Freitag, 15. Juli 2011

Die Geschlossene Gesellschaft

SPD und Union sträuben sich gegen mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. Die Argumente sind äußerst dumm: Ein Nazistaat droht uns ebenso wenig wie das Ende des Parlamentarismus. Die Herren und Damen im Bundestag sollten sich erinnern, dass sie selbst nur aufgrund einer vierjährlichen Volksbefragung ins Hohe Haus eingezogen sind.

Nachdem ich vorige Woche das Hauptaugenmerk auf das Verhalten der kleinen Parteien im Umgang mit dem Ziel von mehr direkter Demokratie auf Bundesebene gelegt habe, geht es in dieser Woche um die beiden großen Fraktionen, nämlich Union und SPD. Die CDU/CSU, die noch 2002 ihre grundsätzliche Abneigung gegen Möglichkeiten direkter Demokratie überwunden zu haben schien, lehnte 2006 die vorliegenden Gesetzesentwürfe von FDP, Grünen und Linkspartei unter anderem mit der Mahnung, „die negativen Erfahrungen aus der Weimarer Zeit nicht zu vergessen“ ab.

Ich persönlich empfinde das als Affront gegenüber der ganzen Gesellschaft, die in nunmehr über sechzig Jahren bewiesen hat, dass sie fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. Eine Stilblüte aus der abschließenden parlamentarischen Debatte muss ich an dieser Stelle noch beschreiben, sagt sie doch unendlich viel über die Weltsicht mancher Abgeordneter aus, die sich seit Jahren gegen jegliche Art von Fortschritt wenden. Der CDU-Abgeordnete Ingo Wellenreuther bezeichnete – nachzulesen im Plenarprotokoll 16/217 – Volksentscheide als „primitive Verfahren“, die außerdem im „Nazireich“ missbraucht wurden, um „diktatorische Entscheidungen im Nachhinein zu legitimieren“. Ob sich der Herr jemals bewusst gemacht hat, dass er letztlich im Rahmen eines ähnlich „primitiven Verfahrens“ sein Abgeordnetenmandat erworben hat?

Außerdem wurde das Ermächtigungsgesetz, das 1933 Adolf Hitlers Macht zementierte, von einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit beschlossen (wenngleich in Teilen nicht ganz freiwillig). Die vollständige Machtergreifung Hitlers kam also nicht durch einen Volksentscheid, sondern auch und besonders durch verfehlte Parteipolitik zustande. Aus den damaligen Fehlern der Parteien heute darauf zu schließen, dass man diese komplett entmachten müsse, wäre abstrus und dumm. Genauso verhält es sich aber auch und im Besonderen mit dem Versuch, das mangelnde Vertrauen in die Bürger mit den Fehlern der Deutschen aus den Endtagen der Weimarer Republik zu begründen. Die Union war also auf ihre alte Verteidigungslinie zurückgefallen, scheinbar unfähig zur Bewegung. Doch wie verhielt sich die SPD?

Anders als man aufgrund der Vorgeschichte (die SPD hatte noch 2002 den identischen Antrag gemeinsam mit den Grünen selbst eingebracht) hätte erwarten können, lehnten die Sozialdemokraten – in trauter Einigkeit mit ihren Koalitionspartnern CDU und CSU – die Anträge der Oppositionsparteien humorlos ab. Die dazugehörige Stellungnahme verwundert umso mehr, denn aus dieser geht diese Entscheidung gar nicht hervor. Ganz im Gegenteil: Dort stehen so kluge Dinge wie etwa, dass das Volk „schließlich nicht dümmer als die Parlamentarier“ sei. Und weiter: Es gebe „Elemente der direkten Demokratie in 16 Landesverfassungen und auch im neuen Vertrag von Lissabon – warum dann nicht auch auf Bundesebene?“

Letztlich führten die SPD-Abgeordneten einzig die Koalitionsräson als Grund dafür an, den von ihrer eigenen Fraktion einige Jahre vorher fast wortgleich eingebrachten Gesetzentwurf abzulehnen. So funktioniert Politik heute. Am Ende stimmt man gerne einmal gegen die eigene Überzeugung. Genau das ist letztlich das beste Argument für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide auch auf Bundesebene: Wir brauchen sie nicht, um die parlamentarische Demokratie zu ersetzen, sondern um sie zu ergänzen – und vor allem, um sie wieder handlungsfähig zu machen.
 
Zuerst erschienen am 26.5.2011 bei "The European" - http://www.theeuropean.de/christoph-giesa/6822-direkte-demokratie-ii

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen