Dienstag, 28. Februar 2012

Ohne Worte

‎"Ich muss wählen, was ich verabscheue: Das Träumen, das meinem Verstand zuwider ist, oder das Handeln, das meiner Sensibilität verhasst ist; das Handeln, zu dem ich nicht geboren bin, oder das Träumen, zu dem niemand geboren ist. Da ich beides verabscheue, wähle ich keines; weil ich aber mitunter entweder träumen oder handeln muss, vermische ich das eine mit dem anderen."

Fernando Pessoa, Biograf der portugiesischen Volksseele (1888-1935)

Dienstag, 21. Februar 2012

Gebt die Wahl frei 2.0

Der eine oder andere mag sich noch daran erinnern, dass vor der Bundesversammlung 2010 eine heftige Diskussion um die Frage entbrannte, wie frei die Wahlmänner und –frauen denn in ihrer Entscheidung sein dürfen oder müssen. „Gebt die Wahl frei!“ war ein bemerkenswerter Namensartikel von Kurt Biedenkopf in der FAZ überschrieben, der Union und FDP damals ganz schön in Bedrängnis brachte, Avaaz startete unter demselben Titel eine Mailingaktion, die den einen oder anderen Abgeordneten ziemlich aus der Fassung brachte vor so viel Aufmüpfigkeit der Bürger. 

Einige Wahlleute von Schwarz-Gelb stellten sich trotz allen Drucks öffentlich auf die Seite Gaucks, viele weitere taten es im Rahmen der geheimen Wahl. Die Wutausbrüche, insbesondere der von Wolfgang Bosbach, der später im Rahmen der Abstimmung zum europäischen Rettungsschirm auf einmal die Unabhängigkeit für sich reklamierte, sind unvergessen – und das Problem leider weiterhin ungelöst. 

Nun ist bei dieser Bundesversammlung zwar nicht zu vermuten, dass es für Joachim Gauck noch eng werden könnte. Nichtsdestotrotz sollte jetzt trotzdem das gelten, was wir vor zwei Jahren eingefordert haben, als Joachim Gauck nicht Favorit, sondern Außenseiter war. Man darf Forderungen nicht nur dann aufstellen, wenn sie einem gerade in den Kram passen, sei es nach der Direktwahl des Bundespräsidenten, nach mehr Bürgerbeteiligung oder nach dem unabhängigen Mandat, sondern muss auch dann dazu stehen, wenn es anders herum steht. Ich würde sogar noch weiter gehen: Man sollte die Diskussionen in erster Linie und gerade dann anstoßen, wenn einem niemand ein kurzfristiges politisches Ziel unterstellen kann – nur dann ist man glaubwürdig! 

In diesem Sinne werbe ich auch diesmal darum, dass jeder einzelne Wahlmann und jede einzelne Wahlfrau sich am 18. März frei und unabhängig nach ihrem Gewissen entscheiden. Auch wenn Gauck dann eben nicht alle Stimmen aus dem rot-grün-schwarz-gelben Lager erhalten wird, das ihn nominiert hat. Das nennt man dann Demokratie – und das ist eines der wichtigen Themen des Joachim Gauck. Er würde mir sicher nicht widersprechen.

Montag, 20. Februar 2012

Gauck und die Macht der Bürger

Die Glückwünsche, die mich seit gestern Abend erreichen, sind zahlreich. Aber so sehr ich mich über den Anlass für diese freue, so wenig möchte ich als Person diese akzeptieren. Zumindest nicht ohne dass ich sie postwendend zurückschicke. 

Dass Joachim Gauck nun Bundespräsident werden wird ist eine Zäsur. Nicht, weil er Bürgerrechtler war oder weil er parteiunabhängig ist oder weil er von allen großen Parteien gemeinsam nominiert ist. Nein, der eigentliche Grund liegt fast zwei Jahre zurück. Hätte es die Bürgerbewegung pro Gauck im Juni 2010 nicht gegeben - von der ich zwar das Gesicht sein durfte, die aber ohne die vielen Tausend anderen, die sich mit Worten und Taten engagierten nicht mehr als nur heiße Luft gewesen wäre -, nein, hätte es die nicht gegeben, man darf davon ausgehen, dass Joachim Gauck jetzt nicht nominiert wäre. 

Dabei sollte man die direkte Wirkung von Mailingaktionen und Minidemonstrationen auf die Kanzlerin und ihr Umfeld zwar nicht überschätzen. Unterschätzen sollte man den nachhallenden Effekt aber auch nicht. Hätte es den „Aufstand“ für Gauck 2010 nicht gegeben, die Bild am Sonntag hätte gestern nicht mit Gauck titeln können, wie sie es getan hat. Ohne 2010 hätte es auch die Eindeutigkeit in den offiziellen und inoffiziellen Meinungsumfragen nicht gegeben, die keinen Zweifel offen ließen: Joachim Gauck ist der Kandidat der Bürger. 

Wir haben als Bürger das getan, was Bürger aus Sicht von Joachim Gauck tun sollten: Verantwortung übernommen. Darauf können wir stolz sein – und es ist durchaus legitim den Triumpf für einen Moment auszukosten. Nun gilt es allerdings, dafür zu sorgen, dass das keine Alltagsfliege bleibt und wir den Weg in die Bürgergesellschaft weiter beschreiten. Wir müssen uns weiter vernetzen und kritisch bleiben, uns engagieren und den Mächtigen auf die Füße treten. Das gilt übrigens auch in unserem Verhältnis zu Joachim Gauck, keine Frage. Personenkult hilft auch ihm nicht, sein Amt bestmöglich auszufüllen.

Sonntag, 19. Februar 2012

Aus aktuellem Anlass...


Joachim Gauck wird Bundespräsident – eine ganz persönliche Betrachtung

Ich gebe zu, ich habe heute Abend ein paar Tränen verdrückt, als die Meldung darüber, dass Joachim Gauck Bundespräsident werden soll, über die Ticker ging. Natürlich steckt da auch ein wenig das Gefühl dahinter, dass sich der Kampf gelohnt hat, für den ich so viel Herzblut gegeben hatte. Aber noch viel mehr steckt dahinter, dass mit Joachim Gauck die letzte Möglichkeit genutzt wurde, die Werte der Revolution von 1989 zu würdigen. Joachim Gauck ist einer derjenigen gewesen, von denen wir nun als Deutsche nicht so unendlich viele hatten und haben, der für die Idee von Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen ist und seine Gesundheit riskiert hat. Das Zeichen, dass die Politik mit Joachim Gauck an die Bürger sendet ist auch, dass man diese eben doch noch ernst nimmt und dass man sie nicht nur in Verantwortung nimmt, sondern ihnen auch Rechte zubilligt. Der heutige Tag ist ein guter Tag für unsere so geschundene Demokratie, er ist ein guter Tag für die Idee der Freiheit, er ist ein guter Tag für die Bundesrepublik und Europa. Mehr ist nicht zu sagen. Vergessen wir für ein paar Stunden all die Parteitaktik und freuen wir uns alle gemeinsam.

Samstag, 18. Februar 2012

Wulffs Selbstdemontage ist Merkels Machtgewinn

Angela Merkel könnte es kaum besser haben: Sie hat einen absolut gefügigen Bundespräsidenten. Doch wie lange erträgt die politische Kultur diesen Zustand noch?

