Dienstag, 15. September 2015

Gastbeitrag: Stefan George, der George-Kreis und die Parallelen zu heute

Robert E. Norton ist Associate Vice President for Academic Affairs and Research an der University of Notre Dame, Chicago. Er ist Germanist und Philosoph, hat in Deutschland an der FU Berlin und der Georg-August-Universität Göttingen studiert und später an der Karl-Ruprechts-Universität Heidelberg gelehrt und beschäftigt sich schon seit längerem wissenschaftlich mit Stefan George und und dem Geheimen Deutschland. Er ist außerdem Herausgeber von "The German Quarterly".

Ich habe Herrn Norton gefragt, ob ich diese Auszüge hier veröffentlichen darf, weil Stefan George und der Begriff des Geheimen Deutschland heute von der neuen Rechten genutzt werden, um ihren menschenfeindlichen Anliegen einen bürgerlichen Anstrich zu geben – worauf sogar etablierte Medien hereinfallen können. Nortons Warnungen decken sich mit den Beobachtungen, die in „Gefährliche Bürger“ dokumentiert sind.

[…] Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück: Wir reden von einem Mann, der mit leidenschaftlicher Inbrunst die moderne Massengesellschaft und ihre Werte hasste – nein, seien wir konkreter: der die Menschen hasste, die diese Gesellschaft bildeten, die »Bürger«, die das Wilhelminische Reich zu einem Wohlstand brachten, der in Deutschland bis vor kurzem nicht wieder erreicht werden sollte; von dem Dichter in Zeiten der Wirren (George 1928: 35–41), der die »Mär von blut und von lust / mär von glut und von glanz: / Unserer kaiser gepräng / unserer kämpfer gedröhn« glühend besang; von dem charismatischen »Meister«, der junge, idealistische, oft brillante »Jünger« um sich scharte, die ihre Geistesgaben und proselytischen Energien bedingungslos in den Dienst des Dichters stellten; und schließlich von dem machtbewussten Führer des Geheimen Deutschland, dessen offizielles Zeichen die rundarmige Swastika war: Dieser Mann steht wieder mitten unter uns.

[…] Die Bundesrepublik Deutschland hatte keinen Platz für einen Dichter, der in seiner Person und seinem Denken nachgerade das Gegenteil all ihrer politischen Grundsätze darstellte. George hielt die Demokratie bestenfalls für einen Selbstbetrug und eine Illusion, eigentlich aber für eine verwerfliche Verleugnung der von der Natur vorgegebenen Rangordnung aller Lebewesen. Die Emanzipation der Frauen fand er ebenso lächerlich wie die der Männer; Gleichheit war ein mathematischer Begriff, nichts weiter; und Freiheit: Nun, man kann sich denken, was ein Mann von der »Freiheit« hielt, der meinte, dass das Beste, was die allermeisten Menschen tun könnten, wäre, sich einem ihnen wesensgemäß überlegenen »Herrn« zu unterwerfen und ihm ergeben zu gehorchen. »Herrschaft und Dienst«, »Gefolgschaft und Jüngertum« – das waren die politischen Losungen Georges und seines »Kreises« […].

[…] Ein halbes Jahrhundert lang war es fast so, als hätte es George nie gegeben. Und jetzt? Wie sollen wir seine »plötzliche Wiederkehr« verstehen? Fand während der Metamorphose von der Bonner zur Berliner Republik auch eine innere, gleichsam tektonische Verschiebung in der Selbstauffassung der Deutschen statt? Wurden durch die Wiedervereinigung kulturpolitische Freiräume für eine Rückbesinnung auf Aspekte der deutschen Vergangenheit geschaffen, die sich vorher einem unbefangenen Zugriff verweigerten? Oder gibt es andere, bedenklichere Gründe, warum George auf einmal wieder in aller Munde ist? Bröckelt der alte linksliberale Konsens unter den Intellektuellen des Landes, für die es ausgemacht war, wie George einzuordnen ist? Gibt es vielleicht neue Kräfte, die es müde sind, sich immer und immer wieder für die deutsche Vergangenheit schämen zu müssen und die deutsche Kultur und Geschichte auf die zwölf Jahre der Schreckensherrschaft eingeschränkt zu sehen? Ist inzwischen eine jüngere, selbstbewusste, unapologetische Generation herangewachsen, die sich unerschrocken, ja trotzig nach geeigneten Vorfahren und Legitimationsfiguren umschaut und in George einen würdigen, weil auch angemessen provokanten Ahnherrn erblickt? Ist Georges Comeback also nur geschichtlicher Zufall oder ist es in unterschwelliger Weise aktuell?

