Freitag, 6. November 2009

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Freitag und Ende

Freitag, 30. Januar.
Ich schlafe aus. Natürlich. Das macht man so, wenn man Urlaub hat. Morgen ist Wochenende, danach geht es wieder an die Arbeit. Mit Elan. Und wenn der Drachen mich weiterhin nervt, dann suche ich mir eine andere Stelle. Kein Problem. Ich weiß, ich habe Glück gehabt. Ich hatte gute Startvoraussetzungen, habe mich bis hierher durchgebissen und kann meinem Job nachgehen, ohne Schmerzen zu haben. Die Jungs von der Imbissbude würden sich das wünschen. Und ich wünsche ihnen alles Gute. Vielleicht schau ich in Zukunft ab und an dort vorbei, auf eine Currywurst und ein paar gute Gespräche. Das erdet. Und vielleicht habe ich ja irgendwann einmal einen Job für einen von ihnen. Denn die Herzlichkeit mit der sie mich aufgenommen haben und die Ehrlichkeit, mit der sie über ihre Lager und auch ihre eigenen Fehler gesprochen haben, war echt. Ich schalte den Fernseher ein und schaue eine Talkshow. Die letzte für lange Zeit. Und ich denke mir dabei, dass die, die mit Arbeitslosigkeit schon gestraft genug sind, echt ein besseres Fernsehprogramm verdient hätten.

Geschichte wiederholt sich doch

"Mit xxx kommt eine Figur an die Spitze, die schon seit 20 Jahren in Bonn agiert, von der aber keiner sagen kann, wer er eigentlich ist. Er löst Befürchtungen aus, aber keine Begeisterung. War bisher ein deutscher Provinzpolitiker. xxx kann weder englisch noch französisch. Er ist ein Politiker ohne Ausstrahlungskraft und Charisma. Hervorgetan hat xxx sich durch einen unbändigen Aktionismus, Hektik, Betriebsamkeit, Show-Geschäft, eine Arbeitswut und Omni-Präsenz, Alleskönnerei. xxxs Einzug ins Außenministerium sehen seine künftigen Untergebenen mit einiger Beklemmung entgegen. Aber sie rechnen damit, dass der außenpolitische Dilettant ohne den Apparat überhaupt nicht zurande kommen kann."

Diese Worte, würde man meinen, begleiten Guido Westerwelle auf den Weg ins Amt. Doch weit gefehlt: Der Text stammt aus dem Jahre 1974 und beschreibt den Start von Hans-Dietrich Genscher, der heute für die meisten Deutschen der größte Außenminister der Nachkriegszeit ist. Geschichte wiederholt sich eben doch - und Guido Westerwelle hat eine faire Chance verdient...

Der Link zum kompletten Artikel über Westerwelles Antrittsbesuch in den USA: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,659648,00.html

Donnerstag, 5. November 2009

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Donnerstag

Donnerstag, 28. Januar.
Ich schlafe wieder aus. Keine Frage. Aus dem Frühstück wird ein Brunch, dazu läuft der Fernse-her. Unterschichtenfernsehen. Das Wetter ist bemerkenswert grau. Ich greife zum Notebook und recherchiere noch etwas zum Thema Hartz IV. Ich lerne, dass in den Regelsatz von 359 € verschiedene Ausgabeposten mit unterschiedlichen Prozentsätzen veranschlagt sind. Für Nahrung, Getränke und Tabakwaren sind 37% vorgesehen. Bei meinen zu erwarten-den 519 € wären das genau 192,03 € im Monat oder 6,40 € am Tag. „Mein Kaffee bei Starbucks kostet alleine schon 3,20 €“, schießt es mir als erstes durch den Kopf. Auf die Frage, was man denn für 3,20 € am Tag noch Leckeres konsumieren könnte, fehlen mir die Antworten. Nudeln mit Tomatensoße und abends Brot mit Butter? Das Problem wird vorerst zurückgestellt. Ich habe gehört, dass es nicht weit von mir einen Imbiss gibt, wo Hartz-IV-Empfängern 20 Prozent Nachlass auf die Currywurst gewährt wird. Dort will ich sie treffen, meine Brüder und Schwestern im Geiste. Ich will aus erster Hand erfahren, wie es ist, arbeitslos zu sein und wie es sich so lebt vom vieldiskutierten Hartz IV. Der Kiosk ist gut besucht, trotz leichtem Schneeregen. Ich geselle mich dazu und spreche einige der Männer direkt an. Ich erzähle ihnen von meiner drohenden Arbeitslosigkeit und bitte um ihren Rat. Sie sind alle gerne bereit, mir zu helfen. Auch wenn die meisten Geschichten doch eher von den eigenen frustrieren-den und erniedrigenden Erlebnissen bei den Sozialbehörden handeln. Es wird schnell deutlich: keiner hier ist glücklich mit seinem Schicksal. Die „Sozialschmarotzer“, die nebenbei schwarz arbeiten oder dealen und sich so ein vergleichsweise schönes Leben ergaunern, sind hier nicht anzutreffen. „Die machen Dich nackig, sag ich Dir!“ berichtet Heinz, ein ge-lernter Maurer mit kaputten Gelenken unter zustimmendem Gemurmel der anderen. „Alles musst Du offenlegen. Alles. Und Deine Eltern und Kinder auch! Da gibt es keine Privats-phäre mehr!“ Ich erschrecke bei dem Gedanken, Frau Neihus vom Arbeitsamt meine Kontoauszüge, meinen Depotauszug und meinen Mietvertrag vorlegen zu müssen. Clemens, 38, ungelernt aus Ostdeutschland, lässt mich hochschrecken. Und glaub ja nicht, dass Du einen Heller von denen bekommst, so lange Du noch Erspartes rumliegen hast oder in einer zu gro-ßen Wohnung wohnst. Ich hab geerbt. Drei Tage später haben sie mir die Stütze gestrichen, bis ich fast alles aufgezehrt hat-te. Wer arbeitslos wird und vorgesorgt hat, ist der Dumme!“ Mir bleibt fast die Currywurst im Hals stecken. Ganz offen-sichtlich gab es da noch den einen oder anderen Paragraphen, den ich nicht kannte. Mein Plan löste sich nach und nach in Wohlgefallen auf. Ich gebe eine Runde Glühwein aus und verabschiede mich freundlich von den Anwesenden. Auf dem Weg nach Hause rufe ich ein paar Freunde an. Keiner hat Zeit. Alle arbeiten. Ich fühle mich alleine. Es ist kalt. Arbeitslos sein ist vielleicht doch nichts für mich.

Mittwoch, 4. November 2009

Entwicklungshilfe für Deutschland statt Milliardensubventionen


Die FDP hat vor der Wahl gefordert, das Entwicklungshilfeministerium abzuschaffen und die Aufgaben ins Außenministerium zu integrieren. Das hätte durchaus Sinn gemacht – zumindest so lange, wie man nicht selbst den zuständigen Minister stellte. Inzwischen scheint es so, dass alles einfach so weiterläuft wie unter der "roten Heidi", Dirk Niebels Vorgängerin im Amt. Das ist ein Fehler. Man sollte die Entwicklungshilfearbeit massiv ausweiten – jedoch nicht in Südamerika, Afrika oder Asien, sondern in Deutschland!

Was sich unsinnig anhört – und nicht ganz ohne Augenzwinkern formuliert wurde – hat einen sehr ernsten Hintergrund. Während man mit Entwicklungshilfe seit Jahrzehnten vergeblich (weil mit falschen Instrumenten und ohne nachhaltige Kontrolle) versucht, die Ungleichheit der Welt etwas abzufedern und Menschen in der Zweiten und Dritten Welt mehr Chancen zu eröffnen, wird immer noch weitestgehend übersehen, dass innerhalb Deutschlands die Gesellschaft immer weiter auseinanderfällt – und zunehmend Verlierer produziert werden, die ihr Leben als ohne wirkliche Chance wahrnehmen und sich so von dieser Gesellschaft entfernen. Oftmals handelt es sich dabei um Migrantenkinder, fast immer aber um Kinder, die aus sozial schwächeren Familienverhältnissen stammen. Nirgends in der westlichen Welt ist der Lebenserfolg so eng mit der sozialen Herkunft korreliert, wie in Deutschland. Eine erschreckende Erkenntnis. Reaktionen bleiben allerdings bisher weitgehend aus.