Man möchte meinen, zur Causa Wulff wäre in den vergangenen Wochen alles gesagt. Von allen. Und mehrfach. Wenn man das Betrachtungsfeld allerdings ein wenig erweitert, wird es wieder interessant.
Angela Merkel hat es geschafft, mit Christian Wulff einen Kandidaten auszuwählen, der nicht nur selbst überfordert ist, sondern darüber hinaus auch noch das Amt bis zur Unkenntlichkeit demoliert

Es war der von meinem Freund mit einem Seufzen vorgetragene Satz „Eigentlich müssen wir das Amt des Bundespräsidenten ganz abschaffen, es hat spätestens nach Wulff seine letzte Existenzberechtigung eingebüßt“, der mich nachdenklich machte. Denn wenn man ehrlich ist, trifft es den Nagel auf den Kopf. Schon der Prozess, mit dem Christian Wulff ins Amt gehoben wurde, hatte das Amt massiv beschädigt.

Der überparteiliche Charakter, der dem Bundespräsidentenamt zugedacht war und der seinen Ausdruck darin findet, dass der Amtsinhaber seine Parteimitgliedschaft ruhen lassen muss, war nicht nur dadurch ad absurdum geführt worden, dass der neue Präsident eine Biografie mitbrachte, die nichts, aber auch gar nichts jenseits der Parteikarriere aufzuweisen hat, sondern auch dadurch, dass der ganz offensichtlich bessere Kandidat (der tatsächlich kein Parteibuch innehat und damit schon ganz automatisch deutlich überparteilicher wahrgenommen wird) im durchsichtigen Parteienklüngel das Nachsehen hatte.

Das Kopfschütteln der Bürger über den Auswahlprozess gab es in der Vergangenheit auch schon des Öfteren, die Amtsinhaber litten aber in ihrer öffentlichen Wahrnehmung kaum darunter. Dies war auch in den ersten Monaten der Wulff-Ära kaum anders. Nun aber steht man vor einer Zäsur. Das derzeitige Herumlavieren des Christian W. sorgt dafür, dass das Amt seinen Sonderstatus in der Wahrnehmung der Bürger verloren hat. Traute man bisher den Präsidenten regelmäßig deutlich eher über den Weg, als dies für „aktive“ Politiker galt, ist das spätestens jetzt vorbei.

In dieser Leistung steht Christian Wulff ganz nah bei Guido Westerwelle, der dasselbe mit dem Amt des Außenministers geschafft hat – nur mit dem Unterschied, dass letzterer derzeit eher in der Lage scheint, diese Wahrnehmung bis zum Ende seiner Amtszeit zumindest einigermaßen zu korrigieren.

Am spannendsten ist aber eigentlich das, was die Causa Wulff, der vermutlich tatsächlich bis zum Ende seiner Amtszeit als lahmste Ente der Republik weitermachen will, für das Machtgleichgewicht in Deutschland auch perspektivisch heißt. Platt gesagt: Das Amt und sein Inhaber wird in den nächsten drei Jahren kaum eine Rolle spielen, Widerspruch gegenüber der Regierung wird von Wulff ebenso wenig zu erwarten sein, wie glaubhafte moralische Denkanstöße. Am Ende wird es Deutschland deswegen auf den ersten Blick weder besser noch schlechter gehen und man wird sich zu Recht fragen: Wozu braucht es dieses demolierte Amt eigentlich noch?

Dass Angela Merkel nach langem Schweigen, Christian Wulff noch einmal zur Seite sprang, ist der endgültige Beweis dafür, dass es ihr in keinster Weise darum geht oder ging, den besten, stärksten oder glaubhaftesten Bundespräsidenten ins Amt zu heben oder ihn dort zu halten. Es ging ihr noch nicht einmal in erster Linie darum, unbedingt einen Kandidaten mit dem richtigen Parteibuch ins Amt zu bringen und auch die viel diskutierte Motivation, dass sie mit Wulff den letzten einer Männerriege, die ihr hätte gefährlich werden können, aufs Abstellgleis stellen wollte, ist zwar nicht falsch, stand aber nicht im Fokus. Die einfache Wahrheit ist die, dass Angela Merkel den Anspruch hat, keinen Fehler zweimal zu machen. Und mit Horst Köhler hatte sie einmal einen Kandidaten ins Amt gehoben, der eine Unabhängigkeit entwickelt und sich mit den Bürgern in einer Art und Weise gemein gemacht hatte, die ihre Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt und den Druck auf sie erhöht hatte.

Das, so hatte sie sich vermutlich schon geschworen, als Köhler das erste Mal die Unterschrift unter eines ihrer Gesetze verweigerte, sollte ihr nicht noch einmal passieren. Klug wie unsere Bundeskanzlerin eben ist, war ihr schnell klar, dass jegliche von ihr ins Amt gehobene Person ein gewisses Restrisiko mit sich bringen würde, dass diese sich in der Funktion vom Einfluss der Kanzlerin emanzipieren und Probleme bereiten würde. Die einzig mögliche Antwort auf dieses Problem war es, einen Kandidaten auszuwählen, der nicht nur selbst überfordert wäre, sondern darüber hinaus auch noch das Amt bis zur Unkenntlichkeit demolieren würde. Dafür, das muss man ihr lassen, hat Angela Merkel mit der Westerwelle-FDP als unbewusstem Steigbügelhalter den wahrlich besten Kandidaten ins Amt gehoben.

Der letzte aufrechte Widerständler im Politikbetrieb ist Bundestagspräsident Lammert, aber auch für den, davon kann man ausgehen, hat die Kanzlerin spätestens für den Beginn der nächsten Legislatur einen Entsorgungsplan im Auge. Man könnte nun vor dieser vermeintlichen Stärke den Hut ziehen, wie auch vor der Art und Weise, wie sie Europa vor sich hertreibt. Man könnte sich allerdings auch fragen, wie lange die politische Kultur dieses Landes den Politikstil der Kanzlerin noch ertragen kann, ohne nachhaltigen Schaden zu nehmen. Noch überwiegt laut allen Umfragen die positive Bewertung. Es bleibt zu hoffen, dass es im Moment der Erkenntnis nicht schon zu spät ist.

Emanzipierte Mutbürger

Debatten, "Buykotts" und Kampagnen: In sozialen Netzwerken engagieren sich viele Bürger für ihre Belange. Kreativ und konstruktiv angewandt, kann das Internet mehr Demokratie im Lande zu schaffen.

Veränderungen in der politischen Landschaft kommen selten über Nacht. Im Gegenteil: Die meisten Entwicklungen, die irgendwann zu politischen Umbrüchen führen, sind vorher auf anderen Ebenen der Gesellschaft zu beobachten, insbesondere in der Wirtschaft. 

Wer sich derzeit über die Piratenpartei wundert, die es schafft, mit neuen Themen, Strukturen und Prozessen immer mehr Menschen für sich zu begeistern und die etablierten Parteien vor sich herzutreiben, dem ist ein Blick in das Jahr 1999 zu empfehlen. 

Damals veröffentlichte eine Gruppe von Internet-Vordenkern aus Amerika das "Cluetrain Manifest", in dem vorhergesagt wurde, wie die neuen digitalen Möglichkeiten die Konsumgewohnheiten der Menschen verändern werden und wie deren Vernetzung untereinander zu einer ganz neuen Transparenz führen könne, die die etablierten Marktkräfte zum Umdenken zwingen werde. 

Heute wissen wir, dass die damaligen Voraussagen fast vollständig eingetroffen sind. Kleine, agile Startups machen den großen Unternehmen zunehmend Probleme. Immer weniger Menschen vertrauen dem Marketing der Unternehmen selbst, sondern halten sich an die Empfehlungen von Fremden in entsprechenden Online-Communities und Test-Portalen; auch der Kauf erfolgt nicht mehr dort, wo man immer gekauft hat, sondern dort, wo es am günstigsten ist. Die Emanzipation der Konsumenten scheint, getrieben durch das Internet, unaufhaltsam fortzuschreiten - und dabei immer weitere Teile nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Gesellschaft insgesamt zu erfassen.