[…] Es war vor allem der im Mai 2009 verstorbene Philosoph Manfred Riedel, der in den letzten Jahren seines Lebens mehrere Arbeiten vorgelegt hatte, in denen er seinen Mitbürgern unverhohlen und allen Ernstes empfahl, sich George und seine Ideale aufs Banner zu schreiben. Riedel plädierte ausdrücklich dafür, die von George vertretenen Konzepte »als Maß und Korrektiv für die Moderne« zu aktualisieren, wie er es in den bereits 1998 veröffentlichten Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung formulierte. Noch expliziter wurde Riedel in zwei späteren Büchern – Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg sowie in dem posthum erschienenen Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. In Letzterem gibt Riedel folgende Diagnose unserer Lage: »Die wachsende Verhässlichung der Umwelt durch die Technik, die Unterwerfung aller Dinge unter die Gesetze der Warenproduktion für einen Weltmarkt (was heute ›Globalisierung‹ heißt) und die damit verbundene Enteignung menschlichen Selbstseins lassen sich inzwischen in ihrer ganzen Tragweite erkennen an der Verflachung des Lebens, sichtbar an jedem Gerät, das der Mensch zu seiner Bequemlichkeit schuf, den Kleidern, die er anzog, den Häusern, die er bewohnte.« Das Heilmittel? Schon Hugo von Hofmannsthal, der von George heftigst Umworbene und auch nach gescheiterter Eroberung noch immer arg von ihm Bedrängte, hat es Riedel zufolge trotz seiner Liebesverweigerung unverrückbar gewusst: »Hofmannsthal hat nie aufgehört, George zu verehren […]. Er anerkannte, dass sich George fast allein der angebrochenen Kulturbarbarei mit Macht entgegenwarf und gegenüber dem vorherrschenden Individualismus die Würde geistigen Daseins wieder zu Ansehen und Geltung brachte.«

[…] Es war wiederum Adorno, der diesen anhaltenden Zug in Georges Schaffen und Persönlichkeit hellsichtig erkannte und dessen spätere Auswirkungen im realpolitischen Bereich unterstrich: »Wohl hat George, auf wechselnde Weise, den Gestus des Esoterischen praktiziert: erst den eines ästhetischen Anspruchs, der ausschloß, wer nicht, nach Georges Worten, fähig oder willens war, ein Dichtwerk als Gebilde zu begreifen; später den eines lose um seine Figur gruppierten, angeblich ein geheimes Deutschland verkörpernden, kulturell-politischen Erneuerungsbundes. Trotzdem hat er quantitativ erheblichen Gruppen des reaktionären deutschen Bürgertums vor Hitler aus der Seele gesprochen. Gerade der esoterische Ton, jenes narzißtisch sich abdichtende Wesen, das nach Freuds Theorie den politischen Führerfiguren ihre massenpsychologische Wirkung verleiht, trug dazu bei.«

[…] Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Die Behauptung, George habe mit der Politik nichts am Hut gehabt, entspricht einfach nicht den bekannten Tatsachen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg spielten explizit politische Erwägungen eine maßgebliche Rolle im George-Kreis und bei George selber. […]George schwebte ein Staatsmodell vor, das dem, das 1933 verwirklicht wurde, mehr entsprach als irgendeine andere politische Form in Deutschland davor. Michael Landmann, der den Dichter persönlich kannte und in dem Schicksalsjahr zwanzig wurde, berichtete: George »verurteilte die Ausschreitungen, war abgestossen vom plebejisch Massenhaften der Bewegung, aber begrüsste doch die Veränderung als solche«. Im September 1933 äußerte er gegenüber Edith Landmann, der Mutter Michaels und der treuen Chronistin des Dichters, »es sei doch immerhin das erste Mal, dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen wiederklängen«.

