Freitag, 6. November 2009

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Freitag und Ende

Freitag, 30. Januar.
Ich schlafe aus. Natürlich. Das macht man so, wenn man Urlaub hat. Morgen ist Wochenende, danach geht es wieder an die Arbeit. Mit Elan. Und wenn der Drachen mich weiterhin nervt, dann suche ich mir eine andere Stelle. Kein Problem. Ich weiß, ich habe Glück gehabt. Ich hatte gute Startvoraussetzungen, habe mich bis hierher durchgebissen und kann meinem Job nachgehen, ohne Schmerzen zu haben. Die Jungs von der Imbissbude würden sich das wünschen. Und ich wünsche ihnen alles Gute. Vielleicht schau ich in Zukunft ab und an dort vorbei, auf eine Currywurst und ein paar gute Gespräche. Das erdet. Und vielleicht habe ich ja irgendwann einmal einen Job für einen von ihnen. Denn die Herzlichkeit mit der sie mich aufgenommen haben und die Ehrlichkeit, mit der sie über ihre Lager und auch ihre eigenen Fehler gesprochen haben, war echt. Ich schalte den Fernseher ein und schaue eine Talkshow. Die letzte für lange Zeit. Und ich denke mir dabei, dass die, die mit Arbeitslosigkeit schon gestraft genug sind, echt ein besseres Fernsehprogramm verdient hätten.

Geschichte wiederholt sich doch

"Mit xxx kommt eine Figur an die Spitze, die schon seit 20 Jahren in Bonn agiert, von der aber keiner sagen kann, wer er eigentlich ist. Er löst Befürchtungen aus, aber keine Begeisterung. War bisher ein deutscher Provinzpolitiker. xxx kann weder englisch noch französisch. Er ist ein Politiker ohne Ausstrahlungskraft und Charisma. Hervorgetan hat xxx sich durch einen unbändigen Aktionismus, Hektik, Betriebsamkeit, Show-Geschäft, eine Arbeitswut und Omni-Präsenz, Alleskönnerei. xxxs Einzug ins Außenministerium sehen seine künftigen Untergebenen mit einiger Beklemmung entgegen. Aber sie rechnen damit, dass der außenpolitische Dilettant ohne den Apparat überhaupt nicht zurande kommen kann."

Diese Worte, würde man meinen, begleiten Guido Westerwelle auf den Weg ins Amt. Doch weit gefehlt: Der Text stammt aus dem Jahre 1974 und beschreibt den Start von Hans-Dietrich Genscher, der heute für die meisten Deutschen der größte Außenminister der Nachkriegszeit ist. Geschichte wiederholt sich eben doch - und Guido Westerwelle hat eine faire Chance verdient...

Der Link zum kompletten Artikel über Westerwelles Antrittsbesuch in den USA: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,659648,00.html