Die sozialen Medien - Facebook, Twitter, Youtube oder wie sie sonst noch alle heißen -, die lange Zeit eher spielerisch genutzt wurden, um sich etwa virtuell zu einem realen "Flashmob" in Form von Kissenschlachten auf öffentlichen Plätzen zu verabreden, spielen dabei eine immer größere Rolle. Dabei ist zu beobachten, dass aus einem reinen Protestmedium - gegen Internetzensur, gegen Ursula von der Leyen als Bundespräsidentin, gegen die Vorratsdatenspeicherung - zunehmend ein Diskussionsforum wird, das auch konstruktives Engagement ermöglicht und befördert. 

Der viel zitierte Wutbürger findet sich dabei eher in den Kommentarspalten der großen Medienplattformen wieder, um seinem Frust Luft zu machen, während die Mutbürger zunehmend unabhängig von etablierten Strukturen mehr und mehr kreative und soziale, innovative und flexible Aktionen auf die Beine stellen, die diese Gesellschaft bereichern, gleichzeitig aber den einen oder anderen noch zu überfordern scheinen, weil sie so wenig greifbar und oftmals in keinem öffentlichen Register eingetragen sind.

Die Bandbreite geht dabei von lokalen Projekten, wie so genannten "Buykotts", bei denen sich Unternehmen verpflichten, gewisse von den Aktivisten entwickelte Mindeststandards zu erfüllen und im Gegenzug dafür dann mit einem massenhaften Käuferansturm belohnt werden, der typischerweise im Internet organisiert wird, bis hin zu überregionalen Aktionen wie etwa im Rahmen der Kampagne für Joachim Gauck als Bundespräsident, die sich auf Facebook organisierte. 

Noch probieren sich die Menschen dabei aus - viele Initiativen versanden gleich am Anfang, andere schaffen es nicht, ihre Unterstützer über den Klick im Internet hinaus zu aktivieren. Eine Entwicklung ist allerdings deutlich erkennbar. Und deshalb sollten sich die etablierten Kräfte auf die neue Form der Menschen, sich zu organisieren, einlassen. Denn sonst laufen sie Gefahr, dass es ihnen geht wie den Unternehmen, die dies nicht getan haben: Sie verschwinden vom Markt und werden ersetzt. 

Für den einen oder anderen Funktionär mag das ein Horrorszenario sein - für uns als Bürger hingegen ist es das Gegenteil. Wenn wir es richtig nutzen, dann können wir im Internet nun endlich die Demokratisierungspotenziale heben, die ihm schon früh zugeschrieben, aber nie wirklich angezapft wurden.

Zuerst erschienen im Deutschlandradio Kultur am 20. Dezember 2012: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1632233/

Freiburger Thesen nach 40 Jahren

Den Älteren wird es noch in Erinnerung sein, auch wenn es heute fast surreal wirken muss: Es gab eine Zeit, in der die FDP-Spitze sich Gedanken darüber machte, wie ein "Dritter Weg" zwischen Kapitalismus und Marxismus aussehen könnte.

Nun liegt dies schon einige Jahrzehnte zurück. In der Zwischenzeit hat sich einiges verändert. Die damals diskutierte Grundfrage allerdings, wie man den Kapitalismus zähmen und damit zu einem Instrument machen kann, der Freiheit und Lebenschancen für alle garantiert, gewinnt gerade wieder an Konjunktur - ohne dass allerdings allzu viele Menschen dabei an den Liberalismus denken. 

Das ist schade. Denn ursprünglich entstammt die freiheitliche Denkrichtung der Auflehnung gegen eine absolutistische, ungerechte und bevormundende Obrigkeit, die den Menschen die Luft zur freien Entfaltung nahm. Eine Herrschaft von wenigen über viele ist für Liberale immer ein Graus gewesen - und diese Logik gilt grundsätzlich genauso für Behörden und Märkte. 

Monopole und Oligopole, marktbeherrschende Stellungen jeglicher Art, zerstören den Wettbewerb. Solcherlei Situationen zu vermeiden, war daher immer schon das Ziel liberaler Ordnungspolitik; die Erkenntnis, dass es durchaus nötig sein kann, in den Markt einzugreifen, um sein Funktionieren zu garantieren, war allerdings lange Zeit wenig populär. Nun scheint das Pendel genau in die andere Richtung zu schlagen, was neue Gefahren für die Freiheit mit sich bringt. 

An dieser Stelle werden Liberale gebraucht, um für Mäßigung sorgen, aber auch dafür, dass Politik, Wirtschaft und Bürger, dass all jene also, welche die Gesellschaft bilden, untereinander verbunden bleiben. Auch hier lässt sich die Situation durchaus mit der Zeit Anfang der 70er vergleichen, als der Sozialismus große Sympathien auslöste und nicht wenige von einer Revolution träumten. 

Eine Besinnung auf den Geist der Freiburger Thesen von damals ist fraglos auch heute wieder eine Aufgabe. Sie formulierten klare Antworten auf Fragen, die den Menschen auf der Seele brannten, ohne sich von Neiddebatten oder Klassenkampfrhetorik antreiben zu lassen. 

Die Liberalen erkannten, dass sich ein umfassendes Freiheitsverständnis nicht darauf beschränkt, formale Ansprüche an den Staat zu stellen und unberechtigte Zugriffe seiner Organe abzuwehren, sondern ein Recht auf Teilhabe an Staat und Gesellschaft einbezieht. 

Werner Maihofer formulierte schon 1971, dass eine fortschrittliche liberale Gesellschaft es schaffen müsse, ein Staatsbürgertum hervorzubringen, das aus "Arbeitern, die nicht zu Proletariern deklassiert sind, und Bürgern, die nicht zu Bourgeois denaturiert sind" gleichermaßen besteht. 

Diesem Ziel ist man nicht unbedingt nähergekommen - in Zeiten, da einkommensschwache Bürger verarmen und reiche sich weigern, gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Diese Erkenntnis sollte jeden Liberalen schmerzen und so lange unruhig schlafen lassen, bis die Realitäten andere sind.

Das Ziel einer nachhaltigen Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche, wie es vor 40 Jahren formuliert wurde, ist noch nicht in zufriedenstellendem Maße umgesetzt. Wenn derzeit mehr und mehr über Tendenzen hin zu einer postdemokratischen Gesellschaft diskutiert wird, scheint der richtige Zeitpunkt gekommen, auch dieses Ziel endlich wieder aus der Mottenkiste zu holen. Es gibt auch heute noch viel zu tun. 

Wer behauptet, liberale Kernforderungen wären inzwischen umgesetzt und deswegen habe sich der Kampf für die Freiheit in den westlichen Demokratien erledigt, der verkennt, wie fragil jede noch so hart erkämpfte Freiheit in stürmischen Zeiten ist. 

"Noch eine Chance für die Liberalen", möchte man daher mit den Worten von Karl-Hermann Flach rufen. In der Hoffnung, dass die Freien Demokraten dann auch in der Lage sind, diese zu nutzen. Denn die Liberalen werden immer gebraucht - für Demokratie, Bürgerrechte, gesellschaftliche Verantwortung und faire Märkte.

Zuerst erschienen im Deutschlandradio Kultur am 27. Oktober 2011: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1588781/

Alles, was nicht erlaubt ist

Vor lauter Sicherheitspolitik hat die Bundesregierung den Blick für die Bürgerrechte verloren. Wer immer nur überwacht und verbietet, nimmt dem Menschen den Raum für freie Entscheidungen.