Warum passiert nichts? Vermutlich ist es einfach so, dass dieses Thema in weiten Kreisen von Politik und Gesellschaft derzeit noch als alleiniges Problem der direkt Betroffenen gesehen. Doch das ist es nicht. An der Antwort auf Frage, welche Chancen und welche Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander jeder in Deutschland haben muss, unabhängig von seiner Herkunft, entscheidet sich ganz maßgeblich auch die Frage nach der Gesellschaft, in der wir in Zukunft leben werden, mit. Hat man vor Jahren noch geglaubt, dass der Begriff "Schwellenländer" die Staaten bezeichnet, die auf dem Sprung sind, mit den westlichen Industriestaaten gleichzuziehen, eine Mittelschicht zu etablieren und soziale Spaltung – auch im Sinne von Gated Communities mit Wachmännern, Privatschulen für die Reichen und Pulic Schools für die Armen und rassistischer Ausgrenzung – zu überwinden, muss man inzwischen konstatieren: eine Annährung findet statt. Aber nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Deutschland ist inzwischen ein Schwellenland – und damit in vermeintlich bester Gesellschaft, wenn man in die USA oder nach Frankreich schaut. Die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich, Gewinner und Verlierer nimmt zu. Und gefährdet mittel- bis langfristig auch die Freiheit derer, die sich momentan noch als Gewinner fühlen.

Es braucht doch niemand ernsthaft zu glauben, dass diejenigen, die keinen Zugang zu den Fleischtöpfen abbekommen haben, sich ihrem Schicksal in großer Zahl klaglos fügen und ohne Widerstand für € 4,50 bei Kik ihre 50 Stunden abreißen werden, um danach doch nicht genügend Geld zu haben, um ihre Familie zu ernähren. Die Parallelgesellschaften der Latinos in den USA und der arabisch-afrikanischen Community in Frankreich sollte Warnung genug sein, sich dieses Themas anzunehmen. Erste Tendenzen, vor allem im türkischstämmigen Umfeld sind bereits erkennbar. Re-Islamisierung, die Unterdrückung von Frauen und die Ablehnung der Grundwerte dieser unserer Gesellschaft greifen immer weiter um sich und legen ein Feuer, dass schon heute nur noch mit schwerster Anstrengung unter Kontrolle bekommen werden könnte. Doch diese Anstrengung fehlt vollständig. Integrationsgipfel und ähnliches sind zwar richtig – aber leider noch nicht einmal der Tropfen auf dem heißen Stein.

Wenn von Investitionen in Bildung gesprochen wird, dann verstehen die meisten Politiker immer noch Elitenbildung darunter. Ein wichtiger Aspekt, will man perspektivisch ganz vorne mitspielen. Aber was ist mit denen, die davon nicht profitieren? Die – um im Fußballjargon zu bleiben – von Geburt an gegen den Abstieg kämpfen?

Deutschland gibt im Jahr 2009 unglaubliche 54 Milliarden Euro für Subventionen aus. Abwrackprämie (alleine 7 Mrd.), Bankenhilfe, Theater und Museen, Sportförderung und Agrarsubventionen. Wenn nur zehn Prozent davon in die Förderung von Integration (Sprachförderung, Sozialarbeiter, Hausaufgabenhilfe etc.) gesteckt würde, hätte man vielleicht eine Chance, den negativen Trend aufzuhalten und auch das bürgerschaftliche Engagement wieder anzuregen. Gemeinsinn statt Parallelwelt – und zwar am oberen wie am unteren Rand – muss das vorrangige Ziel unserer Gesellschaft sein, damit wir nicht in Zukunft brasilianische, südafrikanische, amerikanische oder französische Verhältnisse bekommen. Das einzusehen fällt dem einen oder anderen Liberalen vielleicht im ersten Moment schwer – aber was zählt mehr - die kurzfristige Freiheit ohne Verantwortung, wenn dafür in Zukunft ein Leben im goldenen Käfig droht? Oder ein nachhaltiger Ansatz, der den Kern dieser Gesellschaft, Chancengerechtigkeit und Teilhabe, bewahrt?

Deutschland braucht ein radikales Umdenken. Entwicklungshilfe für Deutschland statt Milliardensubventionen für kränkelnde Branchen und starke Lobbies!

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Mittwoch


Mittwoch, 28. Januar.
Mein Büro ist ein Glasbau. Modern, gebaut von irgendeinem Stararchitekten. Blick auf die Alster. Die Arbeitsagentur ist ein Zweckbau aus Beton. Siebziger Jahre vermutlich. Da tut frühes Aufstehen noch weher als sonst. Ich tröste mich damit, dass es eine Ausnahme bleiben wird. Denn als Arbeitsloser schläft man aus. Normalerweise. Und vor allem im Winter. „Einen Grande-Hazelnut-Nonfat-Mocha to go, bitte“, werfe ich der Barista von Starbucks zu, während ich weiter meinen Träumen nachhänge. Bestens ausgestattet mit Kaffee und Cookies mache ich mich auf zur Arbeitsagentur. Pünktlich zur Öffnung will ich da sein, um als erster bedient zu werden. Doch ich werde jäh aus meinen Träumen gerissen. Vor dem Eingang stehen schon 45 Gestal-ten, dick verpackt in Daunenjacken und Wintermänteln. Ich reihe mich ein, gehe nach der Öffnung stumm, wie eigentlich der ganze „Trauerzug“, in Richtung Wartemarkenautomat und ziehe eine Nummer. Es wird die 4. Das ist OK. Ich wid-me mich meinem Mitgebrachten und beobachte die anderen Wartenden. Vermutlich haben die wenigsten von ihnen einen Lebenslauf wie ich. Markenkleidung ist vergleichsweise we-nig zu sehen. Keiner trägt eine teure Uhr. Ich lasse den Arm meines Mantels unauffällig über meinen Glashütte-Chronographen rutschen und schiebe meinen Kaffeebecher mit dem auffälligen Logo der Kaffeehauskette etwas aus dem Sichtfeld. Ich habe das erste Mal ein echtes Gefühl der Be-klemmung. Ich will arbeitslos sein. Es ist meine Entschei-dung. Ich könnte auch anders. Die meisten, wenn nicht alle um mich herum, sind arbeitslos, weil sie keine Arbeit finden. Keiner braucht sie.

Die 4 blinkt auf. Ich gehe zu meiner Sachbearbeiterin. Auf ihrem Namenschild steht „S. Neihus, Beraterin“. „Wir sind also gewissermaßen Kollegen“, lache ich in mich hinein. Ich grüße freundlich und erkläre ihr, dass ich noch nicht arbeitslos sei, dies aber vermutlich bald sein werde. Daher wolle ich mich schon einmal erkundigen, was denn dann zu tun wäre, damit ich nahtlos Arbeitslosengeld bekäme. Frau Neihus nimmt geduldig meine Angaben auf und lobt mich, für meine Initiative. „Gut, dass Sie sich so früh bei uns melden. Bei ih-rem Profil sollte es kein Problem sein, einen direkten Über-gang in einen neuen Job hinzubekommen. Ich glaube nicht, dass für Sie Arbeitslosengeld relevant wird.“ Ich will wider-sprechen, beiße mir aber auf die Zunge. Dass ich gar keinen neuen Job suche, würde sie vermutlich nicht verstehen. Und ganz sicher würde ich mir selbst Steine in den Weg legen. Ich frage weiter nach, wie sich die Sache denn gestalten würde, für den hypothetischen Fall, dass ich doch keinen Job finden würde. Frau Neihus hebt die Augenbraue und mustert mich verdutzt, will mir die Antwort dann aber doch nicht vor-enthalten. „Nun ja, Sie sollten Arbeitslosigkeit als einen Full-Time-Job verstehen. Sie, als jemand der zu 100 Prozent ar-beitsfähig ist, haben nur Anspruch auf Leistungen vom Staat, wenn Sie uns glaubhaft vermitteln können, dass Sie alles er-denklich Mögliche tun, um ein neues Arbeitsverhältnis zu finden. Wir geben Ihnen Hilfestellungen, bieten Ihnen Stellen an. Aber nichtsdestotrotz ist Eigeninitiative gefragt. Dass Sie dafür in Deutschland leben müssen, um uns zur Verfügung zu stehen, ist selbstverständlich.“ Wir schauen uns an. Ich zöge-re. Da schiebt sie noch eine Bemerkung hinterher. „Ansonsten werden die Leistungen empfindlich gekürzt und spätestens auf Hartz-IV-Niveau macht das Leben keinen Spaß mehr. Egal wer man ist oder wer man wahr!“

Ich fühle mich ertappt und verunsichert. Vielen Dank, auf Wiedersehen. Ab in mein Stammcafé. Dort kennt und respek-tiert man mich. Dort gehöre ich hin. Ich nehme mir für den nächsten Tag vor, mir die Bedingungen für staatliche Leis-tungen noch einmal genauer anzusehen.




Dienstag, 3. November 2009

Ab heute bin ich mal Hartz IV - Dienstag

Dienstag, 27. Januar.
Ich schlafe aus. Natürlich. Heute schaue ich kurz beim Arbeitsamt, das ja jetzt Arbeitsagentur heißt vorbei und kläre das weitere Vorgehen mit meiner Be-raterin, danach geht’s mit einem guten Buch in mein Lieb-lingscafé. Später dann noch eine Runde schwimmen und Sauna in meinem Fitness Studio. Bestens.

