Vorweg: Ich kenne Claus Dierksmeier schon eine Weile und teile viele (aber nicht alle) seiner Überzeugungen. Vor allem auf einer Metaebene kann ich seine Ideen weitgehend unterschreiben. Nun legt er diese Gedanken in Form eines umfangreichen (knapp 500 Seiten) Grundsatzwerkes zur Freiheitstheorie vor: "Qualitative Freiheit - Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung". Warum sollte man das lesen? Und was habe ich aus der Lektüre mitgenommen?
Ich habe in der Vergangenheit viele Bücher und Artikel der bekannteren und weniger bekannten Freiheitsphilosophen der letzten Jahrhunderte gelesen. Kant war natürlich dabei, Hayek, Dahrendorf. Ein wenig Rawls, ein wenig Fichte. Und viel Adam Smith und Isaiah Berlin. Immer wieder kam ich an den Punkt, wo mir entweder der Anwendungsraum zu klein erschien – Kant etwa schloss aus seiner Freiheitstheorie zahlreiche Gruppen aus, wie es damals eben opportun erschien (Frauen, Juden, Menschen in fernen Ländern). Oder die Theorien führten in eine totalitäre Weltsicht – Fichte etwa meinte, die Menschen müssten zu ihrem Glück gezwungen werden. Oder aber die Theorien stellten sich als verkürzt und in der Realität wenig anwendbar heraus – so hatte Hayek offenbar kaum ein Verständnis dafür, dass es auch unverschuldete Lebenssituationen geben kann, in denen Freiheit nicht Chance, sondern Bedrohung ist. Kurz gesagt: Irgendwas fehlte immer, zumindest wenn man sich wie ich als Liberaler versteht, der kosmopolitisch allen Menschen auf der Welt das Recht auf Lebenschancen zugesteht. Ich musste mir also eine ganze Zeitlang Krücken basteln, indem ich Bruchstücke einzelner Philosophien mit eigenen Ideen mischte.
Es war Claus Dierksmeier, der mir einen Philosophen vorstellte, von dem ich zuvor nicht gehört hatte: Karl Christian Friedrich Krause. Dieser dachte schon zu seiner Zeit, also zu Beginn des 19. Jahrhunderts, kosmopolitisch und über Generationen hinweg nachhaltig, konnte mit seinen Ideen in Deutschland aber bis heute niemals Fuß fassen, obwohl er sicherlich die progressivere Freiheitsphilosophie als der gute alte Kant entwickelt hat. Krause hat auf viele Menschen, die von seinen Ideen zum ersten Mal hören, eine starke Wirkung – weil man sich kaum vorstellen kann, dass jemand vor rund 200 Jahren schon so fortschrittlich denken konnte, während es heute vielen Zeitgenossen noch schwerfällt, auch nur über die eigene Sippe oder Nation hinauszudenken. Es ist Claus Dierksmeiers Verdienst, im Rahmen seines Buches „Qualitative Freiheit“ Krauses Gedanken zum ersten Mal in diesem Umfang und in verständlicher Sprache zu dokumentieren und in den Kontext der bekannten Freiheitsdenker einzuordnen. Alleine in diesem Teil des Buches habe ich schon eine Menge gelernt.
Dierksmeier belässt es aber nicht dabei, sondern nimmt insbesondere Krause und Amartya Sen als Basis für den Versuch, eine Alternative zu der unzureichenden Einteilung in negative und positive Freiheitstheorien zu entwickeln. Er führt dafür ein neues Begriffspaar ein, nämlich „quantitative Freiheit“ und „qualitative Freiheit“. Seine Hypothese: Wer alleine auf eine Maximierung der quantitativen Freiheitsoptionen abzielt („Je mehr, desto besser“), wird der Natur des Menschen nicht gerecht. Sonst dürfte man niemals heiraten, beschneidet man sich doch (freiwillig) in der Zahl seiner Sexualpartner. Weil wir es aber doch tun, muss es irgendetwas geben, was uns die Zweisamkeit suchen lässt – und das ist nicht quantitativ messbar, sondern nur qualitativ fühlbar. Es gilt also in der Realität, entgegen allen ökonomischen Modellen: „Je besser, desto mehr.“
Wo Fichte nun geglaubt hätte, er und die seinen seien dafür bestimmt, den Menschen die „richtigen“ Optionen vorzugeben, geht Dierksmeier diesen Weg bewusst nicht. Er ist überzeugt: Freiheit, die durch Zwang befohlen wird, ist keine Freiheit mehr. Vielmehr müsse qualitative Freiheit auch mit freiheitlichen, partizipativen Instrumenten zwischen den Menschen ausgehandelt werden. Und da in einer globalisierten Welt auch Menschen weit weg von hier und Erdbewohner zukünftiger Generationen von unserem Tun betroffen sind, müssen auch deren Interessen mit auf den Verhandlungstisch.