Auch wenn Deutschland von einer spröden Protestantin regiert wird, die nicht im Verdacht steht, ein Genussmensch zu sein, sollte Angela Merkel doch auf ihren vielen Reisen in die politische Provinz eines verstanden haben: Die Deutschen sind ein Volk, das zwar durchaus hart zu arbeiten weiß, in einem gewissen Maße und mit einer gewissen Regelmäßigkeit aber auch den schönen Dingen des Lebens zugetan ist. Zumindest, und das sollte die Politik, egal ob in Brüssel oder Berlin, verstanden haben, wollen die Deutschen genauso wenig wie andere emanzipierte Völker auch bevormundet werden.

Gerade in den vergangenen Wochen geisterten wieder reichlich Ideen durch die politische Landschaft, die an die Zeit der Prohibition im Amerika der 20er-Jahre erinnern, die maßgeblich von einem umfassenden Argwohn gegenüber der Vernunft des Bürgers und dessen Fähigkeit, für sich selbst verantwortliche Entscheidungen zu treffen, geprägt waren. Teile des konservativen Lagers scheinen es für legitim zu halten, Bürger auch über die Grenzen des vom Verfassungsrecht Erlaubten zu bespitzeln – gewissermaßen zum Schutz vor sich selbst. Die Bemerkung des schon öfter negativ aufgefallenen CSU-Sheriffs Hans-Peter Uhl, Deutschland werde von Sicherheitsbehörden regiert, was ihn nicht weiter zu stören schien, setzte dem Ganzen die Krone auf. In Hamburg gilt derweil ein Alkoholverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln und man fragt sich, wann es dem Alkohol genauso gehen wird wie den Zigaretten, die inzwischen auch in Bars und Clubs, Restaurants und Cafés nicht mehr erlaubt sind. Eine Wette darauf, dass wir in spätestens zehn Jahren auch in Deutschland unser Bier auf dem Weg ins Fußballstadion nur noch in braunen Papptüten transportieren dürfen, wie es in den Vereinigten Staaten schon gang und gäbe ist, scheint derzeit eine sicherere Sache, als auf die langfristige Rettung Griechenlands oder den Gewinn der Meisterschaft durch den FC Bayern zu setzen. Gemeinsam mit der diskutierten Helmpflicht für Fahrradfahrer und anderen, regelmäßig in anderem Gewand wiederkehrenden Vorstößen ergibt sich eine Zukunftsvision, die mir zu denken gibt.

Werden wir in ein paar Jahren in Nachtclubs nur noch Kamillentee serviert bekommen, ohne Zucker wohlgemerkt, denn der könnte ja böse Fettzellen provozieren, und zum langweiligen Blinken von vorgeschriebenen 20-Watt-Energiesparlampen zu Musik mit maximal 30 Dezibel feiern? Müssen wir uns darauf einstellen, dass wir am Strand eine Selbstverpflichtung zum regelmäßigen Eincremen unterschreiben, bei der die Zuwiderhandlung mit vier Wochen Führerscheinentzug geahndet wird? Und müssen wir in Zukunft jede Zusammenkunft mit mehr als einem Freund bei der noch zu gründenden „Allgemeinen Bundeszentrale für präemptive Terrorismusabwehr“ anmelden und genehmigen lassen, weil ja jedes Mal, wenn Menschen aufeinandertreffen, die theoretische Gefahr eines Komplotts besteht?

Ich gebe zu, ich bin Nichtraucher – und als solcher ganz persönlich nicht unbedingt unglücklich darüber, nicht immer und überall zugequalmt zu werden. Aber inzwischen gehen mir die Gedanken mancher staatlicher Zwangsbeglücker wirklich zu weit. Privat muss auch in Zeiten, in denen viele Menschen ihre Privatsphäre bei Casting Shows oder im Internet aufgeben (freiwillig, wohlgemerkt!), privat bleiben, wenn man es denn will. Und der mündige Mensch muss auch in Zukunft diejenigen Entscheidungen, mit denen er nicht in unzulässiger Art und Weise in die Persönlichkeitsrechte anderer eingreift, selbst treffen dürfen. Anstatt Menschen zu bevormunden, sollte man sie vielmehr in die Lage versetzen, die Vor- und Nachteile einer Entscheidung abzuwägen, um dann selbstbewusst und gut informiert entscheiden zu können. Eine Prohibition 2.0, schleichend und durch die Hintertür, indem nach und nach immer weitere Rechte eingeschränkt werden, bis eines Tages nichts mehr bleibt von dem, was vielleicht nicht immer gesund ist, aber das Leben auch lebenswert macht, die möchte ich nicht. Wie so oft allerdings liegt die Verantwortung auch bei uns Bürgern, dafür zu sorgen, dass es für die entsprechenden Politiker wenig Anlass gibt und wenig attraktiv erscheint, sich mit entsprechenden Forderungen hervorzutun. Verantwortungsvolles Verhalten hilft dabei ebenso, wie eine emanzipatorische Grundhaltung, die dafür sorgt, dass man sich nicht alles gefallen lässt. „Freiheit statt Sozialismus“ ist sicher ein Satz, der heute so für viele Bereiche zu platt ist, um die Komplexität der Themen abzubilden. Bei den hier angesprochenen gilt er für mich allerdings uneingeschränkt fort.

Zuerst erschienen bei "The European" am 27. Oktober 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/8610-verbotskultur-in-deutschland

Occupy yourself

Alles Spinner? Keinesfalls! Wer die Occupy-Bewegung als Kindergeburtstag abkanzelt, hat die Motivation der Demonstranten nicht verstanden. Doch die Messlatte liegt hoch: Occupy muss mehr werden als ein Strohfeuer mit Facebook-Unterstützung. 

Voriges Wochenende fand in Frankfurt nicht nur die lange organisierte und überdachte Buchmesse statt, auf der ich unterwegs war, sondern auch die relativ spontan anberaumte und unüberdachte „Occupy Frankfurt“-Demonstration. Nicht vor dem Hintergrund des tollen Wetters wollte ich mir das mal anschauen. Und ehrlicherweise gibt es mehr als einen Grund, warum diese ganze Bewegung interessant ist. Wenn sie überleben und etwas bewegen will, muss sie sich allerdings weiterentwickeln. Dagegen zu sein, das habe ich schon an anderer Stelle des Öfteren dargelegt, reicht in diesen Zeiten nicht mehr, um Dinge zu verändern. Es ist auch eine Verantwortung der Bürger, Alternativen anzubieten.

Dass die „Occupy“-Bewegung das bisher nicht geschafft hat, ist ganz sicher verschiedenen Umständen geschuldet. Zum Ersten ist die ganze Community zwar massiv und schnell gewachsen, befindet sich aber noch in ihrer Findungsphase. Das ist ihr nicht vorzuwerfen – ehrlicherweise haben die Aktivisten in dieser kurzen Zeit mehr geschafft, als es jede institutionalisierte Vereinigung hinbekommen hätte. Und – und auch das ist neu – sie haben etwas mit reiner Netzwerklogik geschafft, was nur eine Frage der Zeit war, deswegen aber nicht weniger bemerkenswert ist: den Sprung über Grenzen.

Genau hier ist aber auch das größte Problem der ganzen Bewegung zu finden. Nach allem, was man liest und sieht und hört, sind die Unterschiede in den Zielsetzungen (wenn es denn überhaupt schon konkrete gibt) und in der Motivation, an den Protesten teilzunehmen, in den verschiedenen Ländern jenseits des Protestes „gegen das Finanzsystem“ sehr unterschiedlich.