Donnerstag, 5. November 2009

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Donnerstag

Donnerstag, 28. Januar.
Ich schlafe wieder aus. Keine Frage. Aus dem Frühstück wird ein Brunch, dazu läuft der Fernse-her. Unterschichtenfernsehen. Das Wetter ist bemerkenswert grau. Ich greife zum Notebook und recherchiere noch etwas zum Thema Hartz IV. Ich lerne, dass in den Regelsatz von 359 € verschiedene Ausgabeposten mit unterschiedlichen Prozentsätzen veranschlagt sind. Für Nahrung, Getränke und Tabakwaren sind 37% vorgesehen. Bei meinen zu erwarten-den 519 € wären das genau 192,03 € im Monat oder 6,40 € am Tag. „Mein Kaffee bei Starbucks kostet alleine schon 3,20 €“, schießt es mir als erstes durch den Kopf. Auf die Frage, was man denn für 3,20 € am Tag noch Leckeres konsumieren könnte, fehlen mir die Antworten. Nudeln mit Tomatensoße und abends Brot mit Butter? Das Problem wird vorerst zurückgestellt. Ich habe gehört, dass es nicht weit von mir einen Imbiss gibt, wo Hartz-IV-Empfängern 20 Prozent Nachlass auf die Currywurst gewährt wird. Dort will ich sie treffen, meine Brüder und Schwestern im Geiste. Ich will aus erster Hand erfahren, wie es ist, arbeitslos zu sein und wie es sich so lebt vom vieldiskutierten Hartz IV. Der Kiosk ist gut besucht, trotz leichtem Schneeregen. Ich geselle mich dazu und spreche einige der Männer direkt an. Ich erzähle ihnen von meiner drohenden Arbeitslosigkeit und bitte um ihren Rat. Sie sind alle gerne bereit, mir zu helfen. Auch wenn die meisten Geschichten doch eher von den eigenen frustrieren-den und erniedrigenden Erlebnissen bei den Sozialbehörden handeln. Es wird schnell deutlich: keiner hier ist glücklich mit seinem Schicksal. Die „Sozialschmarotzer“, die nebenbei schwarz arbeiten oder dealen und sich so ein vergleichsweise schönes Leben ergaunern, sind hier nicht anzutreffen. „Die machen Dich nackig, sag ich Dir!“ berichtet Heinz, ein ge-lernter Maurer mit kaputten Gelenken unter zustimmendem Gemurmel der anderen. „Alles musst Du offenlegen. Alles. Und Deine Eltern und Kinder auch! Da gibt es keine Privats-phäre mehr!“ Ich erschrecke bei dem Gedanken, Frau Neihus vom Arbeitsamt meine Kontoauszüge, meinen Depotauszug und meinen Mietvertrag vorlegen zu müssen. Clemens, 38, ungelernt aus Ostdeutschland, lässt mich hochschrecken. Und glaub ja nicht, dass Du einen Heller von denen bekommst, so lange Du noch Erspartes rumliegen hast oder in einer zu gro-ßen Wohnung wohnst. Ich hab geerbt. Drei Tage später haben sie mir die Stütze gestrichen, bis ich fast alles aufgezehrt hat-te. Wer arbeitslos wird und vorgesorgt hat, ist der Dumme!“ Mir bleibt fast die Currywurst im Hals stecken. Ganz offen-sichtlich gab es da noch den einen oder anderen Paragraphen, den ich nicht kannte. Mein Plan löste sich nach und nach in Wohlgefallen auf. Ich gebe eine Runde Glühwein aus und verabschiede mich freundlich von den Anwesenden. Auf dem Weg nach Hause rufe ich ein paar Freunde an. Keiner hat Zeit. Alle arbeiten. Ich fühle mich alleine. Es ist kalt. Arbeitslos sein ist vielleicht doch nichts für mich.

Mittwoch, 4. November 2009

Entwicklungshilfe für Deutschland statt Milliardensubventionen


Die FDP hat vor der Wahl gefordert, das Entwicklungshilfeministerium abzuschaffen und die Aufgaben ins Außenministerium zu integrieren. Das hätte durchaus Sinn gemacht – zumindest so lange, wie man nicht selbst den zuständigen Minister stellte. Inzwischen scheint es so, dass alles einfach so weiterläuft wie unter der "roten Heidi", Dirk Niebels Vorgängerin im Amt. Das ist ein Fehler. Man sollte die Entwicklungshilfearbeit massiv ausweiten – jedoch nicht in Südamerika, Afrika oder Asien, sondern in Deutschland!

Was sich unsinnig anhört – und nicht ganz ohne Augenzwinkern formuliert wurde – hat einen sehr ernsten Hintergrund. Während man mit Entwicklungshilfe seit Jahrzehnten vergeblich (weil mit falschen Instrumenten und ohne nachhaltige Kontrolle) versucht, die Ungleichheit der Welt etwas abzufedern und Menschen in der Zweiten und Dritten Welt mehr Chancen zu eröffnen, wird immer noch weitestgehend übersehen, dass innerhalb Deutschlands die Gesellschaft immer weiter auseinanderfällt – und zunehmend Verlierer produziert werden, die ihr Leben als ohne wirkliche Chance wahrnehmen und sich so von dieser Gesellschaft entfernen. Oftmals handelt es sich dabei um Migrantenkinder, fast immer aber um Kinder, die aus sozial schwächeren Familienverhältnissen stammen. Nirgends in der westlichen Welt ist der Lebenserfolg so eng mit der sozialen Herkunft korreliert, wie in Deutschland. Eine erschreckende Erkenntnis. Reaktionen bleiben allerdings bisher weitgehend aus.

