Mittwoch, 14. Oktober 2009

Explosionsgefahr, Seuchenverdacht und andere Gründe, nicht in die Vorlesung zu gehen

Also bitte! Wer ist als Student schon um Gründe verlegen, nicht in die Vorlesung zu gehen. Es gibt tausende davon, von der hübschen Nachbarin über die aus gesundheitlichen Gründen nicht zu unterbrechende Tiefschlafphase bis hin zu anregende(er)n Gesprächen in der Sonne vor der Cafeteria. In Zeiten von zunehmendem Leistungsdruck und Anwe-senheitspflicht geht es doch vielmehr darum, gute Ausreden parat zu haben. Doch die sind bekanntlicherweise rar – und können darüber hinaus nur einmal und in absoluten Notfällen eingesetzt werden. Die beste Taktik ist also, beim allerersten Mal eine abstrus unglaubwürdige Geschichte vortragen zu können – die sich dann aber als wahr heraus-stellt. Danach wird jede noch so konstruierte Ausrede erfolgreich sein, hat man sich doch gewissermaßen ein Grundvertrauen beim Dozenten erarbeitet. Es gibt verschiedene – tatsächlich selbst erlebte – Möglichkeiten für einen entsprechenden ersten Eindruck. Wohl gemerkt mit sehr unterschiedlichen Stärken-Schwächen-Profilen.


Ein Feuerwehreinsatz beispielsweise hat den großen Vorteil, dass er typischerweise am nächsten Tag in der lokalen Tageszeitung erwähnt wird. Die Nebenwirkungen sind gering – wenn man nicht direkt betroffen ist oder gar selbst der Auslöser war. Denn dann könnte es möglicherweise sein, dass man in Zukunft mehr als eine Vorlesung passt. Ein Fernstudium soll jedoch sogar hinter schwedischen Gardinen möglich sein, habe ich mir sagen lassen.

Ich hatte die Ehre während meiner Studentenzeit in zwei Feuerwehreinsätze zu geraten. Der erste war reichlich unspektakulär, es handelte sich um einen Fliegerbombenfund mit Evakuierung des gesamten Straßenzugs. Kein Grund, die Vorlesung zu schwänzen, könnte man nun sagen. Immerhin kommt Nachmittags-Unterschichtenfernsehen nicht als Ablenkung in Frage, ist man doch zwangsläufig weit weg von der eigenen Couch. Mein Problem war allerdings, dass die Bombe genau vor meiner Haustür entschärft wurde – und ich leider die eigentliche Evakuierung aus unerfindlichen Gründen verschlafen hatte. Die Sprengstoffmeister in ihren Weltraumanzügen staunten nicht schlecht, als ich mit Schwung die Haustüre öffnete und vor ihnen stand. Leicht nervös wiesen sie mich an, mich möglichst samtpfötig wieder in Richtung Wohnung zu bewegen und zu warten, bis der Spuk vorüber sei. So war ich Gefangener in meinen eigenen vier Wänden. Wahrlich ein valider Grund, eine Vorlesung zu verpassen.

Wer es noch etwas spektakulärer mag, für den gibt es die Möglichkeit, einen Feuerwehreinsatz aufgrund eines vermeintlichen Gaslecks mitzuerleben. Die Gefahrenlage ist dabei ungleich akuter, was den positiven Nebeneffekt von heftigen Adrenalinschüben mit sich bringt. Auch die Feuerwehrleute wirken etwas angespannter als bei einem Bombenfund. Die Schutzanzüge sind allerdings identisch, ebenso die weiträumige Absperrung. Interes-sant wird die Sache, wenn mehrere Menschen gleichzeitig mit akuten Atembeschwerden das Haus verlassen müssen – und das einen Tag, nachdem die Gasanlage neu installiert worden ist – und die Gasmessgeräte der Feuerwehr trotzdem nicht anschlagen. „Wir mer-ken auch, dass dort etwas ist – aber so lange wir nicht wissen, was es ist, darf niemand das Haus betreten.“ Betreten kann man auch die Stimmung nennen, die eine solche Aus-sage mitten im Winter bei allen Beteiligten ausgelöst hat, war es uns damit doch auch unmöglich, dem Grund für die Evakuierungsaktion mit drei Löschzügen und Vollsperrung von zwei Hauptverkehrszügen selbst auf den Grund zu gehen.

