Christoph Giesa gründete im Sommer 2010 die Facebook-Gruppe "Joachim Gauck als Bundespräsident" - eine Aktion, die Politik und Gesellschaft in Bewegung brachte.
Manchmal im Leben spürt man, dass etwas einfach sein muss. So beginnt Christoph Giesa sein Buch "Bürger Macht Politik". Damals, im Frühsommer 2010 hatte Giesa auch dieses Gefühl. Als der damalige Bundespräsident Horst Köhler seinen Rücktritt verkündete. Da spürte auch Giesa, dass es jetzt an der Zeit sei, wie er sagt. Für Joachim Gauck. Noch bevor dieser offiziell als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert wurde, gründete Giesa eine Gruppe auf Facebook. "Joachim Gauck als Bundespräsident". Innerhalb weniger Tage hatte die Gruppe 20.000 Anhänger. Und Giesa war plötzlich bundesweit bekannt. Als der "Gauck-Macher".
Zwei Jahre später sitzt er im grauen Kapuzenpulli an einem Cafétisch in der Langen Reihe, in Hamburg St. Georg. Wieder sind es nur wenige Tage, bis Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt werden soll. Ein zweites Mal. Und dieses Mal deutet nichts mehr daraufhin, dass es am heutigen Sonntag nicht klappen sollte. Das war 2010 noch anders. "Damals hätten die meisten Gauck auch schon gewollt", sagt Giesa, der in Hamburg für einen Handelskonzern arbeitet. Auch wenn es schließlich Christian Wulff wurde. "Merkel wollte ein Zeichen für Schwarz-Gelb setzen. Aus machtpolitischem Kalkül. Es war kein Zeichen gegen Gauck", sagt Giesa.
Auf seinem Handy hat er Fotos abgespeichert. Sie zeigen ihn gemeinsam mit Joachim Gauck im Reichstag. "Es ist der Tag an dem zum vierzehnten Mal der Präsident der Bundesrepublik Deutschland gewählt wird. Einer der Kandidaten sitzt neben mir im Turmzimmer des Reichstags", wird Giesa später über diesen Tag schreiben. Er wartet mit Gauck gemeinsam auf den dritten Wahlgang. Im Hintergrund ist die Quadriga auf dem Brandenburger Tor zu sehen. Und Giesa sagt zu seinem Wunschkandidaten: "Vor nicht vielmehr als zwanzig Jahren haben Sie noch darum gekämpft, einmal die Quadriga von hinten sehen zu können, frei zwischen den Teilen zu wandeln, die durch eine Mauer so lange getrennt waren. Und heute sitzen Sie hier im Westen, im Reichstag, mit Blick auf das Brandenburger Tor und werden möglicherweise noch heute Abend zum Präsidenten des gesamten, geeinten Landes gewählt." Was Giesa da noch nicht wusste: Gauck hatten den gleichen Gedanken zuvor ebenfalls ähnlich aufgeschrieben.
Wenn Giesa die Fotos zeigt und von der Aktion für Gauck erzählt, dann klingt das klar und aufgeräumt. Jedenfalls nicht nach jemandem, der sich mit einer Kampagne in den Vordergrund spielen möchte. Das sagt er selbst: "Ich will keinen Personenkult um mich haben." Und es ist ihm eher unangenehm, wenn ihn Nutzer anschrieben, um ihm dafür zu danken, dass er Gauck gemacht habe. "Das habe ich aber nicht. Zumindest nicht allein", so Giesa. Und auch um Gauck habe er keinen Personenkult aufbauen wollen. "Ich bin eigentlich jemand, der für Themen, nicht für Personen steht", sagt Giesa. Gauck werde er künftig genauso kritisch gegenüberstehen wie anderen auch. Es sei ihm wichtig gewesen, dass es eine Pro Gauck, aber keine Aktion gegen Wulff war.
40 Jahre Altersunterschied trennen die beiden Männer Gauck und Giesa. Es gab nur eine einzige Begegnung der beiden, bevor Giesa die bundesweite Aktion startete. Aber eine einprägsame. Giesa hatte Gauck als Redner auf einem Bundeskongress der Jungen Liberalen erlebt. Eine Rede, an die sich noch heute jeder der Anwesenden erinnern würde, erzählt Giesa. "Sein Leitmotiv ist liberal, an manchen Stellen ist er konservativ, aber er hat auch grüne Einschläge."
Giesa selbst kommt aus der FDP. Jahre zuvor war er Chef der Jungen Liberalen in Rheinland-Pfalz, er wäre fast Europaabgeordneter geworden. Er weiß, wie Politik funktioniert. Trotzdem oder vielleicht genau deswegen hat er mit ihr aufgehört. Wenn er in seinem Buch über die notwendigen Veränderungen schreibt, von den fehlenden innovativen Ideen und seiner Illusion, als Parteimitglied etwas bewegen zu können, dann wird deutlich, warum er zu einem fast "unpolitischen Menschen" wurde: "Die Parteien verlieren massiv an Mitgliedern. Ich glaube aber nicht, dass sich Leute immer weniger politisch interessieren. Es liegt auch daran, dass die Lebensrealität von vielen nicht mehr mit den Strukturen einer Partei zusammenpasst. Es ist ein Protest gegen die großen Linien", sagt Giesa. "Wir erwarten von unseren Politikern Wunderdinge - obwohl wir ihnen eigentlich nichts zutrauen."
Erst mit der Gauck-Aktion fand Giesa wieder zurück in das politische Leben. Begrüßt wurde sein Vorstoß nicht unbedingt von allen Seiten. Erwin Huber, der bayerischen CSU-Politiker, sagte damals über die Protestmails der Bürger und ihre Internet-Aktionen für Gauck: "Wenn ein Kandidat auf eine solche geistlose Unterstützung angewiesen ist, hat er wohl keine guten, überzeugenden Argumente." Als es ein halbes Jahr später Karl Theodor zu Guttenberg an den Kragen ging, hörte sich das anders an: "Die Aktionen seiner Anhänger in ganz Deutschland sind wichtig und sollten fortgesetzt werden", sagte Huber.
Giesa kommentiert das in seinem Buch nüchtern: "Es wird uns nun wirklich nicht einfach gemacht, für etwas zu sein, wenn das, was gestern falsch war, heute auf einmal richtig sein soll - und andersrum." Aufgegeben hat er deswegen nicht. Er ist aufgestanden, um etwas zu bewegen. Und hat gleichzeitig viele andere dafür begeistert. "Christoph Giesa steht für das, was ich als notwendige Ergänzung der Freiheit wieder und wieder benenne - er steht zu der Verantwortung, die ein mündiger Bürger für sein Gemeinwesen haben muss", schreibt Gauck über ihn. Er hat auch das Vorwort zum Buch verfasst, in dem er beschreibt, wie sehr ihn die Unterstützung der jungen Menschen berührte. "Trotz der äußerst geringen Chancen, zu gewinnen, war es für mich selbstverständlich, mit aller Energie und Ernsthaftigkeit zu kandidieren. Dies war ich nicht nur den beiden Parteien, die sich für mich ausgesprochen hatten, sondern auch den vielen Unterstützern aus der Gesellschaft schuldig - unter ihnen jene zahlreichen im Internet engagierten Politikinteressierten, die unter anderem von Christoph Giesa angesprochen worden waren." Die Unterstützung wird er wohl auch weiterhin haben.
Zuerst erschienen in der "Welt am Sonntag" am 18. März 2012.
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