Ich betrete das Arbeitsamt und fühle mich fremd. „Hier möchte man auch nicht arbeiten. Wenn man denn überhaupt arbeiten möchte“, denke ich mir. Linoleumfußböden, Neon-licht. Wie man es sich eben vorstellt. Und kein First-Class-Schalter wie am Flughafen. Buchstaben G und H. Ich ziehe eine Nummer. 162. „Da wurde aber auch schon länger der Zähler nicht auf Null gesetzt“, murmele ich vor mich hin, während ich den Wartebereich betrete.

Ich erstarre. Unzählige Augenpaare sind auf mich gerichtet. Der Zähler für die Buchstaben G und H zeigt eine 123. Es riecht nach Schneematsch und Schweiß. Und es ist viel zu warm. Rote Plastiksitze, gut gefüllt. Ich grüße leise und setze mich neben eine Frau mittleren Alters, Typ Kassiererin. Ich fühle mich wie auf einem anderen Planeten und fixiere den Zähler. Eine Minute geht vorbei. Eine weitere. Ich wende mich an meine Nachbarin und frage sie, wie viele Sachbear-beiter denn für die einzelnen Buchstabenkombinationen zu-ständig wären. Sie lacht leise. „Einer natürlich. Sie waren wohl noch nicht so oft hier, oder?“ Nein, war ich nicht. Und ich hoffe, dass es sich auch in Zukunft weitgehend vermeiden lassen wird. Ich will das Geld, dass mir zusteht und ansonsten meine Ruhe. Der Zähler springt auf die 124. Der Berater in mir meldet sich und ich überschlage die Wartezeit. Es sind noch 37 Menschen vor mir, jeder benötigt etwa sechs Minuten. Vermutlich werden einige, vielleicht sieben, nicht so lange warten wollen. 30 mal sechs Minuten sind drei Stunden. Nicht mit mir. Ich entschließe mich, diesen Programmpunkt für heute zu überspringen und direkt ins Café zu fahren. Morgen bin ich früher da.

Montag, 2. November 2009

„Ab heute bin ich mal Hartz IV“ - Montag

Es ist der 16. Januar. Das Jahr ist noch jung. Erst zwei Wochen Arbeit seit den Weihnachtsferien und doch bin ich urlaubsreif. Denn seit Beginn des neuen Jahres habe ich einen neuen Chef. Besser gesagt eine Chefin. Ein Drachen. Ungelogen. Ich habe keine Lust mehr, morgens aufzustehen. Ich will sie nicht sehen. Arbeit nervt.

Ich bin sowieso nie so ein Mensch gewesen, der nicht wüsste, was er tun sollte, wenn er nicht arbeiten müsste. Arbeiten gehe ich, um Geld zu verdienen, dass ich dann in meiner Freizeit ausgebe. Arbeiten gehe ich nicht, weil ich glaube, damit etwas besonders wertvolles zu tun oder um das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden. Das würde mir sowieso niemand glauben, nicht einmal ich selbst. Denn wer braucht schon wirklich einen Unternehmensberater? Sicher, viele halten sich für unersetzbar. Und stellen dann mit Erschrecken fest, dass sich die Welt während ihres krankheitsbedingten Ausfalls oder ihres Urlaubs auch ohne sie weitergedreht hat. Aber so bin ich nicht.

Meine Chefin will, dass ich bis Ende des Monats meinen Resturlaub nehme. Zumindest einen Teil. Denn in ihrer Welt nimmt man keinen Urlaub. Und ich gehöre ja jetzt zu ihrer Welt. Aber eine Woche ist drin. Und die werde ich nutzen, um herauszufinden, wie es wäre, einfach nicht mehr zu arbeiten. Ich brauche ja nicht viel. Selber kündigen ist nicht drin, man muss schon rausgeworfen werden. Aber das kriege ich hin, so unmotiviert wie ich gerade bin. „Grow or go“, heißt es ja nicht umsonst in unserer Branche. Die Leistungen des Staates sollen ja so schlecht nicht sein. Wenn vier Millionen andere davon leben können, warum nicht auch ich? Ich habe ja gut verdient in den letzten Jahren und einiges zur Seite gelegt. „Das wird ein Fest“, denke ich mir, während ich mit meinem Urlaubsantrag zur Personalabteilung spaziere.

Montag, 26. Januar.  
Das Experiment startet. Erst mal ausschlafen. „Das macht man so als Arbeitsloser“, denke ich mir. Das Frühstücksfernsehen ist schon vorbei, als ich mich aus dem Bett schäle und mich genüsslich mit einer Tasse bestem Espresso aus meiner italienischen Kaffeemaschine auf meine Couch fallen lasse. Das Haus ist ungewohnt still. Ich genieße die Ruhe. Vor der Tür liegt noch die Tageszeitung, auch mein Magazin für Fußballkultur liegt in der Post. Zeit für Lektüre. Ab jetzt immer. Arbeitslos sein fühlt sich gut an bis hierher. Wie Urlaub eben. Ich nehme mein neues Notebook und starte, um mich ein wenig umfassender in die deutsche Sozialgesetzgebung einzuarbeiten. Ich muss ja wissen, was ich an Leistungen zu erwarten habe. Und vermutlich muss auch ich ab und an Nachweise über abgeschickte Bewerbungen erbringen, um meinen Anspruch nicht zu verlieren.

Ein kurzer Blick und ich stelle zufrieden fest: mit Arbeitslosengeld komme ich auf etwa 60% meines vorherigen Gehalts. Fantastisch. Wenn die anderen Berater übermüdet ins Bett fallen, köpfe ich eine Flasche Schampus. Doch halt. Eine größere Anzahl Fußnoten mit Bedingungen lässt mich stutzig werden. Es ist die Rede von Anwartschaftszeiten und begrenzten Anspruchszeiträumen. Juristendeutsch. Nach ein paar weiteren Klicks erkenne ich, dass das Arbeitslosengeld I nur zeitlich begrenzt gezahlt wird. 12 Monate in meinem Fall, den bisher hatte ich eine lückenlose Erwerbsbiographie. Danach greift das Arbeitslosengeld II. Hartz IV also.

Noch bin ich nicht beunruhigt. Erst mal sehen, was das heißt. Noch mehr Juristendeutsch. Regelleistung, KdU, Mehrbedarf, Erstausstattung. Wer arbeitslos wird, sollte vorher besser Jura studiert haben. Dann endlich eine Zahl. 359 €. Wie bitte? Bei weiterer Lektüre finde ich weitere 160 €, die ehemaligen Arbeitslosengeld-I-Empfänger gewährt werden. Die Miete wird auch bezahlt. Und wenn ich es richtig lese, können auch Ersatzinvestitionen für Haushaltsgegenstände übernommen werden. Ich lehne mich zurück. 519 € zur freien Verfügung vom Staat, keine Mietkosten, dazu meine Rücklagen. Ab und an vielleicht mal ein bisschen arbeiten als Lektor von Diplomarbeiten. Dazu zwei, drei Artikel im Jahr für Fachzeitschriften. Und das ganze am liebsten von Portugals Südküste aus. Es ist Montag, 14 Uhr. Die wichtigsten Fragen sind geklärt. Ab heute bin ich mal Hartz IV. Zeit für ein Bier. Das macht man so, wenn man arbeitslos ist.
 
 
Was am Dienstag geschah? Morgen mehr davon an dieser Stelle... :-)

Mittwoch, 28. Oktober 2009

Sommerurlaub auf afrikanisch

Ich traute meinen Augen nicht. Gerade war mein Rucksack auf dem Dach eines für Afrika typischen Kleinbusses an mir vorbeigefahren. Ich schaute noch ein paar Momente erstarrt hinterher, dann verschwand der Wagen auch schon in einer mächtigen Staubwolke um die nächste Ecke. Ich war fassungslos und setzte mich. Wobei setzen vermutlich den Vorgang eher schlecht beschreibt; vielmehr ließ ich mich fallen, wo ich gerade gestanden hatte. Die Belastungen der letzten Wochen forderten Tribut.

Swasiland also. Bei der Suche nach einem Reiseziel für meinen Sommerurlaub war die Wahl auf das südliche Afrika gefallen. Und dort saß ich nun, ohne alles. Nur ein wenig Geld war mir geblieben. Aber mein sämtlicher Besitz und vor allem mein Reisepass befanden sich genau in dem Rucksack, der gerade ohne mich auf dem Weg nach Johannesburg war. Ich hatte extra noch nachgefragt, wann denn der Bus abfahren würde. „When it’s full“, war die wenig aussagekräftige Antwort. Wann das denn der Fall sein würde? „Soon“, was in afrikanischer Zeitrechnung ungefähr so viel heißt wie „in den nächsten acht Stunden“. Bei „very soon“ sollte man vorsichtig sein, hatte man mir des Öfteren gesagt. Aber „soon“ – kein Problem. Ich hatte also meinen Rucksack dort gelassen um mich auf den Weg zu machen und Reiseproviant zu besorgen. Und weniger als fünfzehn Minuten später war dann alles anders.