Während sich die Proteste in Amerika und Deutschland tatsächlich maßgeblich an die Protagonisten des Finanzkapitals richten und deshalb auch genau dort stattfinden, wo diese ihre Firmensitze haben, ist bei den wohl umfangreichsten Protesten in Italien eine deutliche Portion Anti-Berlusconi-Stimmung der Linken vertreten, in Griechenland geht es maßgeblich gegen die Sparpakete und in Portugal gegen die politische Klasse an sich. Die Aktivisten und Sympathisanten in den vielen verschiedenen Ländern der Welt unter einem inhaltlichen Dach mit ausformulierten Forderungen jenseits der Einführung einer Finanztransaktionssteuer zu versammeln, wird schwierig sein.

Aber vielleicht sollte man dieses Ziel auch gleich fallenlassen und sich aus der gemeinsamen Empörung über die Umstände in der Welt darauf stürzen, national unabhängige, aber auf die jeweiligen konkreten Probleme zugeschnittene Lösungsansätze zu präsentieren. Die Ergebnisse davon würden mich interessieren. Dafür müssten die Unterstützer allerdings auch beweisen, dass sie mehr sind als die „Generation Facebook“, die zwar zu einem Klick und auch einmal zu einem Event zu aktivieren sind, bei inhaltlichen Fragestellungen und umfassenderen Projekten aber schnell verschwinden.

Insofern muss die Bewegung ihren Anhängern ins Stammbuch schreiben: „Occupy Yourself“ für das gemeinsame Ziel. Sonst wird „Occupy“ als erste international erfolgreiche Bewegung in die Geschichtsbücher eingehen – ohne allerdings wirklich etwas bewegt zu haben.

Zuerst erschienen bei "The European" am 20. Oktober 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/8537-globale-protestbewegungen

Think different

Für die Politik ist der Übergang zum Digitalen die große Herausforderung, bei der niemand zurückgelassen werden darf. Dabei könnte sie ausgerechnet von Technologieunternehmen lernen. 

Es war wieder einmal absehbar, was passieren würde: Kaum hatte Christian Lindner in seinem Interview mit dem „Spiegel“ festgestellt, dass man, was den Politikstil und die Nutzung digitaler Medien betrifft, durchaus noch von den Piraten lernen könne – und damit auch andeutete, dass man vorhabe, das auch zu tun – kam von vielen Seiten Kritik. Dass es so nicht weitergehen könne, darüber sind sich Parteispitze und -basis zwar ausnahmsweise einmal absolut einig. Was das in der Praxis heißen sollte, darüber wird aber gestritten, wie man es sonst nur von den inzwischen selten gewordenen Kesselflickern kannte. Dabei ist ein Blick auf die Erfolgsmodelle der Grünen oder nun auch der Piraten alles andere als verboten – und müsste eigentlich die allererste und ganz intuitive Reaktion einer Partei sein, die sich wie die FDP den Markt als Regelungsmodell auf die Fahnen geschrieben hat.

Schon früher, explizit aber noch einmal direkt nach der Abgeordnetenhauswahl in Berlin, habe ich darauf hingewiesen, dass die etablierten Parteien sich den sich verändernden Gegebenheiten ebenso anpassen müssen, wie das in einer marktwirtschaftlichen Ordnung auch für etablierte Wirtschaftsunternehmen gilt. Niemand weint heute den Traditionsunternehmen, die die Entwicklung von der Schreibmaschine hin zum Personal Computer verpasst haben, auch nur eine Träne nach. Ein großer Name alleine hat auch Grundig oder Quelle nicht vor der Pleite gerettet; selbst wenn viele Menschen den Niedergang von Firmen, die mit ihren Namen auch für den Wiederaufbau nach dem Krieg standen, vielleicht kurz einmal bedauert hatten, hatten sie doch selbst auch zu diesem beigetragen, weil sie schlicht vom Produkt bzw. der Dienstleistung nicht mehr zu überzeugen waren.

Was für die Wirtschaft der Übergang von der Schreibmaschine zum Computer war, war für die politische Landschaft das Aufkommen der Öko-Bewegung, aus der dann die Grünen entstanden. Und was im Konsumbereich der durch das iPhone angestoßene Umstieg vom Mobiltelefon als Kommunikationsmedium hin zum Smartphone als Informationsmedium mit Flatrate war, das ist nun für die Politik die Denksportaufgabe, wie man es schaffen kann, auch politische Prozesse ins digitale Zeitalter zu überführen – ohne gleichzeitig die „analogen“ Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe abzuschneiden.

Genau bei diesem letzten Punkt lassen die Piraten als aggressives „politisches Start-up“ durchaus Platz auch für die etablierten Kräfte. Denn natürlich ist eine Bewegung wie die der Piraten zu einem so frühen Zeitpunkt ihrer Existenz noch nicht auf dem Weg zur Volkspartei – wenn es diese in Zukunft überhaupt noch geben wird –, sondern in erster Linie ein Angebot an eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe, deren Lebensrealität in den klassischen politischen Prozessen nun einmal gar nicht mehr abgebildet wird. Auch hier lässt sich durchaus wieder der Vergleich mit Apple bemühen: So sehr die Firma des gerade verstorbenen Steve Jobs den Markt vor sich herzutreiben wusste, ist es doch immer noch so, dass der Marktanteil eines schwächelnden Riesen wie Nokia deutlich höher ist. Darüber hinaus haben sich andere Player etabliert – sowohl auf dem Markt der Mobiltelefone, wie auch auf dem der Betriebssysteme – die zwar auch die von Apple initiierten Trends aufgreifen, deren Produkte aber nicht einfach nur kopieren, sondern vielmehr versuchen, sich an der einen oder anderen Stelle ganz bewusst abzuheben, um diejenigen anzusprechen, die zwar auch gerne ein schickes Smartphone oder Tablet haben wollen, für die aber Apple, aus welchen Gründen auch immer, nicht die optimale Option ist.

Genau so sollten auch die etablierten Kräfte in der Parteienlandschaft mit den Piraten umgehen: Impulse aufgreifen ohne platt zu kopieren und versuchen, die Ideen vielleicht sogar ein Stück weiter zu entwickeln, indem man beispielsweise die oben aufgeworfene Frage beantwortet, wie man in einer digitalisierten Gesellschaft auch weiterhin Teilhabe für alle sicherstellt. Denn hier unterscheidet sich die Politik dann doch mit ihrer Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen, die unrentable Kundengruppen auch ganz einfach „abschneiden“ können. Man würde sich als Wähler auch wünschen, dass Schlammschlachten, wie derzeit zwischen Apple und seinen Konkurrenten um Patente, ausblieben – und der Wettbewerb vielmehr einzig und alleine über die verschiedenen politischen Angebote liefe. Auf dem Weg in diese Richtung ist der Vorstoß von Christian Lindner ein Meilenstein, der endlich auch die Automatismen durchbricht, die man im Umgang mit den Grünen (auf beiden Seiten) lange gepflegt hat. Er sollte für seinen Mut nicht nur Zuspruch bekommen – sondern in den anderen „alten“ Parteien auch Nachahmer finden, die sich dann Gedanken darüber machen, wie denn der Übergang in eine digitale Welt aus christdemokratischer, sozialdemokratischer oder grüner Perspektive gestaltet werden könnte. Wenn das passiert, dann haben wir als Wähler vielleicht in Zukunft auch wieder eher das Gefühl, dass die Auslagen der Parteien mit schmackhaften, frischen Produkten gefüllt sind, die zum Zugreifen einladen – und nicht nur mit abgelaufenen Waren aus dem letzten Jahrtausend.

Zuerst erschienen bei "The European" am 13. Oktober 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/8422-die-piraten-apple-und-die-fdp

Geschichtsvergessenheit

Kollektiver Rechtsbruch, EUdSSR, Ermächtigungsgesetz. Die Gegner des Euro-Rettungspakets sparen nicht an starken Worten. Dabei würde ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher deutlich zeigen, welchen Unsinn sie verzapfen. 

