Theater in Berlin, 22.6.2010

Bürger - Künstler - Gauck am 25.6. im Radialsystem in Berlin - Kommt alle!

Vorrede zur Rede von Joachim Gauck am 22.6. im Deutschen Theater in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!
 
Zunächst einmal wünsche Ich Ihnen allen von Herzen einen Guten Morgen und freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Für die, die mich nicht kennen: Mein Name ist Christoph Giesa und ich bin einer von inzwischen über 34.000 Unterstützern der Kandidatur von Joachim Gauck bei Facebook, einem so genannten sozialen Netzwerk im Internet.

Über uns wurde viel geschrieben – und meistens werden wir einfach „die Netzgemeinde“ genannt. Aber dieser Begriff ist irreführend, denn eigentlich sind wir einfach 34.000 Bürger dieses Landes, die auf neue Art und Weise Ihren Willen kundtun, an der demokratischen Willensbildung teilnehmen und deutlich machen, wen sie sich als Bundespräsidenten wünschen. Viele von diesen Unterstützern sind in diesem Moment live über das Internet zugeschaltet und ich möchte von dieser Stelle herzliche Grüße senden.

Was in den letzten Tagen im Netz passiert ist, ist bisher ohne Beispiel in der Geschichte. Neben Demonstrationen wurden Filmprojekte gestartet, T-Shirts, Buttons, Fahnen und Teddybären gestaltet, Petitionen gestartet, Mailaktionen ins Leben gerufen – und das alles nicht gegen etwas, sondern für etwas bzw. jemanden. Die Kreativität der Menschen scheint unerschöpflich – und mit den sozialen Netzwerken haben sie endlich auch die Chance, diese jenseits von klassischer Parteiarbeit einzubringen. Und das über alle Altersgrenzen, soziale Milieus oder Lebensgeschichten hinweg.

Journalisten fragen mich regelmäßig: Wie kommt es dazu, dass ein Siebzigjähriger, der zugibt mit dem Internet nicht allzu viel am Hut zu haben, in der so genannten Netzgemeinde derart gefeiert wird. Die Antwort ist einfacher, als man denken würde. Die Währung des Netzes – und damit all der echten Menschen, die dahinter stehen – ist Authentizität. Und davon bringt die Persönlichkeit, derentwegen wir heute hier sind, eine Menge mit.

Genau diese Persönlichkeit ist es, die für die Menschen in der derzeitigen Lage den Unterschied macht. Denn diese Persönlichkeit steht mit ihrer Biografie für Rückgrat wie sonst kaum jemand in diesem Land.

Diese Persönlichkeit schafft es, klare Kante zu zeigen, Position zu beziehen – und trotzdem durch die Art und Weise, in der sie es tut, zu einen.

Diese Persönlichkeit steht für Intellektualität und Rhetorik, scharf wie ein Schwert.

Diese Persönlichkeit kennt die Macht des Wortes – und ist auch bereit gewesen, für die Freiheit auf die Straße zu gehen.

Das sind genau die Attribute, die sich die Menschen in dieser schwierigen Zeit vom höchsten Repräsentanten unseres Staates wünschen – und genau deswegen, gehen wir in diesen Tagen für diese Persönlichkeit auf die Straße. In Berlin, in Reutlingen, in München, in Mainz, in Chemnitz, in Dresden… Diese Persönlichkeit ist Joachim Gauck – so Gott will ab dem 30. Juni 2010 der nächste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

Herr Gauck, Ihre Bühne!

Montag, 21. Juni 2010

Embedded Blogger

In erster Linie schreibe ich dieser Tage ja über Joachim Gauck, den Kandidaten, von dem ich mir wünschen würde, dass er nächster Bundespräsident dieses Landes wird. Parteiisch war ich vorher schon, mit dem heutigen Tage habe ich aber die letzte journalistische Distanz aufgegeben. Ich schreibe diese Zeilen gewissermaßen als „embedded“ Blogger, denn heute und morgen sitze ich in Berlin in einem Büro im Bonhoeffer-Haus gemeinsam mit den Menschen, die die Kandidatur von Joachim Gauck persönlich unterstützen.