Der Bus war abgefahren. Ohne mich, aber mit all meinen Habseligkeiten. Und ich konnte sicher sein, dass ich meinen Rucksack nie mehr wieder sehen würde. Immerhin war ich in Afrika. Viele Verwandte und Bekannte hatten mich gewarnt: „Afrika ist gefährlich. Denk an all die Krankheiten. Und außerdem zählt dort ein Menschenleben nichts.“ Ich hatte die Bedenken weggewischt. Meine afrikanischen Freunde hatten mir immer wieder vor Augen geführt, wie sehr meine eigene Sicht auf die Welt durch die westliche Wohlstands- und Mediengesellschaft geprägt waren. Sie hatten mich immer wieder gefragt, wie ich mir anmaßen könnte, über die Probleme eines Kontinents zu sprechen und zu urteilen, den ich nie besucht hatte. Und sie hatten mich damit bei der Ehre gepackt, denn mir war dadurch erschreckend bewusst geworden, dass auch ich alles andere als frei von Vorurteilen durch die Welt lief. Und nun saß ich in Swasiland am Straßenrand und es wirkte, als ob alles ein großer Fehler gewesen sein sollte.

Ich begann über die letzten Wochen nachzudenken. Was war passiert, seit ich mitten in der Nacht in Maputo, der Hauptstadt von Mosambik, gelandet war? Sicher, es gab einige Scherereien, die man so in Europa sicher nicht erleben würde. Im Norden von Mosambik war einem mit mir reisenden Australier der Rucksack aus dem Auto entwendet worden, mit-samt seiner Pässe und sonstigen Reisedokumente. In Swasiland und Südafrika war unsere Gruppe, in der alle Hautfarben vertreten waren, immer wieder mit rassistischen Bemerkungen von Schwarzen und Weißen konfrontiert worden. In Namibia war mir von Straßenkindern eine Flasche Orangensaft geklaut worden und in Simbabwe gab es ein paar unerfreuliche Gespräche mit der Militärpolizei. Doch sollten diese Momente, in denen ich kurzzeitig das Gefühl hatte, dass das was ich tat vielleicht doch falsch gewesen sein könnte, ausschlaggebend für die Bewertung einer Reise, vielleicht sogar eines ganzen Kontinents mitsamt seiner Menschen sein?

Während ich weiterhin am Rande der staubigen Straße saß, ohne Blick für das bunte Markttreiben um mich herum, und über diese Frage nachdachte, gesellte sich ein älterer Herr zu mir. Er trug die bunte Tracht der Einheimischen mitsamt einem eingenähten Bild der Königsmutter auf der Brust. „What’s wrong with you, my friend? You are not supposed to sit here and be unhappy!“ Ich berichtete ihm von meinem Problem und dachte, das würde genügen, um ihn davon zu überzeugen, dass ich allen Grund hatte, unglücklich zu sein. Immerhin war mein Bus ohne mich abgefahren, mit meinem ganzen Reisegepäck! Doch der Alte lachte nur. „Wenn alle Menschen auf diesem Kontinent den ganzen Tag traurig wä-ren, weil sie nichts besitzen, außer dem, was sie am Leib tra-gen, würde das etwas ändern? Hier besitzt niemand einen Reisepass. Die meisten Menschen waren in ihrem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal in der Nähe der Landesgrenze. Viele sind krank oder haben kranke Familienmitglieder. Viele Kinder können sich nicht auf die Schule konzentrieren, weil sie zu Hause mithelfen müssen oder sogar Hunger haben. Das wird Dir nie passieren, denn Du kannst für die nächsten Tage mein Gast sein und es wird Dir an nichts mangeln. Und Deine Botschaft wird sich schnellstens darum bemühen, dass Du entsprechende Papiere bekommst. Es gibt also keinen Grund traurig zu sein!“

Ich fühlte mich ertappt, vielleicht sogar beschämt. Und gleichzeitig erleichtert. Wir begannen beide zu lachen. Es hatte nicht mehr als dieser kurzen Belehrung bedurft, um mir wieder deutlich vor Augen zu führen, warum es die beste Entscheidung meines Lebens gewesen ist, den Flug nach Afrika zu buchen. Die Pflanzen- und Tierwelt Afrikas ist unbestritten atemberaubend. Aber vor allem die unendliche Freundlichkeit der Menschen, ihre von uns Europäern gerne falsch interpretierte Offenheit, Hilfsbereitschaft und Lebensfreude, waren schon Grund genug, die unerfreulichen Anekdoten eher als Fußnote zu betrachten. Hätte mich in Deutschland ein Fremder in sein Haus eingeladen, wenn mir mein Rucksack abhanden gekommen wäre? Hätte in Deutschland ein Fremder einen Afrikaner in sein Haus eingeladen? Hätte ich einen Afrikaner in mein Haus eingeladen?

Noch während ich dort lachend saß, kam vor uns quietschend ein Bus zum Stehen. Innen saßen Gospels singend einige Einheimische dicht gedrängt. Und auf das Dach des Busses war ein Rucksack geschnallt, der meinem zum verwechseln ähnlich sah. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es sich tatsächlich um meinen handelte. „Mister, don’t you wanna come? We are leaving!“ wandte sich der Fahrer des Wagens an mich. Wo er denn gewesen sei, fragte ich verdutzt. „My wife wanted me to bring home some vegetables. And it’s not a good idea not to do what wifey says“, erklärte er mir mit einem Augenzwinkern.

In Afrika habe ich begonnen zu begreifen, zwar genau hinzuschauen, aber nicht von Grund auf misstrauisch zu sein. Ich habe gelernt, was echte Gastfreundschaft bedeutet und ich versuche seitdem offener gegenüber Fremden zu sein. Ich versuche zu vermeiden, dass meine Meinung mit Vorurteilen belastet wird. Ich versuche, Menschen einen Vertrauensvor-schuss zu geben. Und ich versuche, mehr zu lachen. Denn lachend erträgt sich vieles leichter. Auch eine Situation wie die, in der ich mich damals in Swasiland befand. Ohne Rucksack, ohne Reisepass im Niemandsland.

Afrika ist intensiv. Positiv wie negativ. Afrika ist anders als Europa. Oder ist Europa anders als Afrika?

Dienstag, 27. Oktober 2009

Merkels Machtarithmetik

Die Koalitionsverhandlungen sind vorbei, die Posten sind weitestgehend besetzt, die Überraschung über die eine oder andere Personalie hat sich weitestgehend gelegt. Zeit für eine Betrachtung dessen, was den nun am Ende wirklich steht – und wer sich damit wirklich durchgesetzt hat.

Um es vorwegzunehmen: Gewinnerin ist aus meiner Sicht genau die Person, die in der öffentlichen und innerparteilichen Wahrnehmung weitestgehend als Verliererin gesehen wird. Nämlich die Bundeskanzlerin.

Zwar ist sicher richtig, das der Koalitionsvertrag auf den ersten Blick deutlich die Handschrift der Liberalen und der CSU trägt. Fraglich ist nur, ob dieser tatsächlich das maßgebliche Papier für die nächsten Jahre sein wird. Ihm fehlt nicht nur die eine oder andere konkrete Antwort (weil viele Themen in Kommissionen verschoben wurden), sondern auch die große Vision. Für was für eine Gesellschaft will diese Koalition stehen? Diese Frage bleibt über die konkreten „Projekte“ hinaus unbeantwortet. Und genau an dieser Stelle wird die Stärke von Angela Merkel deutlich. Sie hat es verstanden, ihre Vertrauten auf die wichtigsten Posten zu setzen, die es braucht, um die großen Leitlinien zu bestimmen und gleichzeitig die Leerstellen mit konkreter Politik zu füllen.

So wäre es eine Überraschung, wenn die Kanzlerin nicht genau wie während der großen Koalition die außenpolitischen Leitlinien selbst bestimmen würde. Westerwelle wird zu kämpfen haben, dort Akzente zu setzen und nicht nur als treuer Begleiter der Kanzlerin wahrgenommen zu werden. Das Thema Finanzen, ein Knackpunkt für diese Koalition, besetzt die CDU ebenso wie das Ressort Wirtschaft- und Arbeit Arbeit und Soziales und Inneres, wobei es in den letzten beiden in der Koalition aufgrund der weit auseinanderliegenden Meinungen von Union und FDP wenig Bewegung in die eine oder andere Richtung geben wird. Auch in der Bildung, dem einzigen Bereich, wo deutliche Steigerungen im Budget vereinbart wurden, und der ebenfalls gut ausgestatteten Familienthematik sitzt die CDU am Hebel. Das Wirtschaftsministerium hat schon unter Glos und Guttenberg, trotz dessen erfolgreichen Selbst-Marketing, an Gestaltungskraft eingebüßt. Kein Geld zum Ausgeben nirgendwo – und auch Fragen wie etwa in den Fällen Opel oder Quelle wurden im Kanzleramt und in den Staatskanzleien und nicht etwa im Wirtschaftsministerium diskutiert.