Wie das in der realen Welt aussehen könnte? Das kann Dierksmeier natürlich nicht en detail für jede Frage unserer Zeit durchdeklinieren. Ich persönlich nehme aus dem Werk allerdings ein Gerüst mit, an dem entlang ich meine Positionen auf ihre Konsistenz prüfen kann. Bemerkenswert vor allem: Dierksmeier bevormundet nicht. Und das ist wichtig, denn: Wer die Freiheit wirklich liebt, sollte sich immer bewusst sein, dass auch er hin und wieder Gefahr läuft, deren Zumutungen (im Sinne von: Verantwortung) gegen die einfache (im Sinne von: gemütlichere) Lösung einzutauschen. Wer Freiheit nur für sich in Anspruch nimmt, sie anderen aber nicht im gleichen Maße zugestehen will, verrät die gesamte Idee. Das passiert derzeit sowieso schon viel zu häufig. Und daher kommt Claus Dierksmeiers Buch nicht nur zur richtigen Zeit, sondern wird hoffentlich auch seinen Teil zu einem neuen Debatte über die Freiheit, die wir wollen, beitragen.
Guten Tag!
AntwortenLöschenIch habe mir Dierksmeiers Buch auf Ihre Rezension hin gekauft und mit Gewinn gelesen. Leider haben sich in der Zwischenzeit die politischen Voraussetzungen für ein Leben in "weltbürgerlicher Verantwortung" derart dramatisch geändert, dass mir die folgenden Anmerkungen zur Lektüre nicht nur angemessen, sondern sogar notwendig erscheinen.
Die Gefahr für eine liberale Politik mit globaler Perspektive hat sich durch die Wahl Donald Trumps derart verschärft, dass jetzt politisch-programmatisch reagiert werden werden muss, nicht erst in einigen Jahren, wenn das Für und Wider eines Begriffs "qualitativer Freiheit" hinreichend diskutiert worden ist und den akademischen Elfenbeinturm verlassen hat. Was meines Erachtens in Dierksmeiers Entwurf zu kurz kommt – und das ist nicht unbedingt als Vorwurf gemeint, denn es hätte vermutlich den Rahmen seines Buches gesprengt – ist die konkrete Analyse der Vorgänge jenseits politisch-ökonomischer Denkerzirkel, man könnte vielleicht auch sagen, die Kontextualisierung des Diskussionsstranges um Galbraith vs. Friedman, denn das ist die Welt, in der wir heute leben.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir über "Globalisierung" reden? Für die meisten ist es schlicht die "neoliberale Deregulierung der Märkte". Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die erratischen Äußerungen des neuen President-elect über seinen politischen Kurs im Hinblick auf Wirtschaft, Bündnisverpflichtungen und ganz generell globale Präferenzen haben ein grelles Schlaglicht auf das geworfen, was ihm und seinesgleichen am dringendsten unter den Nägeln brennt: Es ist das Gefüge internationaler Institutionen (UNO, NATO, EU, OSZE, IWF, WTO, IPCC, ICANN usw. usf.) sowie deren Regelwerk, dem sich die wirtschaftlich erfolgreichsten Nationen seit Jahrzehnten freiwillig unterworfen haben. Diese Institutionalisierung ist das, was die Globalisierung der Märkte – aber auch des zivilgesellschaftlichen Engagements – erst ermöglicht. Deshalb richtet sich der Angriff aller, die sie bekämpfen, auf Abkommen, die Nationen längerfristig binden (NAFTA, TPP, TTIP, CETA, aber auch das Weltlimaabkommen sowie der NATO-Vertrag) und Institutionen, die die Durchsetzung solcher Abkommen garantieren sollen. Kurz gesagt soll also die Tendenz zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen rückgängig gemacht werden.
Alle weltoffen und freiheitlich denkenden Menschen sollten sich deshalb klar machen, was 2017 auf dem Spiel steht. Im schlimmsten Fall finden wir uns 2018 in einer Welt wieder, wie sie vor 1918 existiert hat: Eine globale Anarchie "souveräner" Nationen, die mit schrankenloser, bestialischer Gewalt in ständig wechselnden, von momentanen Interessen bestimmten Koalitionen um die Vorherrschaft streiten.
Dass öffentlich darüber so wenig diskutiert wird, halte ich für eine Art Betriebsblindheit der politischen Akteure: Solange Institutionen funktionieren, werden sie als selbstverständlich vorausgesetzt. Erst wenn sie versagen, nimmt man ihre Funktion wahr. In diese Falle sind gerade liberal denkende Menschen leider immer wieder getappt, weil sie den Fokus zu sehr auf individuelle Freiheit legen und deren Voraussetzungen aus dem Blick verlieren. In dem Punkt hat Dierksmeier zweifellos Recht.