Warum passiert nichts? Vermutlich ist es einfach so, dass dieses Thema in weiten Kreisen von Politik und Gesellschaft derzeit noch als alleiniges Problem der direkt Betroffenen gesehen. Doch das ist es nicht. An der Antwort auf Frage, welche Chancen und welche Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander jeder in Deutschland haben muss, unabhängig von seiner Herkunft, entscheidet sich ganz maßgeblich auch die Frage nach der Gesellschaft, in der wir in Zukunft leben werden, mit. Hat man vor Jahren noch geglaubt, dass der Begriff "Schwellenländer" die Staaten bezeichnet, die auf dem Sprung sind, mit den westlichen Industriestaaten gleichzuziehen, eine Mittelschicht zu etablieren und soziale Spaltung – auch im Sinne von Gated Communities mit Wachmännern, Privatschulen für die Reichen und Pulic Schools für die Armen und rassistischer Ausgrenzung – zu überwinden, muss man inzwischen konstatieren: eine Annährung findet statt. Aber nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Deutschland ist inzwischen ein Schwellenland – und damit in vermeintlich bester Gesellschaft, wenn man in die USA oder nach Frankreich schaut. Die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich, Gewinner und Verlierer nimmt zu. Und gefährdet mittel- bis langfristig auch die Freiheit derer, die sich momentan noch als Gewinner fühlen.

Es braucht doch niemand ernsthaft zu glauben, dass diejenigen, die keinen Zugang zu den Fleischtöpfen abbekommen haben, sich ihrem Schicksal in großer Zahl klaglos fügen und ohne Widerstand für € 4,50 bei Kik ihre 50 Stunden abreißen werden, um danach doch nicht genügend Geld zu haben, um ihre Familie zu ernähren. Die Parallelgesellschaften der Latinos in den USA und der arabisch-afrikanischen Community in Frankreich sollte Warnung genug sein, sich dieses Themas anzunehmen. Erste Tendenzen, vor allem im türkischstämmigen Umfeld sind bereits erkennbar. Re-Islamisierung, die Unterdrückung von Frauen und die Ablehnung der Grundwerte dieser unserer Gesellschaft greifen immer weiter um sich und legen ein Feuer, dass schon heute nur noch mit schwerster Anstrengung unter Kontrolle bekommen werden könnte. Doch diese Anstrengung fehlt vollständig. Integrationsgipfel und ähnliches sind zwar richtig – aber leider noch nicht einmal der Tropfen auf dem heißen Stein.

Wenn von Investitionen in Bildung gesprochen wird, dann verstehen die meisten Politiker immer noch Elitenbildung darunter. Ein wichtiger Aspekt, will man perspektivisch ganz vorne mitspielen. Aber was ist mit denen, die davon nicht profitieren? Die – um im Fußballjargon zu bleiben – von Geburt an gegen den Abstieg kämpfen?

Deutschland gibt im Jahr 2009 unglaubliche 54 Milliarden Euro für Subventionen aus. Abwrackprämie (alleine 7 Mrd.), Bankenhilfe, Theater und Museen, Sportförderung und Agrarsubventionen. Wenn nur zehn Prozent davon in die Förderung von Integration (Sprachförderung, Sozialarbeiter, Hausaufgabenhilfe etc.) gesteckt würde, hätte man vielleicht eine Chance, den negativen Trend aufzuhalten und auch das bürgerschaftliche Engagement wieder anzuregen. Gemeinsinn statt Parallelwelt – und zwar am oberen wie am unteren Rand – muss das vorrangige Ziel unserer Gesellschaft sein, damit wir nicht in Zukunft brasilianische, südafrikanische, amerikanische oder französische Verhältnisse bekommen. Das einzusehen fällt dem einen oder anderen Liberalen vielleicht im ersten Moment schwer – aber was zählt mehr - die kurzfristige Freiheit ohne Verantwortung, wenn dafür in Zukunft ein Leben im goldenen Käfig droht? Oder ein nachhaltiger Ansatz, der den Kern dieser Gesellschaft, Chancengerechtigkeit und Teilhabe, bewahrt?

Deutschland braucht ein radikales Umdenken. Entwicklungshilfe für Deutschland statt Milliardensubventionen für kränkelnde Branchen und starke Lobbies!