Nun stellt sich die Frage, warum Liberale und Christsoziale diese Konstellation nicht verhindert haben. Die Antwort scheint einfach. Es wurden in beiden Fällen mehr Ministerien gegen weniger, aber dafür stärkere Ministerien getauscht. Eine Fehlentscheidung, wie ich meine. Für die CSU als Schwesterpartei der CDU ist das vermutlich noch eher zu verkraften, als für die FDP. Warum die Gestaltungskraft für Außen-, Wirtschafts- und Justizministerium eingeschränkt ist, habe ich weiter oben schon erläutert. Dass sich das Entwicklungshilfeministerium dem Außenressort unterzuordnen hat (das sich dann wiederum der Kanzlerin unterordnen wird), konnte man schon bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages den Worten Westerwelles entnehmen. Und das man im Gesundheitsbereich sowieso keine Chance auf klare Handschriften hat, weil alles von Koalitionspartnern wie auch Lobbygruppen verwässert wird, haben die letzten Jahrzehnte gezeigt (Philipp und Daniel, straft mich gerne Lügen!).

Was aber fast noch schlimmer ist: niemand hat es geschafft, Angela Merkels Machtarithmetik zu durchbrechen! Keiner hat verhindert, dass sie mit Karl-Theodor zu Guttenberg einen Verteidigungsminister installiert, der sich eher als zweiten Außenminister verstehen wird und mit der klaren Zielsetzung sein Amt antreten wird, Guido Westerwelles Strahlkraft zu brechen und eine gewisse Klientel für die Union zurückzugewinnen. Auch dass das Verkehrsministerium an die CSU geht, zeigt deutlich: dort wo Union und FDP ähnliche Programmatik haben, dürfen sich CSU und FDP um die öffentliche Wahrnehmung streiten (in diesem Falle Wirtschafts- und Verkehrsminister). Was am Ende herauskommt, wird Frau Merkel so oder so schmecken.

Ich würde mir wünschen, dass ich mit dieser Analyse/ Prophezeiung nicht recht behalte. Sollte die FDP es schaffen, dieser Koalition trotz der widrigen Umstände ihren Stempel nachhaltig aufzudrücken, wäre dies die bestandene Reifeprüfung für Guido Westerwelle, die noch aussteht. Eine Partei erfolgreich zu führen, ist das eine. Ein Land erfolgreich zu führen und sich dabei von einer gewitzten Machtpolitikerin wie Angela Merkel zu emanzipieren, das andere.

Montag, 26. Oktober 2009

„Martin is not in a relationship anymore“

Mai also. Eigentlich der Wonnemonat. Überall finden sich die Pärchen und tragen gemeinsam ihre Schmetterlinge im Bauch spazieren. Damit es auch jeder sehen kann – oder positiv formuliert: sie wollen uns an ihrem Glück teilhaben lassen. Ich will mich auch gar nicht beschweren. Zwar macht das frühsommerliche Kribbeln eine Bogen um mich, aber dafür bin ich seit Jahren glücklich vergeben. Und daran wird sich auch nichts ändern. Oder doch?

Eigentlich war ich mir sicher, dass alles endlich in ruhigen Bahnen verläuft. Man wird ja ruhiger mit der Zeit, spätestens nachdem man seinen 30. Geburtstag hinter sich gebracht hat. Aber war das nicht bei Martin genauso? Sechs Jahre war er mit Anja zusammen. Letzte Woche waren wir noch alle zusammen im Kino? Und nun lese ich auf Facebook diese Nachricht. „Martin is not in a relationship anymore.“

Meine Freundin setzt sich zu mir. Ich erzähle ihr von der Trennung. „Schade“, meint sie. „Eigentlich waren die schon ein süßes Pärchen. Wobei, irgendwie hat man sich ja doch immer wieder gewundert, was sie mit ihm will. Eine Schönheit ist er ja nun wirklich nicht, mit seiner hohen Stirn und dem Bauchansatz. Und es war ja klar, dass sie irgendwann jemanden findet, der besser zu ihr passt.“

Sie geht wieder zur Tagesordnung über. Und ich fange an zu grübeln. Auch ich hatte schon mehr Haare und der Waschbrettbauch ist in weite Ferne gerückt. Immerhin verdiene ich besser als Martin. Aber würde sie mich auch verlassen, wenn sie jemanden findet, der „besser zu ihr passt“? Was soll das überhaupt heißen?

Ich aktualisiere die Seite. Zwei Kommentare gibt es schon zu der Meldung. Eine seiner Ex-Freundinnen schreibt: „Man weiß erst, was man besessen hat, wenn man es verloren hat.“ Vermutlich meint sie eher sich als seine Freundin. Pardon, Ex-Freundin.

Einer der Jungs schreibt: „Lass Dich nicht hängen. Wenn sie Dich verlässt, war sie es nicht wert. Heute Abend grillen bei Ben? Da gibt’s auch ein paar Blonde. Gekühlt auf acht Grad das beste Rezept gegen Liebeskummer.“ Das ist also das Web 2.0. Wer mitmacht, darf zusehen, wie er zum Gesprächsgegenstand wird. Sein Privatleben ist öffentlich. Wer nicht mitmacht ist uncool.

Aktualisieren. Ein weiterer Kommentar. „Meld Dich mal bei dieser Seite an. Da gibt’s ne Menge heiße Frauen zum Kennenlernen. Hat mir auch geholfen.“ Lukas ist also bei Dating-Seiten angemeldet. Interessant. Wobei der es ja wirklich auch nötig hatte.

Ich muss schmunzeln. Es ist gerade sieben Minuten her, dass Martin sein Scheitern offenbart hat. Und schon bekommt er erste Tipps, wo er denn eine neue Frau herbekommen könnte. Ungefragt. Unpassend. Aber vermutlich ist in Zeiten von UMTS und Flatrate, in denen das Leben sich zum großen Teil online abspielt und die Welt sich immer schneller zu drehen scheint auch die Trauerphase nach einer Trennung massiv verkürzt. Drei Minuten anstatt drei Monate. Verrückt.

Mein Handy klingelt. Martin. „Klar, dass der jemanden zum Reden braucht,“ denke ich mir und nehme ab. Seine Stimme klingt fest. So war er ja schon immer nach außen hin. Typ deutsche Eiche. Ich will es ihm leicht machen.

„Martin, ich weiß es schon“, sage ich und versuche nicht zu mitleidig zu klingen.
Pause.
„Echt?“
„Ja, echt.“
„Super, oder?“
Pause.
„Wieso super?“
„Na weil ich mir wirklich nicht sicher war, ob sie es auch will. Gestern Abend auf der Burg hab ich sie gefragt. Ganz romantisch. Picknick, Kerzenschein. Sie hat sofort ja gesagt!“

Ich verstehe gar nichts mehr. Aktualisieren. Eine neue Nachricht: „Martin is now engaged.“

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Warum die FDP baldmöglichst ein neues Grundsatzprogramm braucht


Die FDP muss sich ein neues Grundsatzprogramm geben. Und die Diskussion muss eigentlich jetzt starten. Schon 2005 habe ich einen entsprechenden Antrag auf dem Bundeskongress der Jungen Liberalen gestellt, der wenig Unterstützung fand. Dort hat inzwischen ein Umdenken stattgefunden und ich hoffe, dass auch die Führung der Partei nicht auf der Bremse steht, wenn es darum geht, den politischen Liberalismus in Deutschland fit für die Zukunft zu machen.

Um ein Missverständnis gar nicht aufkommen zu lassen: dies ist keine fundamentale inhaltliche Kritik an den Wiesbadener Grundsätzen, dem derzeit gültigen Grundsatzprogramm der Liberalen. Dieses kleine Buch war der Grund, warum ich mich 1999 für die Liberalen entschieden habe und ihnen auch in Zeiten, in denen ich manche realpolitische Entscheidung und das Auftreten der Würdenträger als zum Fortlaufen empfunden habe, treu geblieben bin. Nichtsdestotrotz erfordern neue Zeiten auch neue Antworten. Womit wir beim ersten Grund – dem vielleicht intuivsten – für ein neues Grundsatzprogramm sind:

1. Notwendige inhaltliche Erneuerung

Die Wiesbadener Grundsätze sind inzwischen mehr als zwölf Jahre alt. Sehr grundsätzliche Werke können schon einmal eine längere Halbwertszeit haben, das ist sicher richtig. Man denke nur an die Bibel, den Koran, Marx‘ „Das Kapital“, die Werke von Adam Smith oder die philosophischen Klassiker. Ein politisches Grundsatzpapier muss aber, auch wenn es strategisch gedacht ist, viel handfestere Antworten auf die wichtigen Frage einer Zeit geben. Wenn diese Fragestellungen sich verändern, ist es keine Schande, wenn man sein Programm nach kurzer Zeit revidieren muss, sondern viel mehr die Basis für Zukunftsfähigkeit. Vor dem Hintergrund, dass der 11. September, die Kriege in Afghanistan und dem Irak, die Hartz-IV-Reformen, die Konstituierung der Partei „Die Linke“ und das Aufkommen der „Piraten“ erst nach der Jahrtausendwende stattgefunden haben und die politische Landschaft nachhaltig verändert haben, ist es Zeit, mit einer Vision für Deutschland, Europa und die Welt zu reagieren, die solche Themen abzudecken in der Lage ist.