Kaum war das Ergebnis der Bundestagsabstimmung zur Erweiterung des EFSF bekannt, wurde es turbulent. In den entsprechenden Online-Foren sammelten sich innerhalb von Minuten Gleichgesinnte, die sich gegenseitig in diktatorischen Vergleichen zu überbieten versuchten, dass man sich schon fragen muss, ob 70 Jahre nach dem Nationalsozialismus und 20 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ selbst in weiten Kreisen der sogenannten Bürgerlichen das Gefühl für den Terror, den Deutschland und Europa im Rahmen von kommunistischen und faschistischen Unterdrückungsregimen erleiden mussten, komplett verloren gegangen ist.

Zweifelsohne handelt es sich bei den Abstimmungen über die europäischen Rettungsschirme und Stabilitätsmechanismen um Entscheidungen, die weit über den Wirkungsgrad von Bundesgesetzen zur Spurweite von Autobahnen hinausgehen. Umfassende Diskussionen auf Basis transparenter Verfahren und Zahlenwerke, harte Auseinandersetzungen und eine enge Einbindung der Parlamente sind vor diesem Hintergrund absolut angebracht – das hat nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht vor Wochen festgestellt.

Dass die Nerven blank liegen und die Entscheidungsmechanismen unbefriedigend sind, weil sich gerade in diesen Tagen einmal mehr herausstellt, dass die Gewaltenteilung und -verteilung in einer europäischen (Währungs–)Union den Anforderungen einer sich immer schneller drehenden Welt nicht mehr gewachsen sind, ist tragisch und muss so schnell wie möglich geändert werden. Und auch darüber darf beherzt gestritten werden – der Kampf um die besten Lösungen macht eine Demokratie aus und stark.

Womit ich allerdings äußerste Probleme habe, das ist die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird. Der Begriff „EUdSSR“ ist in gewissen Kreisen ebenso gebräuchlich, wenn es um die EU geht, wie es auch die Bezeichnungen „Blockparteien“ und „Volkskammer“ für den Bundestag bzw. die in diesem vertretenen Parteien sind. Spätestens mit der immer wieder auftauchenden Bezeichnung der EFSF-Entscheidung als „Ermächtigungsgesetz“ wird deutlich: Die Debatte wird in Teilen von Menschen dominiert, die das letzte Gefühl dafür, wie unterschiedlich das Wesen einer Diktatur und das unserer derzeitigen Demokratie ist, verloren haben. Eine derartige Agitation ist eine Verhöhnung von Millionen von Diktaturopfern in den letzten 100 Jahren, die dieser Kontinent zu beklagen hatte und mit blinder, ungelenkter Wut nicht zu entschuldigen.

Ich bin nachweislich sicher einer der Letzten, der den derzeitigen demokratischen Prozessen unkritisch gegenübersteht. Nichtsdestotrotz halte ich eine Pauschalverurteilung derjenigen, die sich im Bundestag für eine Zustimmung zu der Erweiterung des Rettungsschirms entschieden haben, für falsch. Nur weil man selbst auf der anderen Seite steht, sollte man nicht pauschal davon ausgehen, dass diejenigen, die mit „Ja“ gestimmt haben, nur dumme Abnicker wären, die sich keinerlei Gedanken gemacht haben. Ganz sicher haben auch diese Abgeordnete in großen Teilen hart mit sich gerungen und die unterschiedlichen Szenarien gegeneinander abgewogen. Auf beiden Seiten standen dabei Menschen, die das Thema mehr oder weniger durchdrungen haben – und sicher stand nirgends jemand, der die einzig wahre Lösung auf seiner Seite gehabt hätte. Ich habe es schon an anderer Stelle gesagt: Wer glaubt, es gäbe bei diesem Thema einfache Antworten, geht in eine Falle.

Eine Demokratie ist erst dann stabil zu nennen, wenn die Menschen sich an ihre Grundregeln auch dann halten, wenn es einmal schwierig wird. Bei Sonnenschein fällt das Bekenntnis leicht, das gilt auch für den europäischen Gedanken. Dabei muss diese Regel natürlich für alle Seiten gleichermaßen gelten, weshalb auch die Ausfälle von Kanzleramtsminister Pofalla gegen Wolfgang Bosbach in Art und Stoßrichtung nicht zu entschuldigen sind und dringend zur Ablösung des ohnehin wenig erfolgreichen Unions-Karrieristen führen müssen. Dass sich die Attacken gerade gegen Bosbach, die selbst ernannte Jeanne d’Arc des freien Mandats, richteten, ist nur insofern amüsant, weil genau dieser noch vor einem Jahr von dieser Institution so gar nichts hielt und stramm „Korpsgeist“ einforderte. Ansonsten ist das Verhalten schlicht inakzeptabel.

Genauso stark, wenn nicht noch stärker, beschädigen allerdings die Vergleiche mit untergegangenen Unrechtsregimen, in denen Menschen geknechtet, gefoltert und getötet wurden, die Demokratie. Wer behauptet, die Regierungschefs hätten sich zum „kollektiven Rechtsbruch“ verabredet, wer die Entscheidungen des Verfassungsgerichts verhöhnt und wer die Abgeordneten, die nicht seiner Meinung sind, als Idioten darstellt, stellt die Systemfrage, ohne dass allerdings bisher Antworten darauf zu vernehmen gewesen wären, wie es denn alternativ weitergehen soll. Solcherlei Positionen sind nicht konstruktiv, sondern destruktiv und nicht respektabel, sondern geschichtsvergessen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung wird so fast unmöglich.

Zuerst erschienen bei "The European" am 6. Oktober 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/8318-efsf-populismus

Fragen statt Antworten

Wir reden, wir diskutieren, wir kritisieren - und alles läuft munter weiter wie bisher. Vielleicht müssen wir gar nicht um Antworten streiten, sondern zuerst die richtigen Fragen stellen.

Seit einigen Monaten habe ich nun die Ehre, an dieser Stelle das Zeitgeschehen kommentieren zu dürfen. Dabei habe ich meistens versucht, Antworten auf undurchsichtige Sachverhalte und die daraus resultierenden Fragen zu geben. Nicht alles, was ich geschrieben habe, ist immer auf Gegenliebe gestoßen, schon gar nicht bei allen. Insofern glaube ich, dass ich als Kolumnist von „The European“ alles richtig gemacht habe, denn was ist schon eine Debattenplattform ohne Debatten?

Auch diese Woche böten sich wieder genügend Themen an, über die es eine Menge zu schreiben gäbe, gerade auch unter der Überschrift „Machtfragen“: Im Rahmen der Diskussion um die Rettungsschirme wird sich nicht nur zeigen, ob die Macht der schwarz-gelben Koalition noch stabil ist, oder ob sie doch auf Sandstein gebaut erscheint, sondern auch – zumindest perspektivisch – wer denn eigentlich in Europa insgesamt und im Euro-Raum im besonderen überhaupt noch die Macht hat – die Bürger, die Parlamente, die Regierungen, oder doch die Finanzmärkte? Die Piraten machen es sich im Abgeordnetenhaus in Berlin bequem und rütteln laut und deutlich am innerdeutschen Machtgefüge und Facebook hat sowieso nichts anderes vor, als die Weltherrschaft zu übernehmen und als fleißiger Nutzer des Netzwerks muss ich mich nun – wie knapp eine Milliarde anderer Menschen auf diesem Planeten auch – mit der Frage auseinandersetzen, ob ich denn glaube, dass ich es mit der guten oder mit der bösen Seite der Macht zu tun habe.