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Mittwoch


Mittwoch, 28. Januar.
Mein Büro ist ein Glasbau. Modern, gebaut von irgendeinem Stararchitekten. Blick auf die Alster. Die Arbeitsagentur ist ein Zweckbau aus Beton. Siebziger Jahre vermutlich. Da tut frühes Aufstehen noch weher als sonst. Ich tröste mich damit, dass es eine Ausnahme bleiben wird. Denn als Arbeitsloser schläft man aus. Normalerweise. Und vor allem im Winter. „Einen Grande-Hazelnut-Nonfat-Mocha to go, bitte“, werfe ich der Barista von Starbucks zu, während ich weiter meinen Träumen nachhänge. Bestens ausgestattet mit Kaffee und Cookies mache ich mich auf zur Arbeitsagentur. Pünktlich zur Öffnung will ich da sein, um als erster bedient zu werden. Doch ich werde jäh aus meinen Träumen gerissen. Vor dem Eingang stehen schon 45 Gestal-ten, dick verpackt in Daunenjacken und Wintermänteln. Ich reihe mich ein, gehe nach der Öffnung stumm, wie eigentlich der ganze „Trauerzug“, in Richtung Wartemarkenautomat und ziehe eine Nummer. Es wird die 4. Das ist OK. Ich wid-me mich meinem Mitgebrachten und beobachte die anderen Wartenden. Vermutlich haben die wenigsten von ihnen einen Lebenslauf wie ich. Markenkleidung ist vergleichsweise we-nig zu sehen. Keiner trägt eine teure Uhr. Ich lasse den Arm meines Mantels unauffällig über meinen Glashütte-Chronographen rutschen und schiebe meinen Kaffeebecher mit dem auffälligen Logo der Kaffeehauskette etwas aus dem Sichtfeld. Ich habe das erste Mal ein echtes Gefühl der Be-klemmung. Ich will arbeitslos sein. Es ist meine Entschei-dung. Ich könnte auch anders. Die meisten, wenn nicht alle um mich herum, sind arbeitslos, weil sie keine Arbeit finden. Keiner braucht sie.

Die 4 blinkt auf. Ich gehe zu meiner Sachbearbeiterin. Auf ihrem Namenschild steht „S. Neihus, Beraterin“. „Wir sind also gewissermaßen Kollegen“, lache ich in mich hinein. Ich grüße freundlich und erkläre ihr, dass ich noch nicht arbeitslos sei, dies aber vermutlich bald sein werde. Daher wolle ich mich schon einmal erkundigen, was denn dann zu tun wäre, damit ich nahtlos Arbeitslosengeld bekäme. Frau Neihus nimmt geduldig meine Angaben auf und lobt mich, für meine Initiative. „Gut, dass Sie sich so früh bei uns melden. Bei ih-rem Profil sollte es kein Problem sein, einen direkten Über-gang in einen neuen Job hinzubekommen. Ich glaube nicht, dass für Sie Arbeitslosengeld relevant wird.“ Ich will wider-sprechen, beiße mir aber auf die Zunge. Dass ich gar keinen neuen Job suche, würde sie vermutlich nicht verstehen. Und ganz sicher würde ich mir selbst Steine in den Weg legen. Ich frage weiter nach, wie sich die Sache denn gestalten würde, für den hypothetischen Fall, dass ich doch keinen Job finden würde. Frau Neihus hebt die Augenbraue und mustert mich verdutzt, will mir die Antwort dann aber doch nicht vor-enthalten. „Nun ja, Sie sollten Arbeitslosigkeit als einen Full-Time-Job verstehen. Sie, als jemand der zu 100 Prozent ar-beitsfähig ist, haben nur Anspruch auf Leistungen vom Staat, wenn Sie uns glaubhaft vermitteln können, dass Sie alles er-denklich Mögliche tun, um ein neues Arbeitsverhältnis zu finden. Wir geben Ihnen Hilfestellungen, bieten Ihnen Stellen an. Aber nichtsdestotrotz ist Eigeninitiative gefragt. Dass Sie dafür in Deutschland leben müssen, um uns zur Verfügung zu stehen, ist selbstverständlich.“ Wir schauen uns an. Ich zöge-re. Da schiebt sie noch eine Bemerkung hinterher. „Ansonsten werden die Leistungen empfindlich gekürzt und spätestens auf Hartz-IV-Niveau macht das Leben keinen Spaß mehr. Egal wer man ist oder wer man wahr!“

Ich fühle mich ertappt und verunsichert. Vielen Dank, auf Wiedersehen. Ab in mein Stammcafé. Dort kennt und respek-tiert man mich. Dort gehöre ich hin. Ich nehme mir für den nächsten Tag vor, mir die Bedingungen für staatliche Leis-tungen noch einmal genauer anzusehen.