2. Neuaufstellung auf dem Weg zur „Mittelpartei“

Die FDP hat über die letzten Jahre immer wieder Wahlergebnisse eingefahren, die es fast verbieten, weiter über sie als eine „kleine Partei“ zu sprechen. Sie hat an Mitgliedersubstanz ebenso wie an Mandaten gewonnen und ist inzwischen tatsächlich eine gesamtdeutsche Partei. Nichtsdestotrotz muss man bei der Bestandsaufnahme ehrlich bleiben: die Stärke der FDP ist auch eine Schwäche ihrer politischen Gegner. Natürlich gab es mit den Grünen und den Linken ernst zu nehmende Konkurrenz um die enttäuschten SPD- und Unionswähler und natürlich hat sich die FDP im Kampf um diese weitgehend durchgesetzt. Diesen Erfolg möchte ich Guido Westerwelle in keiner Weise in Abrede stellen. Doch wäre es töricht, diese Ergebnisse nur als eigene Stärke anzusehen. Sie sind vielmehr weitgehend als Vertrauensvorschuss zu verstehen – und wie man mit diesem umgehen sollte und welche die FDP selbst für sich sieht, muss nicht nur innerhalb der Fraktionen sondern ganz fundamental in einer Programmdiskussion innerhalb der gesamten Partei erörtert und beantwortet werden.


3. Entwicklung einer Vision über diese Legislatur hinaus

Die Wiesbadener Grundsätze kamen 1997 zu spät. Die FDP hatte nicht mehr die Kraft, in der Partnerschaft mit der Union einen Neuanfang zu wagen und wurde 1998 mit ihrer Abwahl auf Bundesebene bestraft. Innerhalb der FDP haben die Wiesbadener Grundsätze mit dazu beigetragen, die Gräben zwischen den verschiedenen Flügeln weitestgehend zuzuschütten. Außerhalb wurden ihre Inhalte kaum wahrgenommen. Bis heute steht die FDP für viele für einen reinen Wirtschaftsliberalismus – ein Verständnis, was im Grundsatzprogramm so nicht angelegt ist. Obwohl die öffentliche Wahrnehmung gerade auch während der Koalitionsverhandlungen aufgrund von einzelnen, aber plakativen Themen langsam zu kippen scheint – Stichwort Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger oder Internetsperren – fehlt der Partei die große Vision.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Das haben bisher für sich nur die Grünen wirklich beantwortet, aber eine solche Antwort erwartet man auch und gerade von einer Mittelpartei wie der FDP. Wenn wir es nicht schaffen eine solche Vision zu entwickeln und auch damit wahrgenommen zu werden, kann es passieren, dass in ein paar Jahren wieder der Zeitpunkt gekommen ist, an dem sich die Menschen fragen, wofür sie die FDP wählen sollen. Für den Moment gibt es genügend „Projekte“, die sich in den letzten Jahren angesammelt haben. Aber nur eine Vision, hinter der sich die Menschen versammeln können, sorgt dafür, dass man auch nachdem man diese abgearbeitet hat, Argumente zu bieten hat, für die es sich lohnt, gewählt zu werden! Dass die Koalitionäre seit Tagen genau an diesem Punkt stocken – nämlich bei der Frage, unter welches Motto sie die Legislatur stellen wollen – zeigt den Handlungsbedarf deutlich auf.


Sonntag, 18. Oktober 2009

Wo ist der Josef?

Am Abend des 28. September 2008 stand das Weltfinanzsystem kurz vor dem Abgrund. Hätte auch die größte deutsche Hypothekenbank Insolvenz anmelden müssen, wäre in einem Dominoeffekt eine Bank nach der anderen nachgefolgt. Die Auswirkungen der Pleite von Lehman Brothers wären nur noch eine Randnotiz der Geschichte gewesen, verglichen mit dem, was an jenem Abend drohte. Die Spitzen der deutschen Banken und der Bankenaufsicht sowie Vertreter der Bundesregierung saßen schon zwei Tage in Frankfurt zusammen, um ein gemeinsames Rettungspaket für das angeschlagene Institut zu schnüren. Streitpunkt war vor allem die Risikoverteilung zwischen Staat und privaten Banken gewesen.

Es waren nur noch 15 Minuten bis zur Eröffnung der Börse in Japan. Gerade einmal eine Viertelstunde, die über Wohl und Wehe des Finanzsystems und damit der gesamten Weltwirtschaft entscheiden sollte. Und der Josef war immer noch nicht da. Die versammelte Runde schaute sich teils nervös, teils resigniert an. Immer nur die Mailbox.

Aus der Telefonanlage knackte es kurz, wie als ob alle daran erinnert werden sollten, dass die Konferenzschaltung nach Berlin ins Kanzleramt immer noch stand. Auch die Kanzlerin schaute an jenem Septemberabend ratlos aus ihrem Fenster auf die nächtliche Hauptstadt. Über Tage hatte man rund um die Uhr und in immer neuen Konstellationen um eine Lösung für die klamme Hypothekenbank gerungen, mit deren Schicksal so viele Unwägbarkeiten verbunden waren. Systemkritisch, nannte man das. Und jetzt, als es darauf ankam, war der Josef verschwunden. Und ohne ihn, den mächtigsten Banker Deutschlands, ging nun mal gar nichts.

Gut, der Josef war verärgert gewesen. Er mochte es nicht, wenn man ihm den schwarzen Peter zuschob. Und noch vielmehr hasste er es, wenn man ihn warten ließ. Und die Kanzlerin hatte ihn lange warten lassen, bis sie den zuständigen Staatssekretär endlich zu den Verhandlungen geschickt hatte. Und auch der schwarze Peter lag auf seinem Tisch, unverkennbar. Stand doch auch sein Institut knapp vor dem Abgrund. Das war natürlich auch der Grund, warum er all diese Demütigungen hatte über sich ergehen lassen müssen. Sein Lebenswerk schien in Gefahr – und der Josef war es nicht gewohnt zu scheitern. Aber auf einen Staatssekretär zu warten? Eine Erniedrigung sondergleichen…

„Vielleicht bin ich zu weit gegangen“, ging es der Kanzlerin wieder und wieder durch den Kopf. Eigentlich war der Josef doch ein ganz netter Kerl. Auch wenn viele ihn für arrogant hielten – der Arme war ja immer wieder falsch verstanden worden – bei den großen Staatsbanketts war er immer ein gern gesehener Tischnachbar. Denn wenn er mit seinem leicht schweizerischen Dialekt schmutzige Witze erzählte, hielten sich regelmäßig Minister, Botschafter und Wirtschaftsführer gleichermaßen die Bäuche. Wenn sie denn nicht gerade die Hände voll mit Hummer und Champagner hatten, natürlich. Die Kanzlerin schreckte hoch. Das waren die guten Zeiten gewesen. Ein kurzes Lächeln konnte sie sich bei dem Gedanken, wie sie Gerhard Schröder mit ihrem Wahlsieg gewissermaßen den Wirtschaftsaufschwung „abgeluchst“ hatte und wie sie von den Sympathiewerten der damaligen Zeit heute noch profitierte nicht verkneifen. Ja, das waren wirklich gute Zeiten gewesen. Doch dann wurde sie wieder von jener essenziellen Frage eingeholt, die sie und die Herrenrunde in Frankfurt gleichermaßen umtrieb: Wo war der Josef?

Der Chef der Bankenaufsicht schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann würde in Tokyo die Börse eröffnen. Vielleicht könnte man die Ad-hoc-Nachricht noch fünf Minuten hinauszögern. 15 Minuten also. Aber dann würde das Unheil seinen Lauf nehmen. Und sicher würden dann auch alle nach der Rolle der Aufsicht zu fragen beginnen. Unangenehm, sehr unangenehm, diese Vorstellung. Der Blick auf die verbliebenen Anwesenden – der Chef der betroffenen Bank hatte sich gerade zum fünften Mal in den letzten 30 Minuten in Richtung Toilette entschuldigt – ließ vermuten, dass diese ähnlichen Gedanken nachhingen. Die Stimmung hatte sich in den letzten Wochen für Banker nicht gerade positiv entwickelt. Vermeintliche Freunde verhielten sich distanzierter als gewohnt, die Einladungen zu exklusiven Partys hatten abgenommen. Aber wenn jetzt der große Crash kommt… nicht auszudenken! Die Ehefrauen würden einem vielleicht die Treue halten im zu erwartenden Fegefeuer der öffentlichen Meinung. Aber würde das auch für die junge Geliebte gelten? Und wo, verdammt, war der Josef abgeblieben?

