Noch vorige Woche habe ich diejenigen wie Thilo Sarrazin, die sich von Menschen feiern lassen, deren Blick auf die offene Gesellschaft irgendwo zwischen ablehnend und feindlich einzuordnen ist, aufgefordert, sich zu bekennen und eine
klare Trennlinie zwischen sich und dieser Gruppe zu ziehen. In dieser Woche wende ich mich eher an die, die auf der anderen Seite stehen und fordere sie auf: Bekennt euch! Überlasst den Gegnern unseres liberalen Gesellschaftsmodells nicht kampflos das Feld!
Dass diese Gefahr besteht, zeigt ein Blick ins Internet. Die Reaktionen auf meine eigenen Beiträge aus den letzten beiden Wochen sind beispielhaft für das, was im öffentlichen Diskurs, vor allem aber in der digitalen Welt derzeit gründlich schiefläuft. Wer sich nur mit den Kommentaren zu meiner Kolumne auf den verschiedensten Plattformen beschäftigt hat, muss zu dem Schluss kommen: Die große Mehrzahl derjenigen, die die Texte gelesen haben, halten mich für einen Hetzer und Verleumder und meinen Text für irgendwo zwischen schlecht recherchiert und dumm.
Nun ist es durchaus interessant, sich diese Posts einmal genauer anzuschauen. Immer wieder trifft man nämlich auf dieselben Vorwürfe, die die Kommentatoren dann auch gleich fleißig mit den immer gleichen Argumenten widerlegen. So heißt es immer wieder, es sei absurd, Sarrazin mit den Anschlägen in Norwegen in Verbindung zu bringen und dass es mir eben nur darum gehe, einen ehrenwerten Mann zu diskreditieren. Dass ich die Aussage selbst nie getroffen habe, interessiert dabei entweder niemanden, die Posts wurden aus reinem Reflex heraus geschrieben oder der Text wurde schlicht nicht verstanden. Alle drei Möglichkeiten helfen dabei nicht, die Debattenkultur zu befördern. Dasselbe gilt für die immer wiederkehrende Feststellung, ich hätte sicher Sarrazins Buch nicht gelesen und hätte daher eigentlich kein Recht mitzureden. Dass ich mich an keiner Stelle auf das Buch bezogen habe, wird dabei, gewollt oder nicht, ausgeblendet. Als besonders spannend – und kritisch – sehe ich aber die auch an vielen anderen Stellen zu findende Behauptung, dass diejenigen, die aufbegehren gegen den „Kulturmarxismus“, gegen die „Islamisierung Europas“, gegen die „EUdSSR“ genau diejenigen seien, die für die große, „schweigende Mehrheit“ sprächen, die sich nur nicht traue, das Wort zu erheben, weil man von den vermeintlich „linken Medien“ und den dahintersteckenden „Gutmenschen“ dann mit aller Gewalt im Rahmen einer „Hetzjagd“ möglichst „mundtot“ gemacht würde.
Davon abgesehen, dass mir nicht bewusst ist, dass irgendjemand von denen, die sich in Deutschland im Rahmen gewisser demokratischer Regeln gegen den „politischen Mainstream“ stellen, bisher mundtot gemacht worden wäre – im Gegenteil: Sarrazin, Henkel,
Broder und Co sind fast schon omnipräsent in einer Medienlandschaft, die nach Provokation lechzt – glaube ich, dass noch ein anderer, viel wichtigerer Denkfehler bei den meist anonymen Schreiberlingen vorliegt. Denn alle Indikatoren zeigen: Sie sind alles, aber nicht schweigend und nicht die Mehrheit. Ersteren Teil widerlegen sie selbst, denn wer dermaßen herumbrüllt, kann es mit dem Schweigen nicht so ernst meinen, sondern sollte sich vielmehr einmal mit seinem Selbstbild beschäftigen. Zweiteren Teil für alle deutlich sichtbar zu widerlegen – und damit schließt sich der Kreis zur Einleitung dieses Textes – das ist die Aufgabe von uns allen, die wir derzeit aus einer Mischung aus Faulheit und Abscheu heraus nicht annehmen. Denn wer genau hinschaut, wird auch bei meinen Texten der vergangenen Wochen erkennen, dass die Zahl derer, die sich in den Kommentarspalten echauffieren, sich nur im Bruchteilbereich von der Zahl derer bewegt, die die Artikel bei Facebook empfehlen und damit ihre Zustimmung signalisieren. Es ist ein gutes Gefühl zu merken, dass die brüllende Minderheit eben doch nicht die schweigende Mehrheit ist, die sie gerne wäre. Aber es wird Zeit, dass aus Letzterer endlich eine sich bekennende, die Diskussion annehmende und sich den Populisten mit breiter Brust und Hand in Hand entgegenstellende Mehrheit wird. Es gilt, den im Internet verloren gegangenen Boden der öffentlichen Meinungsbildung zurückzugewinnen. Ich würde vorschlagen, wir fangen genau jetzt und an dieser Stelle damit an.
Zuerst erschienen bei "The European" am 4. August 2011: http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/7593-angriff-auf-die-liberale-gesellschaft