Dienstag, 3. November 2009

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Dienstag

Dienstag, 27. Januar.
Ich schlafe aus. Natürlich. Heute schaue ich kurz beim Arbeitsamt, das ja jetzt Arbeitsagentur heißt vorbei und kläre das weitere Vorgehen mit meiner Be-raterin, danach geht’s mit einem guten Buch in mein Lieb-lingscafé. Später dann noch eine Runde schwimmen und Sauna in meinem Fitness Studio. Bestens.

Ich betrete das Arbeitsamt und fühle mich fremd. „Hier möchte man auch nicht arbeiten. Wenn man denn überhaupt arbeiten möchte“, denke ich mir. Linoleumfußböden, Neon-licht. Wie man es sich eben vorstellt. Und kein First-Class-Schalter wie am Flughafen. Buchstaben G und H. Ich ziehe eine Nummer. 162. „Da wurde aber auch schon länger der Zähler nicht auf Null gesetzt“, murmele ich vor mich hin, während ich den Wartebereich betrete.

Ich erstarre. Unzählige Augenpaare sind auf mich gerichtet. Der Zähler für die Buchstaben G und H zeigt eine 123. Es riecht nach Schneematsch und Schweiß. Und es ist viel zu warm. Rote Plastiksitze, gut gefüllt. Ich grüße leise und setze mich neben eine Frau mittleren Alters, Typ Kassiererin. Ich fühle mich wie auf einem anderen Planeten und fixiere den Zähler. Eine Minute geht vorbei. Eine weitere. Ich wende mich an meine Nachbarin und frage sie, wie viele Sachbear-beiter denn für die einzelnen Buchstabenkombinationen zu-ständig wären. Sie lacht leise. „Einer natürlich. Sie waren wohl noch nicht so oft hier, oder?“ Nein, war ich nicht. Und ich hoffe, dass es sich auch in Zukunft weitgehend vermeiden lassen wird. Ich will das Geld, dass mir zusteht und ansonsten meine Ruhe. Der Zähler springt auf die 124. Der Berater in mir meldet sich und ich überschlage die Wartezeit. Es sind noch 37 Menschen vor mir, jeder benötigt etwa sechs Minuten. Vermutlich werden einige, vielleicht sieben, nicht so lange warten wollen. 30 mal sechs Minuten sind drei Stunden. Nicht mit mir. Ich entschließe mich, diesen Programmpunkt für heute zu überspringen und direkt ins Café zu fahren. Morgen bin ich früher da.

Montag, 2. November 2009

„Ab heute bin ich mal Hartz IV“ - Montag

Es ist der 16. Januar. Das Jahr ist noch jung. Erst zwei Wochen Arbeit seit den Weihnachtsferien und doch bin ich urlaubsreif. Denn seit Beginn des neuen Jahres habe ich einen neuen Chef. Besser gesagt eine Chefin. Ein Drachen. Ungelogen. Ich habe keine Lust mehr, morgens aufzustehen. Ich will sie nicht sehen. Arbeit nervt.

Ich bin sowieso nie so ein Mensch gewesen, der nicht wüsste, was er tun sollte, wenn er nicht arbeiten müsste. Arbeiten gehe ich, um Geld zu verdienen, dass ich dann in meiner Freizeit ausgebe. Arbeiten gehe ich nicht, weil ich glaube, damit etwas besonders wertvolles zu tun oder um das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden. Das würde mir sowieso niemand glauben, nicht einmal ich selbst. Denn wer braucht schon wirklich einen Unternehmensberater? Sicher, viele halten sich für unersetzbar. Und stellen dann mit Erschrecken fest, dass sich die Welt während ihres krankheitsbedingten Ausfalls oder ihres Urlaubs auch ohne sie weitergedreht hat. Aber so bin ich nicht.