„Wenn wir keine Lösung finden, bedeutet das den Tod!“ Das waren seine Worte gewesen, bevor er wutentbrannt ob der aus seiner Sicht unzureichenden Angebote von Seiten der Bundesregierung den Raum verlassen hatte. Hatte er das ernster gemeint, als alle gedacht hatten? Hatte er sich etwas angetan? Sicher, Wolkenkratzer gab es in Frankfurt genug. Und er hatte ja den Generalschlüssel für einen der höchsten und schönsten von allen. Aber er wird doch nicht etwa…

Das Telefon klingelte. Alle schauten sich gebannt an. „Das wird er sein, der Josef“, war in den Augen der Anwesenden zu lesen. Doch für einen Moment regte sich niemand. Dann fasste sich einer der Banker ein Herz und nahm ab. Ein Rauschen im Lautsprecher. Dann eine helle Stimme mit ausländischem Einschlag „Sie haben Pizza bestellt? Ich stehe vor der Tür, aber keiner macht im auf!“ Ein Stöhnen erfüllte den Raum. „Ich geh schon“, kam aus der Ecke, wo sich der zu einem Häufchen Elend zusammengesunkene Vorstandsvorsitzende der Not leidenden Hypothekenbank inzwischen wieder niedergelassen hatte. „Aber hat jemand von Euch Geld? Also so echtes? Ich zahl ja inzwischen alles mit Karte und notfalls hat mein Chauffeur…“ Er brach ab und errötete. Die Banker schüttelten alle mit betretenen Mienen den Kopf. Ob sie vielleicht tatsächlich etwas die Bodenhaftung verloren hatten? Am Ende konnte immerhin der Staatssekretär aushelfen und die freiwillige Abordnung – ein weiterer Bankenvertreter hatte sich nach der peinlichen Situation solidarisch erklärt – machte sich auf den Weg aus dem 32. Stock in Richtung Erdgeschoss.

Die Zeit wurde langsam knapp. Noch sieben Minuten. Das Angebot der Bundesregierung lag auf dem Tisch, ironischerweise genau neben der in den letzten Stunden parallel vorbereiteten Ad-hoc-Mitteilung zur Zahlungsunfähigkeit der angeschlagenen Bank. Alle hatten dem Ergebnis zugestimmt. Das Geldinstitut, das Finanzsystem, die Weltwirtschaft wären zumindest für den Moment gerettet. Aber ohne den Josef war der Kompromiss nicht das Papier wert, auf dem er stand.

Die Börse würde in einigen Minuten eröffnen. Noch bevor in Europa die ersten Menschen aufstehen würden, um ihrer Arbeit nachzugehen, wären viele von ihnen, ohne es zu wissen, bereits mittel- und obdachlos. Viele würden in den Tagen, Wochen und Monaten darauf ihre Arbeit verlieren und in Zukunft dem Staat auf der Tasche liegen, der damit de facto auch Pleite wäre. Das Vertrauen ins Finanzsystem wäre so tief erschüttert, dass es Straßenschlachten vor den Banken geben würde, wo die Menschen hineilen würden, um ihr Erspartes zu retten und den Schaden wenigstens einigermaßen in Grenzen zu halten. Chaos. Anarchie. Weltweit. Und das alles würde nicht in ein paar Jahren seinen Anfang nehmen, nicht in ein paar Generationen. Sondern in sieben Minuten.

Alle Anwesenden hingen ihren eigenen Gedanken nach. Zwei spielten nervös an ihren Organizern, als ob es nachts um diese Zeit noch wichtige Entscheidungen zu treffen gäbe. Einer kratzte sich. Schon seit Stunden. Der Vorstandschef der Hypothekenbank machte sich wieder einmal in Richtung Toilette auf. Zwei spielten „Schiffe versenken“. Für die wunderbare Aussicht auf die Frankfurter Skyline in einer sternenklaren Nacht hatte keiner ein Auge. Die Kanzlerin hatte inzwischen aufgelegt. „Wir fangen schon einmal an, Telefonkosten zu sparen. Wir werden bald jeden Cent gebrauchen können“, war ihr bissiger Kommentar gewesen. Die Pizza lag unberührt in der Mitte des Tisches. Etwas Tomatenmark hatte seinen Weg auf den ausgedruckten Kompromissentwurf gefunden. Drei Minuten. Resignation. Stille.

Die Tür öffnete sich. Der Josef. Gut gelaunt. „Grüezi, Buam!“ Ungläubiges Schweigen. „Ich hab Eure Mailboxnachrichten gerade abgehört. Hab das alles mit der Angela schon besprochen. Deckel drauf, ab ins Bett. Und entschuldigt, dass ich nicht erreichbar war. Kennt Ihr diese fantastische thailändische Karaokebar in der Kaiserstraße? Da geht die Post ab. Aber da hat’s leider kein Netz. Ein Funkloch, so groß wie das Loch in der Kasse von unserem werten Herrn Kollegen gewissermaßen! Oh, und Pizza gibt’s auch noch. Na so schlimm war der Abend dann doch nicht. Und ab morgen schrauben wir alle wieder an unseren Umsatzrenditen. Wer verliert zahlt nächstes Jahr den Schampus!“

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Explosionsgefahr, Seuchenverdacht und andere Gründe, nicht in die Vorlesung zu gehen

Also bitte! Wer ist als Student schon um Gründe verlegen, nicht in die Vorlesung zu gehen. Es gibt tausende davon, von der hübschen Nachbarin über die aus gesundheitlichen Gründen nicht zu unterbrechende Tiefschlafphase bis hin zu anregende(er)n Gesprächen in der Sonne vor der Cafeteria. In Zeiten von zunehmendem Leistungsdruck und Anwe-senheitspflicht geht es doch vielmehr darum, gute Ausreden parat zu haben. Doch die sind bekanntlicherweise rar – und können darüber hinaus nur einmal und in absoluten Notfällen eingesetzt werden. Die beste Taktik ist also, beim allerersten Mal eine abstrus unglaubwürdige Geschichte vortragen zu können – die sich dann aber als wahr heraus-stellt. Danach wird jede noch so konstruierte Ausrede erfolgreich sein, hat man sich doch gewissermaßen ein Grundvertrauen beim Dozenten erarbeitet. Es gibt verschiedene – tatsächlich selbst erlebte – Möglichkeiten für einen entsprechenden ersten Eindruck. Wohl gemerkt mit sehr unterschiedlichen Stärken-Schwächen-Profilen.


Ein Feuerwehreinsatz beispielsweise hat den großen Vorteil, dass er typischerweise am nächsten Tag in der lokalen Tageszeitung erwähnt wird. Die Nebenwirkungen sind gering – wenn man nicht direkt betroffen ist oder gar selbst der Auslöser war. Denn dann könnte es möglicherweise sein, dass man in Zukunft mehr als eine Vorlesung passt. Ein Fernstudium soll jedoch sogar hinter schwedischen Gardinen möglich sein, habe ich mir sagen lassen.

Ich hatte die Ehre während meiner Studentenzeit in zwei Feuerwehreinsätze zu geraten. Der erste war reichlich unspektakulär, es handelte sich um einen Fliegerbombenfund mit Evakuierung des gesamten Straßenzugs. Kein Grund, die Vorlesung zu schwänzen, könnte man nun sagen. Immerhin kommt Nachmittags-Unterschichtenfernsehen nicht als Ablenkung in Frage, ist man doch zwangsläufig weit weg von der eigenen Couch. Mein Problem war allerdings, dass die Bombe genau vor meiner Haustür entschärft wurde – und ich leider die eigentliche Evakuierung aus unerfindlichen Gründen verschlafen hatte. Die Sprengstoffmeister in ihren Weltraumanzügen staunten nicht schlecht, als ich mit Schwung die Haustüre öffnete und vor ihnen stand. Leicht nervös wiesen sie mich an, mich möglichst samtpfötig wieder in Richtung Wohnung zu bewegen und zu warten, bis der Spuk vorüber sei. So war ich Gefangener in meinen eigenen vier Wänden. Wahrlich ein valider Grund, eine Vorlesung zu verpassen.