Doch bevor echte Resignation Einzug halten konnte, kam der fröhlich pfeifende Koch des im Souterrain des Hauses liegenden Restaurants mit seinen Einkäufen zurück und half, nach anfänglicher Überraschung über den Auflauf vor seinem Arbeitsplatz, recht schnell bei der Aufklärung. Ihm war beim Kochen eine ganze Tüte Chili-Pulver in eine Pfanne mit heißem Öl gefallen, weshalb das Pulver in kürzester Zeit mit einem lauten Zischen seinen Weg durch die Dunstabzugshaube fand. Der Auslass wiederrum war direkt neben unserer Wohnung, weshalb wir die geballte Wirkung des scharfen Gewürzes zu spüren bekommen haben. Keine Katastrophe, wohl aber Grund genug der einen oder anderen Vorlesung des Tages fernzubleiben.

Wenn man unbedingt eine Geschichte erleben will, in der Menschen in lustigen Schutzanzügen vorkommen, dann gibt es natürlich auch die Möglichkeit, sich Krankheitssymptome zuzulegen, die bei Meldung gegenüber dem Notfalltelefon direkt zum Seuchenverdacht führen. Welche Krankheit auch immer gerade en vogue ist – im beschriebenen Fall war es die Schweinegrippe – die Prozesse die im Fall eines entsprechenden Verdachtsfalles an-laufen und erst einmal nicht mehr zu stoppen sind, sind imposant. Das Gesundheitsamt ist in solchen Fällen vollkommen spaßbefreit und lässt die Sanitäter im Seuchenschutzan-zügen in die Wohnung einrücken. „Schön, dass sie da sind. Genau so habe ich sie erwar-tet!“ Die Wohnung selbst und alle in ihr befindlichen Gegenstände und Personen werden mit sofortiger Wirkung unter Quarantäne gestellt, was in diesem Fall besonders die von weit angereisten Wochenendgäste freute. Danach folgten 18 Stunden in der Quarantäne-station des Universitätsklinikums mit diversen Bluttests und einem weiß gekachelten Zimmer mit einem weißen Bett und nichts weiter. Die Freundin wurde direkt mit festgehal-ten, sie hätte ja auch betroffen sein können. Immerhin war aus beiden Zimmer der Blick auf den Rettungswagen gewährleistet, der gewissermaßen auch in Quarantäne genom-men worden war. Bleich wurde der Chefarzt bei der Antwort auf die Frage wo ich denn seit der Rückkehr aus Mexiko überall gewesen sei und mit wie vielen Leuten ich in Kontakt war: „Ich war in Frankfurt und München, mit dem Zug. Wie viele Menschen werden das gewesen sein? Zwei- bis dreitausend?“ Das scheint im Seuchenumfeld wohl so etwas wie die Beschreibung des Supergaus zu sein. Am Ende stellte sich die ganze Sache dann doch nur als ordentliche Sommergrippe heraus. Ich meine aber eine Veränderung im Verhalten der Nachbarn seit dem massiven Seucheneinsatz in unserem Haus genauso beobachten zu können wie auch eine abnehmende Besuchsfrequenz aus meinem Freundeskreis. Aber wie dem auch sei: als Grund dafür, nicht in die Vorlesung zu gehen, sollte die Geschichte doch akzeptiert werden.

Missverständnisse und falsche Vermutungen – gerne auch von Behördenseite – scheinen also tatsächlich valide Motive für ein Fernbleiben vom Lehrbetrieb sein. Vor diesem Hin-tergrund bietet sich auch an, aufgrund falscher Verdächtigungen von der Polizei vernom-men zu werden. So geschehen an einem Aschermittwoch, als eigentlich Klausuren ans-tanden. Davon abgesehen, dass ich mich damit als jemand oute, der im nicht karnevalsaf-finen Süden Deutschlands studiert hat, war die Geschichte absolut büttenreif. Der Vorwurf lautete, ich habe in der Nacht des Rosenmontags vier Personen auf einer saarländischen Landstraße aus dem Auto heraus Drogen zum Kauf angeboten. Als diese nicht nur kein Interesse zeigten sondern darüber hinaus auch verbal deutlich machten, was sie von derlei Gesindel hielten, soll bei mir die Sicherung durchgebrannt sein. Alle vier trugen massive Verletzungen davon. Dabei rührten diese bei drei von ihnen von einem zur Hilfe ge-nommenen Begrenzungspfahl her, einen sollte ich, so der Bericht, bei einem Fluchtver-such „gegen einen Baum laufen“ gelassen haben. Ganz neue Seiten meiner Persönlich-keit, möchte ich meinen. Nichtsdestotrotz eine harte Ansage, zumal auch Nummernschild-fragmente, Autotyp und Täterbeschreibung auf den ersten Blick passten und ich darüber hinaus tatsächlich am Rosenmontag aufgrund der anstehenden Klausuren früh im Bett war und damit kein glaubhaftes Alibi hatte. Die Vernehmung gestaltete sich dann auch erst entsprechend unangenehm, bis der Polizist vermutlich selbst davon überzeugt war, dass ich nicht der Täter sein konnte. Nach einer gewissen Zeit störte auch die kontinuierlich nebenbei laufende Rammstein-CD nicht mehr allzu sehr und spätestens das „Foto-shooting“ für die Gegenüberstellung war die wahre Freude. Zumindest für einen der beiden Beteiligten.

Mit der Bescheinigung über meinen unfreiwilligen Aufenthalt in deutschen Beamtenstuben in der Hand konnte ich mit breiter Brust dem zuständigen Professor gegenübertreten. Ein Fehlversuch wurde mir entsprechend nicht anerkannt, eine extra für mich angesetzte Wiederholungsklausur gab es aber ebenso wenig. In Zukunft ein fantastischer Grund für einen Einspruch gegen inzwischen zu zahlende Langzeitstudiengebühren, wenn ich es im Nachhinein bedenke.

Hat man gerade keine Straftat oder seuchenähnliche Krankheit zur Hand, sollte man die Patriotismuskarte spielen. Spätestens seit der WM 2006 ist es auch in elitären gesell-schaftlichen Zirkeln nicht mehr verpönt, seine Abendplanung dem FIFA-Rahmenkalender unterzuordnen. Soweit allerdings typischerweise noch kein Grund dafür am nächsten Tag wichtigen Klausuren fernzubleiben. Außer man leidet wirklich mit der eigenen Mannschaft. So geschehen an einem denkwürdigen Tag im Sommer 2004, einem Tag, den Fußball-deutschland niemals vergessen wird. Die deutsche Nationalelf stand bei der Europameis-terschaft in Portugal mit dem Rücken zur Wand. Ein Sieg musste her gegen die B-Elf der schon qualifizierten Tschechen, doch daraus sollte am Ende nichts werden. Während die meisten Deutschen relativ schnell zum Tagesgeschäft übergingen, wollte ich meine Soli-darität auch in der Niederlage beweisen – und trank mich besinnungslos. Dank zweier Infusionen wachte ich am nächsten Tag gut gelaunt und bei bester Gesundheit im Kran-kenhaus auf, was die Schwestern Alkoholismus vermuten ließ und dazu anspornte mir eine ehrenamtliche Seelsorgerin zu schicken. Spätestens nach dem sie mir vor vorbeilau-fenden Besuchern versichert hatte, dass es keine Schande sei, Alkoholiker zu sein, war für mich der Zeitpunkt der Flucht gekommen. Diese scheiterte dann allerdings kläglich an dem Fakt, dass während meiner nächtlichen Eskapaden Schuhe und Strümpfe abhanden gekommen waren und ich kein besonders großes Bedürfnis verspürte nur mit schicken blauen OP-Überziehern an den Füßen an meiner Uni vorbei zu spazieren. Die Entlas-sungspapiere aus dem Krankenhaus mit dem Betreff „Alkoholintoxikation; 3,0 Promille“ sorgten am Lehrstuhl zwar vermutlich für größere Erheiterung. Mein Fehlen wurde aber anstandslos entschuldigt.

Ich will niemandem empfehlen, sich vorsätzlich eines der oben genannten Gründe für ein Fernbleiben von einer Vorlesung empfehlen. Aber funktioniert haben sie alle – und sicher mein Leben auf die eine oder andere Art bereichert.

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