Zu all diesen Themen habe ich eine Meinung. Zu den meisten Themen habe ich auch schon Stellung genommen. Heute allerdings will ich genau dies nicht tun. Vielmehr will ich diese Kolumne nutzen, um die zehn Fragen einmal zu formulieren, die mir im politischen Kontext schon seit Ewigkeiten auf der Seele brennen und auf die ich bisher, trotz intensivem Nachdenkens und reichlicher Diskussion darüber, keine Antworten gefunden habe. Weitere Fragen sind willkommen, ich würde mich aber besonders über Anmerkungen freuen, die weiterhelfen – vielleicht ist ja der eine oder andere geneigte Leser schon ein Stück weiter als ich…

Warum geht es – unabhängig davon, wer gerade regiert, ob gerade Boom oder Rezession herrscht, ob die Staatseinnahmen gerade besonders hoch oder besonders niedrig sind und egal von welcher westlichen Demokratie wir sprechen – nicht ohne Verschuldung?

Wie können Politiker (insbesondere Finanzminister) immer wieder ohne rot zu werden von „Haushaltskonsolidierung“ und „Sparbemühungen“ sprechen, wenn sie gleichzeitig Milliarden neuer Schulden aufnehmen?

In was legen eigentlich die führenden Politiker dieses Landes derzeit ihr Erspartes an?

Warum äußern sich Politiker aller Farben immer wieder auf abstrakter Ebene positiv zu mehr Bürgerbeteiligung, direktdemokratischen Elementen und Co. und blockieren diese dann, wenn es konkret wird?

Wie kann es sein, dass die etablierten Parteien mit Hilfe der Medien immer wieder diejenigen zu Hoffnungsträgern erklären, die ihre Zukunft schon hinter sich haben? Ich denke da gerade an die rot-grüne Führungsriege, die 2005 abgewählt wurde, 2013 allerdings wieder fast geschlossen (von Schröder und Fischer mal abgesehen) am Kabinettstisch Platz nehmen wollen…

Vergessen wir mal das Thema Steuersenkungen – da darf man gerne unterschiedlicher Meinung sein. Aber wie kann es ernsthaft Menschen geben, die sich gegen eine grundsätzliche Vereinfachung des Steuersystems aussprechen (oder zumindest so handeln)? Sozialer geht es doch gar nicht…

Warum äußern sich die gemäßigten Stimmen so viel seltener als die radikalen – im Netz, aber auch offline?

Warum lassen sich Basismitglieder von Parteien bei intensiven Diskussionen am Ende doch fast immer „auf Linie bringen“ – gegen ihre Überzeugung und obwohl sie persönlich doch gar nichts zu verlieren haben?

Überhaupt: wie kann es sein, dass sich immer wieder Menschen finden, die den Kurs ihrer Parteispitze blind vertreten? Loyalität kann ja durchaus ein Wert sein, aber Kadavergehorsam hilft doch niemandem!

Und last but not least: Versteht eigentlich irgendjemand noch Angela Merkel? Und wo ist Christian Wulff?

Zuerst erschienen bei "The European" am 29. September 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/8181-wie-funktioniert-politik

Kapitalistische Freibeuter

Wähler der Piratenpartei sind keine realitätsfernen Spinner – genauso wie die frühen Grünen nicht nur Öko-Fundis waren. Alle anderen Parteien müssen sich darauf einstellen.

Um ein Thema richtig diskutieren zu können, müssen die Fragen auch richtig gestellt werden. In der aufgeregten Debatte um die Piraten erscheint mir das bisher nicht geschehen. Wer verstehen will, was uns die 9 Prozent – oder besser: 130.000 Stimmen – für die Piraten mitten in der bundesdeutschen Hauptstadt sagen wollen, sollte weniger auf die Mitglieder und Neuabgeordneten der Piraten selbst schauen und sich fragen, wer diese eigentlich sind, wie es derzeit quer durch die Parteien- und Presselandschaft geschieht. Vielmehr gilt es einen Blick auf diejenigen, die diese gewählt haben und auf den Kontext, in dem sie dies getan haben, zu werfen.

Deutschland ergötzt sich derzeit an der „Freak-Show“ Piratenpartei, an den „Nerds“, die für diese ins Abgeordnetenhaus einziehen und an dem als so weltfremd empfundenen Wahlprogramm, das Malte Lehming im „Tagesspiegel“ sogar zu der Erkenntnis kommen lässt, dass das Ergebnis der Piraten ein Zeugnis der Unreife der Berliner Wahlberechtigten sei. In der Analyse liegt er mit Blick auf das Wahlprogramm sicher nicht falsch – die Forderungen wirken doch in Teilen arg unrealistisch, vor allem vor dem Hintergrund der Berliner Haushaltsnotlage. Wer in diesen Zeiten in erster Linie „mehr“ fordert und damit fast immer „Geld“ meint, ist nicht ernst zu nehmen. Man sollte es sich allerdings nicht zu einfach machen mit der Analyse, vor allem auch in Bezug auf die Positionierung der Partei (links) und die Herkunft ihrer Stimmen (auch links).

Ich habe in den vergangenen Tagen ein wenig in Berlin herumtelefoniert und möchte diese Aussage anhand von zwei bekennenden Piratenwählern vom Sonntag – nennen wir sie Ronald und Hamid – etwas fundieren. Beide sind zwischen 25 und 35, männlich, mit wirtschaftswissenschaftlichem Studienabschluss, erworben in verschiedenen europäischen Ländern. Ronald hat nach einiger Zeit in einer internationalen Unternehmensberatung inzwischen seine eigene e-Commerce-Firma gegründet und verkauft mit wachsendem Erfolg ein hochwertiges und fair angebautes Produkt, während Hamid als Key Account Manager in einem schnell wachsenden Berliner Start-up angeheuert hat. Beide sind konsumfreudig – wenn auch mit Blick für ökologische und soziale Belange – technologieaffin, international geprägt, leistungsbereit, gewinnorientiert und flexibel – sprich: liberal – und haben 2009 bei der Bundestagswahl tatsächlich die FDP gewählt. Bei der Analyse der Wählerwanderungen von 2006 auf 2011 wiederum, die den Eindruck ergibt, die Piraten hätten maßgeblich im linken Lager Stimmen abgezogen, wurden beide nicht erfasst, weil sie wie viele andere potenzielle und wirkliche Piratenwähler erst in den vergangenen Jahren, in denen Berlin zur Szene-Stadt für Gründer und Freelancer wurde, in die Hauptstadt gezogen sind. Darüber hinaus sollte man auf diese Analyse sowieso nicht allzu viel geben, macht man sich bewusst, dass bei der letzten Berlin-Wahl die „bürgerlichen“ Wähler anhand des schwachen CDU-Spitzenkandidaten Pflüger in weiten Teilen zu Hause geblieben waren und die FDP sich maßgeblich durch konservative Leihstimmen aufplustern konnte (die sie jetzt auch wieder verloren hat).

Im Vergleich zur Bundestagswahl sind die Zugewinne der Piraten – auch angesichts einer sowohl auf Bundesebene wie auch auf Landesebene schwächelnden FDP – in absoluten Zahlen nicht allzu spektakulär, handelt es sich doch gerade einmal um eine Verdopplung innerhalb von zwei Jahren – und das bei einer Partei, die dieses Jahr gerade einmal ihren fünften Geburtstag feiert. Respekt: ja, Überraschung: geht so.