Wer es noch etwas spektakulärer mag, für den gibt es die Möglichkeit, einen Feuerwehreinsatz aufgrund eines vermeintlichen Gaslecks mitzuerleben. Die Gefahrenlage ist dabei ungleich akuter, was den positiven Nebeneffekt von heftigen Adrenalinschüben mit sich bringt. Auch die Feuerwehrleute wirken etwas angespannter als bei einem Bombenfund. Die Schutzanzüge sind allerdings identisch, ebenso die weiträumige Absperrung. Interes-sant wird die Sache, wenn mehrere Menschen gleichzeitig mit akuten Atembeschwerden das Haus verlassen müssen – und das einen Tag, nachdem die Gasanlage neu installiert worden ist – und die Gasmessgeräte der Feuerwehr trotzdem nicht anschlagen. „Wir mer-ken auch, dass dort etwas ist – aber so lange wir nicht wissen, was es ist, darf niemand das Haus betreten.“ Betreten kann man auch die Stimmung nennen, die eine solche Aus-sage mitten im Winter bei allen Beteiligten ausgelöst hat, war es uns damit doch auch unmöglich, dem Grund für die Evakuierungsaktion mit drei Löschzügen und Vollsperrung von zwei Hauptverkehrszügen selbst auf den Grund zu gehen.

Doch bevor echte Resignation Einzug halten konnte, kam der fröhlich pfeifende Koch des im Souterrain des Hauses liegenden Restaurants mit seinen Einkäufen zurück und half, nach anfänglicher Überraschung über den Auflauf vor seinem Arbeitsplatz, recht schnell bei der Aufklärung. Ihm war beim Kochen eine ganze Tüte Chili-Pulver in eine Pfanne mit heißem Öl gefallen, weshalb das Pulver in kürzester Zeit mit einem lauten Zischen seinen Weg durch die Dunstabzugshaube fand. Der Auslass wiederrum war direkt neben unserer Wohnung, weshalb wir die geballte Wirkung des scharfen Gewürzes zu spüren bekommen haben. Keine Katastrophe, wohl aber Grund genug der einen oder anderen Vorlesung des Tages fernzubleiben.

Wenn man unbedingt eine Geschichte erleben will, in der Menschen in lustigen Schutzanzügen vorkommen, dann gibt es natürlich auch die Möglichkeit, sich Krankheitssymptome zuzulegen, die bei Meldung gegenüber dem Notfalltelefon direkt zum Seuchenverdacht führen. Welche Krankheit auch immer gerade en vogue ist – im beschriebenen Fall war es die Schweinegrippe – die Prozesse die im Fall eines entsprechenden Verdachtsfalles an-laufen und erst einmal nicht mehr zu stoppen sind, sind imposant. Das Gesundheitsamt ist in solchen Fällen vollkommen spaßbefreit und lässt die Sanitäter im Seuchenschutzan-zügen in die Wohnung einrücken. „Schön, dass sie da sind. Genau so habe ich sie erwar-tet!“ Die Wohnung selbst und alle in ihr befindlichen Gegenstände und Personen werden mit sofortiger Wirkung unter Quarantäne gestellt, was in diesem Fall besonders die von weit angereisten Wochenendgäste freute. Danach folgten 18 Stunden in der Quarantäne-station des Universitätsklinikums mit diversen Bluttests und einem weiß gekachelten Zimmer mit einem weißen Bett und nichts weiter. Die Freundin wurde direkt mit festgehal-ten, sie hätte ja auch betroffen sein können. Immerhin war aus beiden Zimmer der Blick auf den Rettungswagen gewährleistet, der gewissermaßen auch in Quarantäne genom-men worden war. Bleich wurde der Chefarzt bei der Antwort auf die Frage wo ich denn seit der Rückkehr aus Mexiko überall gewesen sei und mit wie vielen Leuten ich in Kontakt war: „Ich war in Frankfurt und München, mit dem Zug. Wie viele Menschen werden das gewesen sein? Zwei- bis dreitausend?“ Das scheint im Seuchenumfeld wohl so etwas wie die Beschreibung des Supergaus zu sein. Am Ende stellte sich die ganze Sache dann doch nur als ordentliche Sommergrippe heraus. Ich meine aber eine Veränderung im Verhalten der Nachbarn seit dem massiven Seucheneinsatz in unserem Haus genauso beobachten zu können wie auch eine abnehmende Besuchsfrequenz aus meinem Freundeskreis. Aber wie dem auch sei: als Grund dafür, nicht in die Vorlesung zu gehen, sollte die Geschichte doch akzeptiert werden.

Missverständnisse und falsche Vermutungen – gerne auch von Behördenseite – scheinen also tatsächlich valide Motive für ein Fernbleiben vom Lehrbetrieb sein. Vor diesem Hin-tergrund bietet sich auch an, aufgrund falscher Verdächtigungen von der Polizei vernom-men zu werden. So geschehen an einem Aschermittwoch, als eigentlich Klausuren ans-tanden. Davon abgesehen, dass ich mich damit als jemand oute, der im nicht karnevalsaf-finen Süden Deutschlands studiert hat, war die Geschichte absolut büttenreif. Der Vorwurf lautete, ich habe in der Nacht des Rosenmontags vier Personen auf einer saarländischen Landstraße aus dem Auto heraus Drogen zum Kauf angeboten. Als diese nicht nur kein Interesse zeigten sondern darüber hinaus auch verbal deutlich machten, was sie von derlei Gesindel hielten, soll bei mir die Sicherung durchgebrannt sein. Alle vier trugen massive Verletzungen davon. Dabei rührten diese bei drei von ihnen von einem zur Hilfe ge-nommenen Begrenzungspfahl her, einen sollte ich, so der Bericht, bei einem Fluchtver-such „gegen einen Baum laufen“ gelassen haben. Ganz neue Seiten meiner Persönlich-keit, möchte ich meinen. Nichtsdestotrotz eine harte Ansage, zumal auch Nummernschild-fragmente, Autotyp und Täterbeschreibung auf den ersten Blick passten und ich darüber hinaus tatsächlich am Rosenmontag aufgrund der anstehenden Klausuren früh im Bett war und damit kein glaubhaftes Alibi hatte. Die Vernehmung gestaltete sich dann auch erst entsprechend unangenehm, bis der Polizist vermutlich selbst davon überzeugt war, dass ich nicht der Täter sein konnte. Nach einer gewissen Zeit störte auch die kontinuierlich nebenbei laufende Rammstein-CD nicht mehr allzu sehr und spätestens das „Foto-shooting“ für die Gegenüberstellung war die wahre Freude. Zumindest für einen der beiden Beteiligten.

Mit der Bescheinigung über meinen unfreiwilligen Aufenthalt in deutschen Beamtenstuben in der Hand konnte ich mit breiter Brust dem zuständigen Professor gegenübertreten. Ein Fehlversuch wurde mir entsprechend nicht anerkannt, eine extra für mich angesetzte Wiederholungsklausur gab es aber ebenso wenig. In Zukunft ein fantastischer Grund für einen Einspruch gegen inzwischen zu zahlende Langzeitstudiengebühren, wenn ich es im Nachhinein bedenke.

Hat man gerade keine Straftat oder seuchenähnliche Krankheit zur Hand, sollte man die Patriotismuskarte spielen. Spätestens seit der WM 2006 ist es auch in elitären gesell-schaftlichen Zirkeln nicht mehr verpönt, seine Abendplanung dem FIFA-Rahmenkalender unterzuordnen. Soweit allerdings typischerweise noch kein Grund dafür am nächsten Tag wichtigen Klausuren fernzubleiben. Außer man leidet wirklich mit der eigenen Mannschaft. So geschehen an einem denkwürdigen Tag im Sommer 2004, einem Tag, den Fußball-deutschland niemals vergessen wird. Die deutsche Nationalelf stand bei der Europameis-terschaft in Portugal mit dem Rücken zur Wand. Ein Sieg musste her gegen die B-Elf der schon qualifizierten Tschechen, doch daraus sollte am Ende nichts werden. Während die meisten Deutschen relativ schnell zum Tagesgeschäft übergingen, wollte ich meine Soli-darität auch in der Niederlage beweisen – und trank mich besinnungslos. Dank zweier Infusionen wachte ich am nächsten Tag gut gelaunt und bei bester Gesundheit im Kran-kenhaus auf, was die Schwestern Alkoholismus vermuten ließ und dazu anspornte mir eine ehrenamtliche Seelsorgerin zu schicken. Spätestens nach dem sie mir vor vorbeilau-fenden Besuchern versichert hatte, dass es keine Schande sei, Alkoholiker zu sein, war für mich der Zeitpunkt der Flucht gekommen. Diese scheiterte dann allerdings kläglich an dem Fakt, dass während meiner nächtlichen Eskapaden Schuhe und Strümpfe abhanden gekommen waren und ich kein besonders großes Bedürfnis verspürte nur mit schicken blauen OP-Überziehern an den Füßen an meiner Uni vorbei zu spazieren. Die Entlas-sungspapiere aus dem Krankenhaus mit dem Betreff „Alkoholintoxikation; 3,0 Promille“ sorgten am Lehrstuhl zwar vermutlich für größere Erheiterung. Mein Fehlen wurde aber anstandslos entschuldigt.

Ich will niemandem empfehlen, sich vorsätzlich eines der oben genannten Gründe für ein Fernbleiben von einer Vorlesung empfehlen. Aber funktioniert haben sie alle – und sicher mein Leben auf die eine oder andere Art bereichert.