[…] Einer, der Georges Zugehörigkeit zu bestimmten gegenwärtigen Strömungen bereits zu dessen Lebzei­ten sehr wohl wahrnahm, war der österreichische Germanist und Literaturhistoriker Oskar Benda. In seiner erstmals 1931 erschienenen Schrift Die Bildung des dritten Rei­ches, die als eine der ersten anti-nationalsozialistischen Kampfschriften überhaupt gilt, verortete Benda die ursprünglichen geistigen und ideologischen Vorprägungen des »Dritten Reiches« in dem so genannten »Dritten Humanismus«, der aus der angebli­chen »Wiedergeburt der humanistischen Bildungsidee« her­vorgegangen sei und deren maßgeblichste und einflussreichste Vertreter er in George und seinem Kreis sah. […] „Der Kreis um George hat zum ersten Mal in Europa den Gedanken der modernen Diktatur ›vergottet‹ und ›verleibt‹. Die ganze Ideologie des italienischen Faschismus klingt wie ein Echo der Stimmen aus dem heiligen Hain Georges; alle ihre Leitgedanken: die heldische ›Elite‹, die ›Hierarchie‹ und der ›korporative Rechtsstaat‹, sind hier vorgestaltet, und vorgestaltet ist hier zuvörderst auch die heldische Vision des Diktators, dessen geschichtliche Erscheinungsformen George unermüdlich besingt […].“

[…] Aber die politische Sprengkraft Georges, auch wenn sie von vielen seiner heutigen Interessenten nicht bemerkt oder herabgemindert wird, verjährt nicht und darf daher nicht ignoriert werden. Zu einer Zeit, in der ein Thilo Sarrazin (2010) totgeglaubte Borniertheiten über Rasse und die genetische Vererbung von kulturellen Werten millionenfach verkaufen kann – auch das hätte man vor einem Jahr nicht für möglich gehalten –, sollte man nicht glauben, dass man gegen die Skurrilitäten der finstersten Vergangenheit ohne weiteres gefeit sei. Ebenso sollte man keine Nachsicht zeigen gegenüber der kalkulierten oder auch nur gleichgültigen Verharmlosung einer der politisch geschicktesten und ambitioniertesten Figuren in Deutschland vor 1933. Nicht die Gefahr, dass eine ungewappnete Leserschaft von Georges Geist unwissentlich verführt werden könnte, ist zu befürchten, sondern vielmehr eine schleichende Akzeptanz seiner kleingeredeten oder gar verschwiegenen Radikalismen, die sich allmählich – wirksam beglaubigt durch hohe Auflagenzahlen und Literaturpreise – in deren institutionelle Verklärung verwandeln könnte, die der politischen Plausibilität seiner Anschauungen nur zugute kommen würde.

[…] Die neuen Bewunderer Georges spielen entweder arglos oder zynisch mit einer Flamme, um deren zerstörerische Wucht George selbst wohl wusste. Eins ist jeden­falls sicher: Nach langer Verbannung in der Wüstenei ist Stefan George in unseren Tagen zurückgekehrt. Ob er verweilt oder bald wieder geht, ist noch ungewiss, aber seine Gestalt steht vor der Tür. Doch gehört es zur praktischen Vorsicht, dass man vor Einlass in Erfahrung bringt, wen man zu sich ins Haus holt. Es könnte nämlich ein Brandstifter sein.



Der Text ist eine gekürzte Version eines Textes, der zunächst in „WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung“ unter dem Titel „Wozu George?“ erschienen ist. Detaillierte Quellenangaben wurden an dieser Stelle entfernt, sind aber im Original zu finden.

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