Meine Chefin will, dass ich bis Ende des Monats meinen Resturlaub nehme. Zumindest einen Teil. Denn in ihrer Welt nimmt man keinen Urlaub. Und ich gehöre ja jetzt zu ihrer Welt. Aber eine Woche ist drin. Und die werde ich nutzen, um herauszufinden, wie es wäre, einfach nicht mehr zu arbeiten. Ich brauche ja nicht viel. Selber kündigen ist nicht drin, man muss schon rausgeworfen werden. Aber das kriege ich hin, so unmotiviert wie ich gerade bin. „Grow or go“, heißt es ja nicht umsonst in unserer Branche. Die Leistungen des Staates sollen ja so schlecht nicht sein. Wenn vier Millionen andere davon leben können, warum nicht auch ich? Ich habe ja gut verdient in den letzten Jahren und einiges zur Seite gelegt. „Das wird ein Fest“, denke ich mir, während ich mit meinem Urlaubsantrag zur Personalabteilung spaziere.

Montag, 26. Januar.  
Das Experiment startet. Erst mal ausschlafen. „Das macht man so als Arbeitsloser“, denke ich mir. Das Frühstücksfernsehen ist schon vorbei, als ich mich aus dem Bett schäle und mich genüsslich mit einer Tasse bestem Espresso aus meiner italienischen Kaffeemaschine auf meine Couch fallen lasse. Das Haus ist ungewohnt still. Ich genieße die Ruhe. Vor der Tür liegt noch die Tageszeitung, auch mein Magazin für Fußballkultur liegt in der Post. Zeit für Lektüre. Ab jetzt immer. Arbeitslos sein fühlt sich gut an bis hierher. Wie Urlaub eben. Ich nehme mein neues Notebook und starte, um mich ein wenig umfassender in die deutsche Sozialgesetzgebung einzuarbeiten. Ich muss ja wissen, was ich an Leistungen zu erwarten habe. Und vermutlich muss auch ich ab und an Nachweise über abgeschickte Bewerbungen erbringen, um meinen Anspruch nicht zu verlieren.

Ein kurzer Blick und ich stelle zufrieden fest: mit Arbeitslosengeld komme ich auf etwa 60% meines vorherigen Gehalts. Fantastisch. Wenn die anderen Berater übermüdet ins Bett fallen, köpfe ich eine Flasche Schampus. Doch halt. Eine größere Anzahl Fußnoten mit Bedingungen lässt mich stutzig werden. Es ist die Rede von Anwartschaftszeiten und begrenzten Anspruchszeiträumen. Juristendeutsch. Nach ein paar weiteren Klicks erkenne ich, dass das Arbeitslosengeld I nur zeitlich begrenzt gezahlt wird. 12 Monate in meinem Fall, den bisher hatte ich eine lückenlose Erwerbsbiographie. Danach greift das Arbeitslosengeld II. Hartz IV also.

Noch bin ich nicht beunruhigt. Erst mal sehen, was das heißt. Noch mehr Juristendeutsch. Regelleistung, KdU, Mehrbedarf, Erstausstattung. Wer arbeitslos wird, sollte vorher besser Jura studiert haben. Dann endlich eine Zahl. 359 €. Wie bitte? Bei weiterer Lektüre finde ich weitere 160 €, die ehemaligen Arbeitslosengeld-I-Empfänger gewährt werden. Die Miete wird auch bezahlt. Und wenn ich es richtig lese, können auch Ersatzinvestitionen für Haushaltsgegenstände übernommen werden. Ich lehne mich zurück. 519 € zur freien Verfügung vom Staat, keine Mietkosten, dazu meine Rücklagen. Ab und an vielleicht mal ein bisschen arbeiten als Lektor von Diplomarbeiten. Dazu zwei, drei Artikel im Jahr für Fachzeitschriften. Und das ganze am liebsten von Portugals Südküste aus. Es ist Montag, 14 Uhr. Die wichtigsten Fragen sind geklärt. Ab heute bin ich mal Hartz IV. Zeit für ein Bier. Das macht man so, wenn man arbeitslos ist.
 
 
Was am Dienstag geschah? Morgen mehr davon an dieser Stelle... :-)