Sonntag, 18. Oktober 2009

Wo ist der Josef?

Am Abend des 28. September 2008 stand das Weltfinanzsystem kurz vor dem Abgrund. Hätte auch die größte deutsche Hypothekenbank Insolvenz anmelden müssen, wäre in einem Dominoeffekt eine Bank nach der anderen nachgefolgt. Die Auswirkungen der Pleite von Lehman Brothers wären nur noch eine Randnotiz der Geschichte gewesen, verglichen mit dem, was an jenem Abend drohte. Die Spitzen der deutschen Banken und der Bankenaufsicht sowie Vertreter der Bundesregierung saßen schon zwei Tage in Frankfurt zusammen, um ein gemeinsames Rettungspaket für das angeschlagene Institut zu schnüren. Streitpunkt war vor allem die Risikoverteilung zwischen Staat und privaten Banken gewesen.

Es waren nur noch 15 Minuten bis zur Eröffnung der Börse in Japan. Gerade einmal eine Viertelstunde, die über Wohl und Wehe des Finanzsystems und damit der gesamten Weltwirtschaft entscheiden sollte. Und der Josef war immer noch nicht da. Die versammelte Runde schaute sich teils nervös, teils resigniert an. Immer nur die Mailbox.

Aus der Telefonanlage knackte es kurz, wie als ob alle daran erinnert werden sollten, dass die Konferenzschaltung nach Berlin ins Kanzleramt immer noch stand. Auch die Kanzlerin schaute an jenem Septemberabend ratlos aus ihrem Fenster auf die nächtliche Hauptstadt. Über Tage hatte man rund um die Uhr und in immer neuen Konstellationen um eine Lösung für die klamme Hypothekenbank gerungen, mit deren Schicksal so viele Unwägbarkeiten verbunden waren. Systemkritisch, nannte man das. Und jetzt, als es darauf ankam, war der Josef verschwunden. Und ohne ihn, den mächtigsten Banker Deutschlands, ging nun mal gar nichts.

Gut, der Josef war verärgert gewesen. Er mochte es nicht, wenn man ihm den schwarzen Peter zuschob. Und noch vielmehr hasste er es, wenn man ihn warten ließ. Und die Kanzlerin hatte ihn lange warten lassen, bis sie den zuständigen Staatssekretär endlich zu den Verhandlungen geschickt hatte. Und auch der schwarze Peter lag auf seinem Tisch, unverkennbar. Stand doch auch sein Institut knapp vor dem Abgrund. Das war natürlich auch der Grund, warum er all diese Demütigungen hatte über sich ergehen lassen müssen. Sein Lebenswerk schien in Gefahr – und der Josef war es nicht gewohnt zu scheitern. Aber auf einen Staatssekretär zu warten? Eine Erniedrigung sondergleichen…

„Vielleicht bin ich zu weit gegangen“, ging es der Kanzlerin wieder und wieder durch den Kopf. Eigentlich war der Josef doch ein ganz netter Kerl. Auch wenn viele ihn für arrogant hielten – der Arme war ja immer wieder falsch verstanden worden – bei den großen Staatsbanketts war er immer ein gern gesehener Tischnachbar. Denn wenn er mit seinem leicht schweizerischen Dialekt schmutzige Witze erzählte, hielten sich regelmäßig Minister, Botschafter und Wirtschaftsführer gleichermaßen die Bäuche. Wenn sie denn nicht gerade die Hände voll mit Hummer und Champagner hatten, natürlich. Die Kanzlerin schreckte hoch. Das waren die guten Zeiten gewesen. Ein kurzes Lächeln konnte sie sich bei dem Gedanken, wie sie Gerhard Schröder mit ihrem Wahlsieg gewissermaßen den Wirtschaftsaufschwung „abgeluchst“ hatte und wie sie von den Sympathiewerten der damaligen Zeit heute noch profitierte nicht verkneifen. Ja, das waren wirklich gute Zeiten gewesen. Doch dann wurde sie wieder von jener essenziellen Frage eingeholt, die sie und die Herrenrunde in Frankfurt gleichermaßen umtrieb: Wo war der Josef?

Der Chef der Bankenaufsicht schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann würde in Tokyo die Börse eröffnen. Vielleicht könnte man die Ad-hoc-Nachricht noch fünf Minuten hinauszögern. 15 Minuten also. Aber dann würde das Unheil seinen Lauf nehmen. Und sicher würden dann auch alle nach der Rolle der Aufsicht zu fragen beginnen. Unangenehm, sehr unangenehm, diese Vorstellung. Der Blick auf die verbliebenen Anwesenden – der Chef der betroffenen Bank hatte sich gerade zum fünften Mal in den letzten 30 Minuten in Richtung Toilette entschuldigt – ließ vermuten, dass diese ähnlichen Gedanken nachhingen. Die Stimmung hatte sich in den letzten Wochen für Banker nicht gerade positiv entwickelt. Vermeintliche Freunde verhielten sich distanzierter als gewohnt, die Einladungen zu exklusiven Partys hatten abgenommen. Aber wenn jetzt der große Crash kommt… nicht auszudenken! Die Ehefrauen würden einem vielleicht die Treue halten im zu erwartenden Fegefeuer der öffentlichen Meinung. Aber würde das auch für die junge Geliebte gelten? Und wo, verdammt, war der Josef abgeblieben?

„Wenn wir keine Lösung finden, bedeutet das den Tod!“ Das waren seine Worte gewesen, bevor er wutentbrannt ob der aus seiner Sicht unzureichenden Angebote von Seiten der Bundesregierung den Raum verlassen hatte. Hatte er das ernster gemeint, als alle gedacht hatten? Hatte er sich etwas angetan? Sicher, Wolkenkratzer gab es in Frankfurt genug. Und er hatte ja den Generalschlüssel für einen der höchsten und schönsten von allen. Aber er wird doch nicht etwa…

Das Telefon klingelte. Alle schauten sich gebannt an. „Das wird er sein, der Josef“, war in den Augen der Anwesenden zu lesen. Doch für einen Moment regte sich niemand. Dann fasste sich einer der Banker ein Herz und nahm ab. Ein Rauschen im Lautsprecher. Dann eine helle Stimme mit ausländischem Einschlag „Sie haben Pizza bestellt? Ich stehe vor der Tür, aber keiner macht im auf!“ Ein Stöhnen erfüllte den Raum. „Ich geh schon“, kam aus der Ecke, wo sich der zu einem Häufchen Elend zusammengesunkene Vorstandsvorsitzende der Not leidenden Hypothekenbank inzwischen wieder niedergelassen hatte. „Aber hat jemand von Euch Geld? Also so echtes? Ich zahl ja inzwischen alles mit Karte und notfalls hat mein Chauffeur…“ Er brach ab und errötete. Die Banker schüttelten alle mit betretenen Mienen den Kopf. Ob sie vielleicht tatsächlich etwas die Bodenhaftung verloren hatten? Am Ende konnte immerhin der Staatssekretär aushelfen und die freiwillige Abordnung – ein weiterer Bankenvertreter hatte sich nach der peinlichen Situation solidarisch erklärt – machte sich auf den Weg aus dem 32. Stock in Richtung Erdgeschoss.

Die Zeit wurde langsam knapp. Noch sieben Minuten. Das Angebot der Bundesregierung lag auf dem Tisch, ironischerweise genau neben der in den letzten Stunden parallel vorbereiteten Ad-hoc-Mitteilung zur Zahlungsunfähigkeit der angeschlagenen Bank. Alle hatten dem Ergebnis zugestimmt. Das Geldinstitut, das Finanzsystem, die Weltwirtschaft wären zumindest für den Moment gerettet. Aber ohne den Josef war der Kompromiss nicht das Papier wert, auf dem er stand.

Die Börse würde in einigen Minuten eröffnen. Noch bevor in Europa die ersten Menschen aufstehen würden, um ihrer Arbeit nachzugehen, wären viele von ihnen, ohne es zu wissen, bereits mittel- und obdachlos. Viele würden in den Tagen, Wochen und Monaten darauf ihre Arbeit verlieren und in Zukunft dem Staat auf der Tasche liegen, der damit de facto auch Pleite wäre. Das Vertrauen ins Finanzsystem wäre so tief erschüttert, dass es Straßenschlachten vor den Banken geben würde, wo die Menschen hineilen würden, um ihr Erspartes zu retten und den Schaden wenigstens einigermaßen in Grenzen zu halten. Chaos. Anarchie. Weltweit. Und das alles würde nicht in ein paar Jahren seinen Anfang nehmen, nicht in ein paar Generationen. Sondern in sieben Minuten.

Alle Anwesenden hingen ihren eigenen Gedanken nach. Zwei spielten nervös an ihren Organizern, als ob es nachts um diese Zeit noch wichtige Entscheidungen zu treffen gäbe. Einer kratzte sich. Schon seit Stunden. Der Vorstandschef der Hypothekenbank machte sich wieder einmal in Richtung Toilette auf. Zwei spielten „Schiffe versenken“. Für die wunderbare Aussicht auf die Frankfurter Skyline in einer sternenklaren Nacht hatte keiner ein Auge. Die Kanzlerin hatte inzwischen aufgelegt. „Wir fangen schon einmal an, Telefonkosten zu sparen. Wir werden bald jeden Cent gebrauchen können“, war ihr bissiger Kommentar gewesen. Die Pizza lag unberührt in der Mitte des Tisches. Etwas Tomatenmark hatte seinen Weg auf den ausgedruckten Kompromissentwurf gefunden. Drei Minuten. Resignation. Stille.

Die Tür öffnete sich. Der Josef. Gut gelaunt. „Grüezi, Buam!“ Ungläubiges Schweigen. „Ich hab Eure Mailboxnachrichten gerade abgehört. Hab das alles mit der Angela schon besprochen. Deckel drauf, ab ins Bett. Und entschuldigt, dass ich nicht erreichbar war. Kennt Ihr diese fantastische thailändische Karaokebar in der Kaiserstraße? Da geht die Post ab. Aber da hat’s leider kein Netz. Ein Funkloch, so groß wie das Loch in der Kasse von unserem werten Herrn Kollegen gewissermaßen! Oh, und Pizza gibt’s auch noch. Na so schlimm war der Abend dann doch nicht. Und ab morgen schrauben wir alle wieder an unseren Umsatzrenditen. Wer verliert zahlt nächstes Jahr den Schampus!“

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