Hintergrund sind die Veranstaltungen, die für den 22. (morgen) und 25.6. hier in Berlin geplant sind. Morgen wird Joachim Gauck im Deutschen Theater hier in Berlin die letzte große programmatische Rede vor der Bundespräsidentenwahl halten. Zu dieser Veranstaltung haben Unterstützer aus den verschiedensten Bereichen aufgerufen, nämlich die Schauspielerin Nina Hoss, die Schriftsteller Monika Maron und Uwe Tellkamp und stellvertretend für Netzaktivisten Rainer Ohliger, Ulrich Kasparick und meine Wenigkeit. Meine Hoffnung ist, dass diese Rede noch einmal einen richtig Schub bringt – und wenn ich sehe, wie hart hier gerade an den Inhalten gearbeitet wird, bin ich auch optimistisch, dass das klappt. Drückt die Daumen… danach dann mehr. Es gibt noch einige spannende Neuigkeiten zu berichten…

P.S.: Die Demo war ähnlich besucht wie die anderen auch. Es hat Spaß gemacht… wirklich. Und Vera Lengsfeld hat am Ende die richtigen Worte gefunden! In diesem Sinne: weiter machen!

Neuer Videogruß von Joachim Gauck

Samstag, 19. Juni 2010

Gedanken zu unserer Demokratie

Es ist mal wieder viel passiert in den letzten Tagen. Deutschland hat verloren und die Euphorie ist Realismus gewichen. Ähnlich geht es denen, die sich derzeit für Joachim Gauck engagieren. Die ersten Demos haben – teilweise auch aufgrund widriger äußerer Umstände – keine Massen bewegt. Aber sie waren trotzdem gut und wichtig, weshalb es auch unverdrossen weitergeht. Am Montag in Berlin, in den Tagen darauf in Marburg, Schwerin, München... Trotz der schönen medialen Erfolge gibt es aber auch negative Stimmen von Medienvertretern, aus Parteien oder von anderen Bloggern. Diese will ich zum Anlass nehmen, um ein paar Worte zu dieser unserer Demokratie an sich zu verlieren.

Was ist das für eine Demokratie, in der die Argumentation auf den Kopf gestellt wird?

Wie weit ist es in diesem Land gekommen, wenn man sich dafür rechtfertigen muss, dass man sich als Bürger für etwas engagiert, an das man glaubt? Wer hat denn bitte beschlossen, dass Meinungsäußerung nur noch den Parteien, Gewerkschaften und Verbänden überlassen wird? „Die Parteien wirken an der Willensbildung mit“ – das steht im Grundgesetz. Aber wie kann es dann sein, dass sich das Bürgertum damit arrangiert hat, dass sie die Willensbildung inzwischen komplett zu übernehmen scheinen? Brechen wir dieses Denken auf, machen wir uns frei von dem, was dieses Land in die Krise getrieben hat – nämlich die jahrzehntelange Gleichgültigkeit!
 
Wie weit ist es in diesem Land gekommen, wenn eine Demonstration, die eben keine Massen mobilisiert, aber bei der sich Menschen für ihre Überzeugung in den strömenden Regen stellen, von anderen als „blamabel“ bezeichnet wird? Andersrum wird ein Schuh draus. Wer sich nicht engagiert, sondern nur meckert und sich dann auch noch diebisch freut, wenn andere nicht den gewünschten Erfolg haben, blamiert sich. Geistige Heckenschützen braucht niemand. Wer so denkt, ist Teil des Problems, dass dieses Land hat. Wer sich so verhält muss ein trauriger Mensch mit einem noch traurigeren Selbstverständnis sein. Leider gibt es davon derzeit viele. Mehr als von denen, die sich engagieren. Aber das muss man nicht akzeptieren. Und noch weniger sollte man sich von diesen Menschen beeinflussen lassen. Sie sind nicht diejenigen gewesen, die dieses Land aufgebaut haben. Sie sind nicht diejenigen gewesen, die 1989 zusammen mit Joachim Gauck in Ostdeutschland auf die Straße gegangen sind. Und sie werden auch jetzt nicht diejenigen sein, die den Karren aus dem Dreck ziehen. Wir sollten sie nicht beachten, weil sie uns auf unserem Weg im Wege liegen. Haben wir Mitleid – aber setzen wir uns nicht mit denen auseinander, die nicht verstanden haben, dass eine Demokratie nur vom Mitmachen leben kann.
 