Auch inhaltlich sollte man sich nicht vertun: Ronald und Hamid etwa wissen beide, dass die Forderungen der Piraten kaum umsetzbar und wenig sinnig sind; in Teilen lehnen sie diese sogar explizit ab. Der Grund, warum sie die Partei trotzdem gewählt haben, ist ein ganz anderer und damit gewissermaßen der Markenkern, der bei den Grünen vor 30 Jahren die Ökologie und die Ablehnung von Kernkraft war und ihre Wähler genauso über manche inhaltliche Fehlgriffe großzügig hinwegsehen ließ, wie dies bei den Piraten die Forderungen nach neuen, demokratischeren Prozessen in der Politik und eine Hinwendung zur digitalen Welt, in der sie selbst sich selbstverständlich bewegen, ist.

Ronald, Hamid und all ihre Freunde sind nicht unpolitisch. Sie sind nur nicht politisch im Sinne des klassischen, parteipolitischen Verständnisses von Politik. Sie wählen auch nicht die Partei, die ihnen am meisten verspricht, sondern die, die ihnen am ehesten glaubhaft für transparente Prozesse steht. Für sie steht Prozessorientierung vor Ergebnisorientierung, auch weil sie der Überzeugung sind, dass viele Themen sowieso so komplex sind, dass man sie als einfacher Bürger nur mit einem enormen Aufwand durchschauen kann. Und sie sind in einer Konsumwelt sozialisiert, die ihnen sagt: „Du musst nicht mehr zu uns kommen und nehmen, was gerade da ist, sondern wir kommen zu Dir und geben Dir, was Du willst!“ Genau das erwarten sie auch von den politischen Protagonisten. Links ist das nicht, chaotisch auch nicht, sondern selbstbewusst bürgerlich.
Andere Parteien müssen sich anpassen

Ob die Piraten und insbesondere ihre derzeitigen Abgeordneten ein vorübergehendes Phänomen bleiben werden oder nicht, ist in diesem Kontext komplett irrelevant. Die Themen werden bleiben, weil die Menschen zunehmend auch außerhalb Berlins so sein werden. Und diese Entwicklung wird auch in den anderen Parteien zu Veränderungen führen, wollen diese nicht vom Markt verschwinden, wie dies auch dem einen oder anderen nicht anpassungsfähigen Unternehmen in den vergangenen Jahren ergangen ist. Auch hier zeigt sich die Analogie zu den Grünen der Gründerzeit: Sie haben damals nicht nur eine politische Alternative selbst erschaffen, sondern auch alleine durch ihre Anwesenheit die anderen Parteien dazu gebracht, sich mit den ungeliebten Themen auseinanderzusetzen. Geschichte scheint sich also doch zu wiederholen. Darauf ein Bio-Körnerbrötchen und einen Soja-Latte mit ökologisch angebautem Zucker aus Burkina-Faso.

Zuerst erschienen bei "The European" am 22. September 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/8103-wahlerfolg-der-piraten

Schwarz ist Rot ist Gelb ist Grün

Die deutsche Politik kommt dem Wähler ein wenig vor wie die altbekannte Reise nach Jerusalem: Man umkreist gemeinsam die Stuhlreihe, hat irgendwann an jeder Stelle einmal gesessen und wird trotzdem das Gefühl nicht los, dass nichts an der Situation endgültig ist und immer etwas fehlt – bis am Ende fast alle dumm aus der Wäsche schauen.

Viel wird derzeit über die Existenzkrise der FDP geschrieben, gleichzeitig sind die Grünen nun zum ersten Mal in ihrer Geschichte in allen Landtagen vertreten und stellen in Baden-Württemberg ihren ersten Ministerpräsidenten. Die SPD reüssiert nach vielen Jahren des Niedergangs (wenn auch auf sehr niedrigem Niveau) und die Union kämpft nach Jahren der Dominanz mit sinkenden Umfragewerten und verlorenen Landtagswahlen.

Noch vor drei Jahren hätte man dieselben Sätze schreiben können – nur hätte man die jeweiligen Parteinamen an anderen Stellen platzieren müssen. Die FDP waren die Grünen des vergangenen Jahrzehnts, man surfte gemeinsam mit der Union auf einer fast zehn Jahre dauernden Welle von Wahlerfolgen, während Rot und Grün nach sieben Jahren an der Regierung und der „Agenda 2010“ jahrelang die Wunden leckten. Im Jahrzehnt davor, in den letzten Jahren der Regierung Kohl und noch einmal potenziert in der Zeit der Kohl’schen Spendenaffäre, war es wiederum genau spiegelverkehrt – und es bedarf keiner allzu großen hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusehen, dass sich dieses Spiel auch in Zukunft fortsetzen wird.

Auf den ersten Blick könnte man jetzt meinen, dass dieser sich mit unterschiedlichen Vorzeichen wiederholende Zyklus doch absolut gesund in einer Demokratie sei. Wer wünscht sich ehrlich solcherlei Episoden wie 16 Jahre Helmut Kohl zurück? Das Problem ist allerdings – und auch hier steht die FDP nur beispielhaft für ein grundsätzliches Phänomen, das sich auch in den anderen Parteien beobachten lässt –, dass diejenigen, die vom Wähler in die Opposition geschickt werden, um sich zu erneuern, diese Leistung in den vergangenen Jahren regelmäßig nicht vollbracht haben. Die Liberalen haben es in elf Jahren Oppositionszeit noch nicht einmal geschafft, sich ein neues Grundsatzprogramm zu geben, was sich derzeit mit aller Härte rächt. Auch das Personal hat sich in weiten Teilen aus den Endtagen der Kohl-Zeit bis zur erneuten Regierungsübernahme hinübergerettet – das geht vor dem Hintergrund der Diskussion um die vermeintlich zu unerfahrene Boygroup gerne unter. Doch wie sieht denn die Alternative aus? Dass die Union sich kaum erneuern konnte, seit sie 2005 wieder in die Regierung gekommen ist, überrascht nur wenig. Aber wie steht es um die SPD und die Grünen?

Sollte es 2013 zu einer Neuauflage von Rot-Grün kommen, dann werden zwar Gerhard Schröder und Joschka Fischer ziemlich sicher nicht in Amt und Würden zurückkehren. Ansonsten allerdings droht der Republik ein echtes Déjà-vu. Egal ob nun Steinbrück oder Steinmeier, Scholz oder Gabriel am Schluss Kanzler würden, ein echtes Aufbruchsignal wäre damit wohl kaum verbunden, waren sie doch ausnahmslos schon unter Gerhard Schröder als Minister aktiv – und wurden 2005 von den Wählern in die Opposition geschickt. Ähnliches gilt auch für viele grüne Kandidaten für die hohen Ämter, Trittin und Künast vorneweg. Dass diese sich seit 2005 komplett neu erfunden haben, ist nicht zu erwarten. Enttäuschungen sind damit schon wieder vorprogrammiert.

Das Problem an dieser Konstellation, an dieser Dauerschleife, ist, dass dies alles in eine Zeit fällt, in der die Menschen zutiefst verunsichert sind und sich gleichzeitig die Populisten am linken und rechten Rand neu aufstellen und in Teilen trotz chaotischer Organisationsstrukturen, interner Streitereien und einem Mangel an durchdachten Konzepten bei Wahlen Erfolge feiern. Die etablierten Parteien sollten sich endlich bewusst werden, dass sie nicht nur in der Regierung, sondern auch nach dem Gang in die Opposition Verantwortung tragen – und zwar die, sich ernsthaft zu erneuern, um den Wählern dann wieder neue personelle und inhaltliche Angebote zu machen. Nur so kann die Reise nach Jerusalem irgendwann ein Ende haben und wird nicht zu einer nicht mehr zu stoppenden Abwärtsspirale …

Zuerst erschienen bei "The European" am 8. September 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/7926-deutsche-parteipolitik#