Was ist mit unserer Demokratie passiert, wenn diejenigen, die die Fehler machen, danach andere dafür in die Pflicht nehmen können? Angela Merkel und Guido Westerwelle haben sich in einem zutiefst undemokratischen Hau-Ruck-Verfahren auf Christian Wulff als ihren Kandidaten geeinigt. Wie so oft in letzter Zeit basierte diese Entscheidung auf einer Reihe von Fehleinschätzungen. Der Versuch, Ruhe in die Koalition zu bekommen, ist kläglich gescheitert, weil man sowohl die Reaktion der Öffentlichkeit, als auch die innerhalb der Parteien komplett falsch eingeschätzt hat. Anstatt allerdings auf die Unmutsäußerungen zu reagieren, wird der Spieß umgekehrt. Wer nicht bereit ist, sich als Wahlmann das Ergebnis einer undemokratischen Entscheidung diktieren zu lassen, wird beschuldigt, das Ende der Koalition riskieren zu wollen. Doch müsste es nicht genau andersrum sein? Müsste nicht die Partei am Ende eine demokratische Mehrheitsentscheidung treffen und im Zweifel ihre unfähigen Parteispitzen auswechseln? Eine Niederlage Gaucks wäre nicht zwangsläufig das Ende der Koalition, sondern das Ende von Angela Merkel, Guido Westerwelle und vielleicht noch einigen anderen. Die Überschneidungen zwischen Union und FDP sind groß genug, um noch drei Jahre Regierungszeit zu gestalten. Nur das Management schwächelt. In einem Unternehmen würde es ausgetauscht – in einer Demokratie muss dies umso mehr möglich sein.

Was wäre es für ein Zeichen für diese Demokratie, wenn am Ende dutzende Wahlmänner gegen ihre Überzeugung abstimmen würden? Wie soll man dann als Chef in einem Unternehmen noch Loyalität von seinen Mitarbeitern einfordern können, wenn selbst die Volksvertreter nicht mehr an ihr Gewissen gebunden sind? Wie soll man Menschen dazu bringen, die Grundwerte dieser Gesellschaft als gemeinsame Lebensgrundlage zu akzeptieren, wenn selbst diejenigen, die uns regieren, sich diesen nicht mehr verpflichtet fühlen. Wie soll man guten Köpfen erklären, dass sie in Deutschland bleiben sollen, anstatt auszuwandern, wenn sie sehen, dass unser Land über Parteigrenzen hinweg von Mittelmäßigkeit regiert wird?

Sollte Wulff Bundespräsident werden, nimmt diese Demokratie schaden. Nicht aufgrund seiner Person. Sondern aufgrund dessen, weil offensichtlich wird, dass die so genannten Volksvertreter eben nicht im Sinne des Volkes und noch nicht einmal nach ihrem eigenen Gewissen handeln, sondern sich einzig alleine als Steigbügelhalter für ein paar wenige Spitzenpolitiker gerieren. Ich will noch nicht glauben, dass dies tatsächlich so sein wird. Und deswegen halte ich mich an die aufrechten Wahlmänner und –frauen, die bisher schon deutlich gemacht haben, dass sie sich ihrem Gewissen entsprechend verhalten werden. Ich wünsche mir von Herzen, dass sie nicht alleine bleiben…